Siebentes Kapitel.

Der Himmel bedeckt sich.

[95] Kaum erglühte ein schwaches Morgenrot, als ein betäubender Lärm den Schlummer der Gäste der »Seamew« unterbrach. Die Maschine des Schiffes ächzte, und auf das Deck hörte man schwere Körper niederfallen. Auch die hartnäckigsten Schläfer wurden davon wach. Schimpfend und wetternd waren die Passagiere, bis auf den letzten Mann, schon vor sieben Uhr auf dem Spardeck erschienen, das heute nicht einmal, wie sonst gewöhnlich, abgespült worden war.[95]

Längs der Bordwand lagen angeseilt Leichterschiffe, die mit schweren Kohlensäcken beladen waren, welche von einem Krane emporgehoben und in die Bunker entleert wurden.

»Das ist ja reizend! sagte Saunders mit sehr lauter Stimme, als Thompson gerade dicht bei ihm vorüberkam. Als ob man diese Kohlen nicht hätte zwei Stunden später einnehmen können!«

Die zutreffende Bemerkung fand ein lebhaftes Echo.

»Das liegt doch auf der Hand! stimmte ihm Hamilton nachdrücklich zu.[96]

– Ja, das liegt klar auf der Hand!« wiederholte der gewöhnlich weit nachgiebigere Pastor Cooley inmitten des Gemurmels der übrigen Passagiere.


»Sie haben es unterlassen ihn zu grüßen...« (S. 93.)
»Sie haben es unterlassen ihn zu grüßen...« (S. 93.)

Thompson sah nichts und hörte nichts. Lächelnd durchschritt er die murrenden Gruppen und als der erste lachte er sogar über die den andern ungelegne Zeit. Alles in allem, versicherte er, gäbe es doch gar nichts Besseres, als hübsch zeitig aufzustehen. Wie hätte einer sich durch diese unzerstörbare Heiterkeit des Mannes nicht entwaffnet fühlen sollen?


Man muß ihm aber nachsagen, daß ihn das nicht zu bekümmern schien. (S. 103.)
Man muß ihm aber nachsagen, daß ihn das nicht zu bekümmern schien. (S. 103.)

Das Programm für den heutigen Tag verkündigte einen Ausflug nach der »Caldeira«, dem »Dampfkessel«, wie die Vulkane der Azoren gewöhnlich genannt werden. Der Aufbruch dahin erfolgte vorschriftsentsprechend um acht Uhr. Auf dem Kai stand ein Haufen von Maultieren und Treibern für die Reisenden bereit.

Trotz der Versprechungen des Hotelwirtes kränkte kein Pferd durch seine Anwesenheit seine entarteten Vettern. Nichts als Maultiere. Fünfundsechzig Maultiere und fünfundsechzig Treiber oder Führer, ein Mann für jedes Tier. Beim Erblicken der zahlreichen Herde wurden von neuem Proteste unter den Passagieren laut. Auf Eseln – so sagten sie – reiten, immer besser! Viele lehnten das anfänglich entschieden ab. Die einen, wie der Pastor, führten dagegen ihre rheumatischen Beschwerden ins Feld, andre, wie Lady Heilbuth, fanden darin eine Verletzung der Schamhaftigkeit, und noch andre, vorzüglich Sir Hamilton, sprachen von einer Verletzung ihrer persönlichen Würde. Saunders gab gar keinen Grund an, war deshalb aber keineswegs der schüchternste in seinem Widerspruche. Thompson mußte lange Zeit verhandeln. Eine Viertelstunde lang vermischten sich das Geschrei von Frauen, die Flüche der Maultiertreiber, vielerlei Fragen, Rufe und unartikulierte Laute zu einer greulichen Disharmonie.

Im Grunde amüsierte sich aber die Mehrzahl dabei recht herzlich. Sieben Tage eingeschlossen gewesen, am achten in Reih' und Glied gestellt, sahen die meisten Touristen dieser unerwarteten Promenade im Sattel mit Vergnügen entgegen. Alle die Beamten, Offiziere, Kaufleute, Rentiers usw., aus denen die menschliche Fracht der »Seamew« bestand, infolge ihres Standes und Alters lauter ernsthafte Leute, wurden für einen Tag wieder jung und bestiegen, jünger oder älter, wohlbeleibt oder hager, lustig die geduldigen, friedlichen Maultiere. Ohne ein Wort zu sprechen, schwang sich Saunders – mit desto finstrerem Gesicht, je mehr die Lustigkeit der andern zunahm – als letzter in den Sattel.

Tigg war der erste gewesen.[99]

Während die Hin- und Herreden noch im Gange waren, hatten Beß und Mary, seine zwei Schutzengel, ihre Zeit nicht vergeudet, sondern nach und nach alle fünfundsechzig Maulesel besichtigt, alle Sättel genau untersucht und sich die drei besten und am bequemsten gesäumten Reittiere gesichert. Wohl oder übel hatte Tigg auf einem dieser Maulesel Platz nehmen müssen, worauf die Misses Blockhead ihn wieder mit ihrer zärtlichen Fürsorge umgaben. Fühlte der Arme sich wohl? Fehlte ihm gar nichts? Ihre weißen Hände hatten seine Steigbügelriemen in der richtigen Länge festgeschnallt, sie hätten ihm auch die Zügel in die Hand gedrückt, wenn das azorische Vierbein ein solches Leitmittel oder etwas dem ähnliches vertragen hätte.

Auf den Azoren tritt der Führer an die Stelle der Zügel. Ausgerüstet mit einem in einen Stachel auslaufenden Stocke, mit dem er seinem Tiere die Richtung gibt, trabt der Treiber neben diesem her. Läuft Meister Hans einmal zu schnell oder führt der Weg einen zu steilen Abhang hinab, so hält der Treiber ihn einfach am Schwanze zurück.

»Nun ja, eine Sache der geographischen Breite! sagte Roger auflachend, bei uns befindet sich die Trense nur nicht an derselben Seite, das ist der ganze Unterschied!«

Als alle zum Aufbruche fertig waren, bemerkte Thompson, daß drei Maulesel ohne Reiter geblieben waren. Der ängstliche Johnson gehörte, seiner frühern Erklärung entsprechend, zu den Abwesenden. Die beiden andern, das konnte natürlich nur das junge Ehepaar sein, das schon seit dem vorigen Abend unsichtbar geworden war.

Halb neun Uhr setzte sich die Kavalkade – Analkade (d. i. Eselschwadron) wäre richtiger – in Bewegung. An der Spitze ritt Thompson, begleitet von seinem Leutnant Morgan, und hinter beiden folgten die andern in Gliedern zu je zwei Mann.

Als die aus zweiundsechzig Berittnen und zweiundsechzig Führern bestehende Truppe durch die Hauptstraße von Horta kam, erregte sie natürlich einen wirklichen Auflauf. Alle, die sich nicht im süßen Morgenschlummer im Bettuche noch verspätet hatten, erschienen vor den Türen oder an den Fen stern. Zu diesen gehörte auch der zeremoniöse Luiz Monteiro. Vornehm nachlässig in einen weiten Mantel gehüllt und in würdevoller Haltung an die Bekleidung seiner Tür gelehnt, sah er die lange Reihe der Touristen vorüberziehen, ohne daß die geringste Bewegung äußerlich verriet, was dabei in seinem Innern vorging. In einem[100] gewissen Augenblick schien sich dieses Muster der gesellschaftlichen Sitte aber zu beleben, Monteiros Blick leuchtete auf: Sir Hamilton kam unweit von ihm vorüber.

Obgleich der Baronet der Unterstützung durch sein Lorgnon beraubt war, hatte er doch das Glück, seinen unbeugsamen Lehrer der Höflichkeit zu erkennen, und den Tod im Herzen markierte er einen an diesen gerichteten Gruß. Den erwiderte der stolze Luiz Monteiro damit, daß er sich bis zur Erde verneigte, und dann verschwand er sofort in seinem Laden. Jetzt friedlich gestimmt, wollte er jedenfalls gleich die versprochene Reparatur ausführen.

Die Gesellschaft erreichte bald die Stelle, wo die Hauptstraße in zwei Zweige ausläuft. Die Spitze der Kolonne schwenkte eben in den zur Rechten ein, als ein Aufschrei ertönte, dem ein Stampfen mit den Füßen und verworrene Ausrufe folgten. Alle hielten auf der Stelle an und Thompson eilte an der Reihe zurück nach dem Schauplatze der Ursache dieser Störung.

Da lagen aus einem der letzten Glieder zwei Körper auf dem unebnen Pflaster. Der eine der eines Maultieres und der andre – fast ebenso umfängliche – der Van Piperbooms – aus Rotterdam.

Dieser wenigstens war unverletzt. Thompson sah, wie er sich gemächlich erhob und mit trauriger Miene sein unglückliches Reittier betrachtete. Der azorische Maulesel, im Grunde ein recht tüchtiges Tier, war am Ende seiner Kräfte. Dieses Ende hatte Van Piperboom herbeigeführt: infolge des Platzens einer Ader oder aus irgendwelchem andern Grunde war sein Maultier gestorben und richtete sich nicht mehr auf.

Die Bekundung dieser Tatsache ging nicht ohne einen lauten Spektakel ab. Zehn Minuten verstrichen unter dem Lachen der Touristen und den Ausrufen der Treiber, ehe der Tod des Maultieres offiziell anerkannt wurde. Nun galt es, hier einen Ersatz zu finden, wo doch jedes andre Maultier von demselben Schicksal bedroht erschien.

»Ach was, zum Teufel, rief Thompson ungeduldig, wir können doch hier nicht bis zum Abend angenagelt stehen bleiben! Wenn ein einziges Maultier nicht genügt, sapperment, so nehme man zwei solche!«

Als der Treiber den von Morgan getreu übersetzten Vorschlag vernahm, schlug er sich, wie wenn ihm eine Eingebung gekommen wäre, vor die Stirne und verschwand eiligst die Straße hinunter. Wenige Minuten darauf sah man ihn wieder erscheinen, jetzt aber mit drei seiner Kollegen, die mit ihm vier Maulesel[101] führten. Ein seltsames Gestell aus zwei in der Mitte durch Gurte in der Weise verbundenen Stangen, daß das Ganze einen bequemen Sitz bildete, hielt je zwei der Tiere hintereinander zusammen. Unter dem Hallo seiner Reisegenossen wurde Piperboom mit großer Anstrengung in den einen von diesen improvisierten Tragstühlen gehißt, und dann konnte die Karawane ihren Weg endlich fortsetzen.

Auf Veranlassung Thompsons fragte jedoch Morgan noch vorher, wozu die andern beiden miteinander verbundenen Maultiere da wären, die doch unbenutzt mitlaufen würden. Der betreffende Treiber maß mit den Augen die Befürchtungen erweckende Masse des dicken Holländers.

»Ein Relais!« erklärte er trocken.

So schnell man auch allen Folgen des Zwischenfalles abgeholfen hatte, war es doch neun Uhr geworden, ehe die Kolonne weiterzog. Thompson empfahl deshalb dem an der Spitze marschierenden Treiber, sich möglichst zu beeilen. Es war wirklich keine Zeit mehr zu verlieren, wenn man noch vor Anbruch der Nacht hin und zurück die achtzehn Kilometer lange Wegstrecke zurücklegen wollte, die die Caldeira von Horta trennte. Der Treiber schüttelte jedoch den Kopf in wenig versprechender Weise, und die Maultiere trotteten um keinen Schritt schneller dahin. Robert Morgan beruhigte den ungeduldigen Thompson so gut er konnte, indem er ihm erklärte, daß man sich stets vergeblich bemühen würde, die gewohnte Gangart eines azorischen Maulesels zu beschleunigen; das wären nun einmal gemächliche Tiere, und man würde durch übermäßiges Antreiben auf den beschwerlichen Wegen, die bald zu passieren wären, nur die Sicherheit ihres Ganges beeinträchtigen.

»Na, augenblicklich ist die Straße aber noch ganz gut,« brummte Thompson.

Die ziemlich schmale Straße bot vor der Hand tatsächlich keine besondern Schwierigkeiten. Zuerst, gleich von Horta aus, verlief sie zwischen schönen Orangenhainen, und jetzt befand. sich die Kolonne in einem breiten Tale mit Feldern, Wiesen und vereinzelten Buchengruppen an beiden Seiten. Die sanfte und regelmäßige Steigung des Weges bot den Hufen der Tiere einen sichern Stützpunkt; je weiter sich die Touristen aber vom Meere entfernten, desto auffallender veränderte sich der Charakter der Landschaft. Auf die Buchen folgten zunächst dicht aneinandergedrängte Pinien, dann hörte nach und nach alle Kultur auf, und der zum schmalen Pfade zusammengeschrumpfte Weg machte einen Haken nach links und stieg in Serpentinen an der Seite des stark verschmälerten Tales empor.[102]

Hier zeigten nun die Maultiere, was sie leisten konnten. Gut unterstützt von ihren Führern, die sie mit Zurufen und dem Stachelstocke antrieben, trotteten die braven Tiere anderthalb Stunden lang bergauf, ohne auf dem steilen, kieselbedeckten, holprigen Wege auch nur einen einzigen Fehltritt zu tun.

Bei diesem Aufstieg kam Van Piperboom wiederholt in eine recht verfängliche Lage. Wenn der Weg eine scharfe Biegung machte, schwebte seine Tragbahre mehr als einmal außerhalb des gebahnten Pfades. Man muß ihm aber nachsagen, daß ihn das nicht zu bekümmern schien, und wenn ihn doch vielleicht eine geheime Furcht beschlich, so tat diese wenigstens dem Brande seiner Pfeife keinen Augenblick Eintrag.

Über den beschwerlichen Pfad hin auf der Höhe angelangt, sahen sich die Touristen vor einem zweiten, viel breiteren Tale, das mehr eine Art eines von Hügeln umrahmten Plateaus bildete. Hier wechselte Piperboom seinen Fauteuil, um den acht Beinen seiner Träger einmal die wohlverdiente Ruhe zu gewähren.

Der erste Blick, den die Touristen hier umherwarfen, hätte sie fast zu dem Glauben verleiten können, in ein ganz andres Land versetzt zu sein. An die Stelle der Dürftigkeit trat hier der Überfluß, überall sah man die Zeichen natürlichen Reichtums und menschlicher Sorglosigkeit. Auf allen Seiten lag fruchtbares Land, das die gleichgültigen Einwohner von Unkraut überwuchern ließen; nur da und dort sah man kleine Felder mit Lupinen, Maniok (eßbarer Kassawa) oder mit Yamswurzeln, doch gleich umgeben von vernachlässigtem Lande. Auf die Flächen mit unnützen Grasarten folgten andre mit Gebüschen, die aus Myrten, Wacholdersträuchen, Buchsbaum und verkrüppelten Zedern bestanden, durch welche oder um die herum der Weg führte. In weiten Abständen sah man einzelne Häuschen, eigentlich mehr halbverfallene Hütten. Erst halb zwölf Uhr traf die Gesellschaft auf ein vereinsamtes Dorf, durch dessen Scharen von Schweinen und Hunden sie sich nur mühsam hindurchdrängen konnte. Die wenigen, hier sichtbar werdenden Einwohner – meist waren es Frauen – gingen ernst und schweigsam vorüber, alle eingehüllt in die Falten eines weiten Mantels und das Gesicht halb verdeckt von dem herabfallenden Teile einer ungeheuern Kapuze. Alles sprach von dem auf diesen Inseln herrschenden Elend, wo das Leben sich infolge des Mangels an Straßen auf dem Küstensaume konzentriert hat.

Es hatte eben ein Uhr geschlagen, als der Trupp in 1021 Metern Höhe den äußersten Rand der Caldeira erreichte. Erschöpft und völlig ausgehungert,[103] ergingen sich die Reisenden in Klagen und Vorwürfen aller Art. Hamilton und Saunders waren nicht mehr die einzigen, die sich über die Ungeniertheit beschwerten, womit das Programm verachtet und vernachlässigt wurde. Da die besten Magen gewöhnlich die besten Charaktere erzeugen, war es nicht zu verwundern, daß gerade die sonst friedlichsten Leute jetzt am heftigsten protestierten.

Plötzlich waren aber auch die berechtigsten Klagen vergessen...

Die Reisenden standen nun am höchsten Punkte der Caldeira. So »englisch zugeknöpft«, d. h. so blasiert sie auch waren, hier konnten sie von dem herrlichen, vor ihren Augen ausgebreiteten Bilde nicht unberührt bleiben.

Unter dem endlosen Azurblau des Himmels und inmitten des in der siegreichen Sonne erglühenden Meeres lag die ganze Insel zu ihren Füßen ausgebreitet. Sie war nach allen Seiten klar zu übersehen mit ihren scharfen Linien, ihren Spitzbergen zweiten Ranges, mit ihren Vorbergen, kleineren Tälern und Wasseradern und mit den von schneeigem Schaum umbrandeten Rissen. Im Nordosten hob sich in weiter Ferne der Gipfel von Graciosa vom Himmel ab. Näher und mehr im Osten schien sich die lange Insel San Jorge auf den Wogen des Ozeans zu wiegen, und jenseits ihrer Berge und Ebenen deutete ein unbestimmter Dunstvorhang die Stelle an, wo Terceira an der Grenze zwischen Himmel und Wasser lag. Im Norden, Westen und Süden sah man nichts als das unendliche Meer, erst wenn man den Blick nach den genannten Himmelsgegenden und in derselben Reihenfolge hinwandern ließ, traf man plötzlich, wieder im Osten, auf die überwältigende Masse von Pico.

Durch einen seltnen Zufall begünstigt, konnten die Reisenden den völlig dunstfreien Pic in all seiner leuchtenden Schönheit bewundern. Einem Könige gleich erhob er sich tausend Meter höher über die ihn umgebenden bescheideneren Berge, stolz und beherrschend in dem glänzenden Frieden dieses schönen Tages.

Fünf Minuten wurden der Betrachtung des herrlichen Bildes gewidmet, dann zog die Gesellschaft weiter. Kaum zweihundert Meter von hier entrollte sich vor ihr eine Aussicht andrer Art: vor den Touristen, die in langer Linie an seinem, einen sechs Kilometer langen Bogen bildenden Rande standen, öffnete sich der alte Krater des Vulkans. An dieser Stelle stürzte der Boden schroff und ohne Unterbrechung ebenso tief ab, wie die Höhe betrug, die man mit so großer Beschwerde erklommen hatte. An den Wänden des sechshundert Meter tiefen Abgrundes sprangen nur launenhaft geformte Spitzen und Grate vor und bildeten zwischen sich schmale, kleine, von undurchdringlicher Vegetation angefüllte Täler.[104]

Ganz unten glänzte in den Strahlen der Sonne ein kleiner See, den ein Engländer unlängst aus... Langerweile mit gold- und silberschuppigen Karpfen bevölkert hatte. Um diesen See weideten Schafe, die wie weiße Flecke auf dem Hellgrün des Grases und neben dem Dunkelgrün dichteren Buschwerkes aussahen.

Das Programm hatte zwar einen Abstieg in den Krater vorgesehen, bei der schon vorgeschrittenen Tagesstunde wagte Thompson jedoch eine Abweichung davon vorzuschlagen. Kaum könnte man's glauben: einzelne erhoben doch dagegen Einspruch; die andern, und zwar die große Mehrzahl, stimmte jedoch für eine unmittelbare Rückkehr. Wunderbarerweise war gerade Sir Hamilton der entschiedenste Vertreter der Verächter des geschriebenen Gesetzes. Tatsächlich befand er sich auch in wirklich bedauernswerter Lage: vergeblich hatte er in der von Morgans Finger bezeichneten Richtung hinausgeblickt, vergebens sich getreulich nach Pico, San Jorge, Graciosa und Terceira hin gewendet und nach dem in der Tiefe des Berges gelegnen See hinuntergestarrt... seines unentbehrlichen Lorgnons beraubt, hatte er nichts von all diesen Naturwundern gesehen, und übrigens konnte die Befriedigung darüber ebensowenig bei den andern wie bei ihm die Leiden des knurrenden Magens ausgleichen.

Die Majorität siegte also, wie das ja gewöhnlich der Fall ist, und die Gesellschaft schlug nun rückwärts den vorher zurückgelegten Weg ein. Für diesen brauchte sie nur eine kürzere Zeit. Ein viertel drei Uhr kamen die Touristen in das schon einmal passierte Dörfchen. Hier sollte, nach der Bestimmung Thompsons, gefrühstückt werden.

Selbst die Unerschrockensten fühlten sich aber beunruhigt, als sie das elende, kaum ein Dutzend Hütten zählende Dorf betraten. Man fragte sich, wie Thompson nur habe hoffen können, hier ein Frühstück für hundertsiebenundzwanzig Kinnladen zu finden, die nach so langem Fasten alle auf Arbeit warteten. Übrigens zeigte es sich bald, daß Thompson diese Frage auch selbst nicht hätte beantworten können und daß er zur Lösung des schwierigen Problems nur auf seinen guten Stern gerechnet hatte.

Die Karawane hatte in der Mitte des hier zur Dorfstraße verbreiterten Pfades Halt gemacht. Maultiere, Treiber und Touristen warteten gespannt der weitern Dinge, umgeben von einem Auflauf von Schweinen und Hunden, und dazwischen von stumpfsinnig erscheinenden Kindern, deren Zahl der legendären Fruchtbarkeit der azorischen Frauen alle Ehre machte.[105]

Nachdem sich Thompson längere Zeit recht ängstlich überallhin umgesehen hatte, kam er endlich zu einem Beschlusse. Er rief nun Morgan zu Hilfe und ging stracks auf die geräumigste Hütte zu, an deren Tür ein Mann von Räuberaussehen lehnte, der das ihm ungewohnte Schauspiel der englischen Karawane betrachtete. Nur mit Mühe konnte Morgan das barbarische Patois dieses Bauern verstehen. Das gelang ihm schließlich doch, und Thompson konnte verkündigen, daß das Frühstück nach einer halben Stunde aufgetragen sein werde.

Daraufhin entstand wieder ein unwilliges Gemurmel. Das hieß doch, alle Grenzen überschreiten. Thompson mußte alle seine Begabung zum Friedenstiften entwickeln. Von dem einen zum andern gehend, überbot er sich in Liebenswürdigkeiten und verschwendete die schmeichelhaftesten Komplimente. Man möge ihm nur für diese halbe Stunde Absolution erteilen; er habe ja angekündigt, daß das Frühstück halb drei Uhr bereit sein werde, und darauf könne man mit Sicherheit rechnen. Das sollte sich auch bestätigen.

Der Bauer hatte sich schnell entfernt. Bald kam er mit zwei männlichen Eingebornen und mit fünf oder sechs Frauen zurück. Alle führten Tiere heran, die die Kosten der Mahlzeit bestreiten sollten, und darunter eine Kuh mit schön geschwungnen Hörnern, die aber nur achtzig Zentimeter hoch, also etwa so hoch wie ein großer Hund war.

»Das ist eine Kuh von Corvo, erklärte Morgan, nur auf dieser Insel wird diese wohlgebaute, doch auffallend kleine Rasse gezüchtet.«

Die kleine Herde und ihre Führer verschwanden in der Hütte. Eine Stunde später konnte Thompson melden, daß das Frühstück bereit sei.

Das war freilich ein merkwürdiges Essen.

Nur wenigen von den Touristen war es gelungen, in dem Häuschen einen Platz zu erobern. Die andern hatten sich, so gut es gerade anging, in der freien Luft niedergelassen, die einen auf einer Türschwelle, die andern auf einem großen Steine. Auf den Knien hielt jeder einen durchschnittenen Flaschenkürbis, der die Stelle des fehlenden Tellers vertreten mußte; an Löffel und Gabel war gleich gar nicht zu denken.

Als Saunders diese Vorbereitungen sah, wurde er ordentlich aufgeheitert. War es denn möglich, daß anständige Leute sich die unglaubliche Rücksichtslosigkeit gefallen ließen, womit dieser Thompson sie behandelte? Das mußte doch Proteste, Zwistigkeiten und heftige Auftritte zur Folge haben. Saunders wurde durch diesen Gedanken in die prächtigste Laune versetzt.[106]

In der Tat schien es so, als ob der Zorn im Herzen der Passagiere schon aufquölle. Sie sprachen sehr wenig. Keinerlei Vorsorge bezüglich der Ausflüge, ein völliger Mangel an Organisation... nein, eine derartige Nachlässigkeit gegenüber seiner Reisegesellschaft nahm man dem General-Unternehmer allmählich übel.

Morgan fühlte, ebenso wie Saunders, recht gut heraus, auf welch harte Probe Thompson durch seinen Mangel an Vorsorge die stellte, die sich ihm vertrauensvoll angeschlossen hatten. Welch ein Essen für diese behäbigen, an Bequemlichkeit gewöhnten Bürger, für die eleganten, reichen Frauen! Im Gegensatz zu Saunders erschien ihm die Situation hier aber gar nicht zum Lachen, er bemühte sich vielmehr, soweit es in seinen Kräften stand, die Fehler seines hierarchischen Chefs zu verbessern und zu vertuschen.

Die Hütten des Dorfes eiligst absuchend, entdeckte er noch einen kleinen, halbwegs brauchbaren Tisch und zwei ziemlich vollständige Schemel. Mit Rogers Hilfe schaffte er diese Beute, die er den Lindsayschen Damen anbot, in den Schatten einer Zeder. Bei der Fortsetzung ihrer Jagd machten die jungen Leute noch andre Funde, wie Servietten, einiges Tischgerät, Messer und – welch ein Luxus! – Gabeln und drei zinnerne Löffel. In wenigen Minuten hatten die beiden Amerikanerinnen eine Tafel von verlockendstem Aussehen vor sich stehen.

Wenn die zwei Franzosen eines Lohnes bedurft hätten, so würden sie sich durch den Blick, womit das Schwesternpaar ihnen dankte, reichlich befriedigt gefühlt haben. Dadurch, daß sie ihnen erspart hatten, mit den Fingern zu essen, hatten sie ihnen mehr als das Leben gerettet. Jeder Lohn wäre hier aber ein wucherisches Verlangen gewesen: die abwechslungsreiche Jagd hatte ihnen schon Vergnügen genug ge macht. In seiner heitern Stimmung gab Robert Morgan auch seine gewohnte Zurückhaltung auf; er lachte und scherzte und ließ sich gar nicht lange nötigen, an der durch seinen erfinderischen Eifer hergezauberten Tafel mit Platz zu nehmen.

Inzwischen begann man das Frühstück – wenn dieser Euphemismus hier am Platze ist – aufzutragen. Die improvisierten Köche hatten sich hierzu zu malerischen Tafelmeistern verwandelt. Sie trugen durch die da und dort verstreuten Gruppen eine mächtige irdene Schüssel, aus der sie die Calebassen (Flaschenkürbisse) mit einer Art unerkennbaren Ragouts füllten, das stark gepfeffert war, um den dickflüssigen Wein des Landes leichter trinkbar zu machen.[107]

Andre bäuerische Diener legten jedem Tischgaste Brotstücke hin, die bei ihrer kolossalen Größe auch dem robustesten Magen einen gelinden Schrecken einjagen mußten.

»Das hiesige Landbrot, erklärte Morgan als Antwort auf einen Ausruf Alicens. Jeder Bauer hier verzehrt davon täglich mindestens zwei Pfund. Eins ihrer Sprichwörter lautet: ›Grobes Brot macht gesund und Wangen rot.‹«

Es blieb freilich zweifelhaft, ob die europäischen Magen eine ebensogroße Kapazität haben würden. Alle Reisenden verzogen auch das Gesicht, wenn sie die Zähne in die aus Maismehl hergestellte, zähe und grobe Masse einsenkten.

Die Geschwister Lindsay und ihre Tischgenossen fanden sich in heitrer Laune mit der ungewöhnlichen Mahlzeit ab. Der dank den nebeneinander ausgebreiteten Servietten ganz weiß bedeckte Tisch verlieh dem Abenteuer fast das Aussehen eines ländlichen Festes, bei dem man dem jugendlichen Übermute die Zügel schießen ließ. Morgan vergaß völlig, daß er hier nur der Dolmetscher der »Seamew« war. Für eine Stunde wurde er wieder ein Mensch wie die andern, und er zeigte sich auch ganz wie er war, d. h. liebenswürdig und von anregendem Frohsinn. Doch während er unbewußterweise die Bürde seiner Stellung einmal abschüttelte, ließ ihn diese leider nicht frei. Eine an sich unbedeutende Sache rief ihn zur Wirklichkeit zurück.

Dem Ragout war ein Salat gefolgt. Jetzt war aber wirklich nicht der Augenblick, sich wählerisch zu zeigen, dann trotz des scharfen Essigs, womit er reichlich angemacht war, veranlaßte der entsetzliche Salat doch alle, die ihn kosteten, laut aufzuschreien. Morgan mußte da, auf Thompsons Veranlassung, den Bauer darüber fragen.

»Das sind Lupinen, Exzellenz, antwortete dieser.

– Mag sein, sagte dazu Morgan, aber lederhart sind Eure Lupinen.

– Lederhart? wiederholte der Bauer.

– Ja, hart und zähe wie Sohlenleder.

– Na... ich weiß nicht, erwiderte der stumpfsinnig aussehende Eingeborne, mir kommen sie nicht hart vor.

– Was? Die finden Sie nicht hart, und derb gesalzen wohl auch nicht?

– Ah, gesalzen, ja, gesalzen sind sie. Das kommt vom Seewasser, Exzellenz; die Lupinen werden zu lange darin gelegen haben.

– Nun gut, sagte Robert. Doch warum haben Sie diese Lupinen erst ins Meer versenkt?[108]

– Um ihnen ihre Bitterkeit zu nehmen, Exzellenz.

– Na, lieber Freund, da bedaure ich, Ihnen sagen zu müssen, daß die Bitterkeit auch jetzt noch zurückgeblieben ist.

– Dann werden sie, meinte der Bauer,... ja, dann werden sie wohl in der See nicht lange genug eingeweicht worden sein.«

Aus dem Bauerntölpel war offenbar nichts Gescheites herauszulocken. Es blieb nichts andres übrig, als mit dem Gebotenen schweigend vorlieb zu nehmen. Die Reisenden fielen also über das Maisbrot her, dessen vorhandne Menge mehr als ein britischer Magen, entgegen der ersten Vermutung, für unzureichend fand.

Morgan machte es wie die andern. Sein Frohsinn aber war verschwunden und er nahm auch nicht wieder an dem heitern Tische Platz. Allein sitzend, verzehrte er seine Mahlzeit und in bescheidner Zurückhaltung, aus der er einen Augenblick herausgetreten zu sein jetzt schon bedauerte.

Ungefähr ein viertel fünf Uhr setzte sich die Karawane wieder in Bewegung. Da die Zeit nun drängte, mußten die Maultiere sich um jeden Preis zu schnellerm Ausschreiten bequemen. Der Abstieg längs des Serpentinenweges gestaltete sich recht lebhaft. Am Schwanze ihrer Tiere anpackend, ließen sich die Treiber den steilen und zuweilen schlüpfrigen Abhang mehr hinunterschleppen. Die Frauen, und selbst die Männer, gaben manchmal einen ängstlichen Ausruf von sich. Nur Piperboom zeigte wie immer noch eine heitre Stirn. Nachdem er, ohne ein Zeichen übeln Bekommens, eine ungeheure Menge Lupinensalat gegessen hatte, ließ er sich gemütsruhig von seinen zwei Trageseln schaukeln. Auf seinem bequemen Sitze verachtete er die Schwierigkeiten des Weges, und friedfertig umhüllte er sich mit der ewigen Rauchwolke, durch die er sich einer fortdauernden Ruhe erfreute.

In der Straße von Horta beeilte sich Hamilton, begleitet von Robert Morgan, sein Lorgnon in Empfang zu nehmen, das ihm jetzt mit den gesuchtesten, von ihm aber nicht erwiderten Höflichkeitsbezeigungen übergeben wurde. Nach Befriedigung seiner Wünsche verfiel er sofort wieder seiner natürlichen Überhebung.

Nachdem die Maulesel bezahlt und heimgeschickt waren, fanden sich die Reisenden, die nur schnell etwas Toilette gemacht hatten, ermüdet und tüchtig hungrig an der Tafel der »Seamew« zusammen, und noch niemals fand die Kunst des Küchenchefs eine so warme Anerkennung wie heute.[109]

Die jungen Eheleute, die wenige Minuten früher zurückgekommen waren, hatten sich ebenfalls an der gemeinschaftlichen Tafel eingefunden. Wo mochten sie aber die zwei letzten Tage verbracht haben? Das wußten sie vielleicht selbst nicht. Offenbar hatten sie nichts gesehen und... sahen auch jetzt nichts als eines den andern.

Saunders hatte nicht dieselbe Ursache zerstreut zu sein, und was er entdeckte, erfüllte den liebenswürdigen Herrn mit großer Befriedigung. Welch ein Unterschied zwischen diesem Diner und dem gestrigen! Gestern plauderte man heiter, war man freudig erregt. Heute zeigten die Tischgäste finstre Gesichter und verzehrten schweigend ihre Mahlzeit. Jedenfalls vergaßen sie das kaum genießbare Frühstück nicht so schnell, wie Thompson es gehofft hatte. Saunders konnte seine glückliche Stimmung nicht bis zum Ende allein für sich bewahren, Thompson mußte auch sein Teil davon abbekommen.

»Steward, rief er mit lautschallender Stimme, ich bitte noch um ein Stück Rumpsteak!«

Dann wendete er sich quer über die Tafel an seinen guten Freund, den Baronet.

»Die Speisen der hiesigen Hotels ersten Ranges, setzte er mit Nachdruck ironisch hinzu, haben doch wenigstens das Gute, daß sie die an Bord erträglich machen!«

Thompson schnellte von seinem Stuhle auf wie von der Tarantel gestochen. Er erwiderte aber nichts. Und wahrlich, was hätte er auch dagegen sagen können? Diesmal hatte jener versteckte Vorwurf die öffentliche Meinung für sich.

Quelle:
Michel Verne: Das Reisebüro Thompson und Comp. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCI–XCII, Wien, Pest, Leipzig 1909, S. 95-110.
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