Sechstes Kapitel.

Ein Unfall zur rechten Zeit!

[347] Am 11. Juni um zehn Uhr des Morgens verließ die »Seamew« den Hafen von Orotava. Nach dem Programm hätte das bereits am 7. früh sechs Uhr geschehen sollen, da aber schon eine Verspätung um vier Tage vorlag, glaubte Thompson nichts darin zu finden, wenn er diese um vier Stunden verlängerte. Das hatte ja nicht viel zu bedeuten, da man auf der Heimreise begriffen war und die Passagiere damit Gelegenheit fanden, wieder einmal gründlich auszuruhen.

Man sieht, Thompson fing wieder an, den Liebenswürdigen zu spielen. Jetzt, wo ihn jede Umdrehung der Schraube dem Kai der Themse näher brachte, hielt er es für angezeigt, seine Passagiere, unter denen er ja so manche Feinde hatte, auf alle mögliche Weise milder zu stimmen. Auf einer sechstägigen Fahrt kann ein geschickter Mann vieles wieder gut machen und viele Leute wieder für sich gewinnen. Und wozu hätte ihm ferner auch ein frostiges Benehmen genützt? Einen weitern Halteplatz gab es nicht mehr, und an Bord der »Seamew« war nicht zu befürchten, daß von neuem Verdrießlichkeiten vorkämen.

Die zarte Aufmerksamkeit des General-Unternehmers wurde auch von den Passagieren freudig anerkannt. Alle machten heute Blauen Montag. Nicht ein einziger hatte seine Kabine verlassen, bevor die »Seamew« abfuhr.

Eine zweite zarte Aufmerksamkeit bestand darin, daß der Kapitän Pip auf Thompsons Verlangen eine kleine Rundfahrt begonnen hatte: ehe der Kurs nach England eingeschlagen wurde, sollte zwischen Teneriffa und Gomera hin und dann um die Insel Ferro gefahren werden, was entschieden ein herrlicher Weg war. Dann sollte es auf Palma zu gehen, vor dem man die Nacht über zu ankern gedachte; das war aber ein umwichtiges Detail, während es hauptsächlich darauf ankam, den Lauf des Schiffes nicht zu verlangsamen. Nach diesem flüchtigen Blicke auf die Gruppe der Kanarischen Inseln, würden die Passagiere, wenn sie am folgenden Morgen erwachten, gewiß erfreut sein, auf der hohen See zu schwimmen.[347]

Entsprechend dem abgeänderten Programm glitt die »Seamew« mit vorschriftsmäßiger Geschwindigkeit von zwölf Knoten in der Stunde längs der Westküste Teneriffas hin, als die Glocke zum Frühstück rief.

Der Tischgäste waren nur wenige; ob wegen Müdigkeit oder aus anderm Grunde, jedenfalls ließen sich viele von ihnen nicht aus ihren Kabinen herauslocken.

Der Abstieg vom Pic war übrigens schneller vor sich gegangen und weit leichter gewesen als der Auf stieg. Nur die, die bis zu dessen Spitze vorgedrungen waren, hatten dabei einige Schwierigkeiten zu überwinden gehabt. Wenn es sich bis zur Alta Vista eigentlich mehr um ein wirkliches Hinabgleiten gehandelt hatte, so mußten sie von diesem Punkte aus wieder ihre Maultiere besteigen und von neuem dem Schleifenweg folgen, der ängstlicher hinab- als schwierig hinauszukommen war. Einmal am Zirkus Las Canadas angelangt, hatte der Rückweg völlig dem Herweg geglichen, und endlich waren die acht Unerschrockenen in bestem Gesundheitszustande am Abend gegen sieben Uhr auf der »Seamew« eingetroffen.

Daß diese acht Touristen längerer Ruhe bedurften, verstand sich ja von selbst. Die andern aber mußten nach zwei Nächten Schlaf wieder vollständig hergestellt sein.

Der Kapitän Pip hatte sie am vorvorigen Tage nacheinander auf dem Schiffe ankommen sehen. Noch vor der Mittagsstunde waren die ersten erschienen, denen die übrigen in Zwischenräumen bald folgten, bis auf Piperboom, der als letzter am Abend um sieben eintraf und über nichts als über einen tüchtigen Hunger zu klagen hatte.

An Lücken fehlte es unter den Passagieren jedoch keineswegs. Die Müdigkeit entspricht ja nicht immer der geleisteten Arbeit, sondern mehr der Anstrengung, die diese gekostet hatte. Alle litten mehr oder weniger an dem oder jenem Übel. Der eine hatte sich etwas verrenkt, den andern belästigte eine durch die weiße Steppe von Las Canadas verursachte Augenentzündung, und der dritte laborierte an einem Rheumatismus, den er sich durch den eisigen Wind auf dem Berge zugezogen hatte.

Das waren nun alles keine ernsthaftern Störungen, denn noch vor Ablauf einer Stunde erschienen die Kranken aus ihren Kabinen, gerade in dem Augenblicke, wo die »Seamew« um die Tenospitze bog, mit der im Westen die Insel Teneriffa endigt.[348]

In geringer Entfernung wurde jetzt Gomera sichtbar. Die »Seamew« näherte sich schnell dieser Insel, deren Küste sie in einem Abstande von drei Seemeilen folgte.

Gegen zwei Uhr dampfte man vor ihrem Hauptorte San-Sebastian vorüber, einem Flecken von geringer Bedeutung, der nur merkwürdig ist wegen der Erinnerungen, die er wachruft.

Nach wenigen Schraubenumdrehungen erschien dann die Insel Ferro, die ein zweiundzwanzig Seemeilen breiter Kanal von Gomera scheidet, welchen die »Seamew« in zwei Stunden durchfuhr.

Es war halb vier Uhr, als man anfing, an dieser Insel, der südlichsten der ganzen Gruppe, hinzugleiten. Etwa unter 28°30' nördlicher Breite und unter 18° westlicher Länge (von Greenwich) gelegen, ist sie für den Handelsverkehr ganz unwichtig und verdankt ihre Berühmtheit nur einer geographischen Zufälligkeit: lange Zeit galt ihr Meridian als Ausgangslinie für alle übrigen und die geographische Länge der verschiedenen Punkte der Erde wurde mit der Zahl der Grade östlich oder westlich von Ferro bezeichnet.

Zum Glück für die Insassen der »Seamew« bietet diese Insel der Neugier der Reisenden aber auch noch andre Anziehungspunkte, als jenes etwas spezielle Interesse. Ihr abschreckendes, wildes Aussehen war es, um deswillen Thompson das Schiff diesen Umweg machen ließ. Weniger hoch aufragend als Teneriffa, Palma und selbst als Gran Canaria, sieht dieser Vorposten des Archipels noch weit unfreundlicher aus als die schon wenig einladenden Landfesten der genannten Inseln. Auf allen Seiten umgibt ihn eine felsige, senkrecht aus dem Meere über tausend Meter aufsteigende Uferwand, die ihn fast unzugänglich macht. Kein Spalt, keine Bucht unterbricht die eherne Mauer. Die Insulaner, die sich an der Küste unmöglich ansiedeln konnten, haben sich deshalb der großen Mehrheit nach im Innern niedergelassen. Da leben sie abgeschieden von der übrigen Welt, denn nur wenige Schiffe wagen es, zwischen die der Insel vorgelagerten Risse, auf ihre heftigen Strömungen vorzudringen, oder sich den hier oft herrschenden, gefährlichen Stürmen auszusetzen... Hindernissen, die die Fahrt in dieser Gegend ungemein erschweren.

Ein Dampfschiff braucht sich um die Winde und die Strömungen aber kaum zu kümmern. So folgte denn auch die »Seamew« ungestört der öden Küste drei Stunden lang, in denen kein Haus, kein Baum deren wilde Majestät unterbrach.[349]

Im Nordosten und über der Insel Gomera ragte stolz der von Wolken umgebene Pic von Teneriffa hervor und zeigte den Passagieren den Punkt, den zu erreichen nur wenigen von ihnen gelungen war. Gegen halb sieben Uhr verschwand er, verdeckt durch das Kap Restinga, das die »Seamew« umschiffte. Alle Blicke begrüßten noch einmal den wunderbaren Bergriesen, den wohl keiner der Passagiere je wiedersehen sollte, während der Kapitän nun allmählich einen Kurs nach Norden einschlug. Jetzt ging es also endgültig auf die Heimreise.

Um sieben Uhr war die Tafel vollzählig: Thompson präsidierte ihr, der Kapitän saß ihm gegenüber, und die Passagiere hatten ihre gewohnten Plätze eingenommen. Das Meer war ruhig, das Essen recht gut, kurz, alles ließ annehmen, daß nun die Ära der Wiederaussöhnung angebrochen sei. Und dennoch fing diese inmitten eines peinlichen Schweigens ziemlich schlecht an.

Zwischen Alice und Morgan herrschte offenbar eine gewisse Geniertheit. Auf dem Gipfel des Teyde hatten sie gleichzeitig zu viel und zu wenig einander gesagt, und jetzt wagte keines von ihnen, das Gespräch wieder aufzunehmen. Morgan, dem seine unbeschränkte Muße hinfort keine Ausflüchte, zu verschwinden, übrig ließ, hatte den ganzen Nachmittag ein hartnäckiges Schweigen beobachtet, während Alice in Träumereien verloren zu sein schien. Roger, der sie heimlich im Auge behielt, war von seinem diplomatischen Eingreifen unangenehm überrascht.

»Nun ja, da sieht man's, ein paar Liebesleute!« sagte er ironisch für sich.

Und doch hatte deren Verlegenheit klar zutage gelegen, als er mit Dolly nach dem Gipfel des Pics gekommen war. Darüber konnte er sich gar nicht täuschen. Jetzt hielten sie sich voneinander aber desto auffallender zurück, und Roger schloß daraus mit Verdruß, daß er jenes Tête-à-tête doch wohl etwas zu zeitig gestört hätte.

Obwohl die übrigen Touristen nicht dieselben Gründe hatten, herrschte unter ihnen doch eine Art dumpfer Stimmung, die sich des ganzen Schiffes zu bemächtigen schien.

Daß Jack Lindsay griesgrämig war, konnte ja nicht wundernehmen. Das war ja sein gewöhnlicher Zustand. Sich abgesondert haltend, grübelte er noch einmal über die Ereignisse des vorigen Tages. Was mochte geschehen sein, als er trotz seines grimmigen Hasses kraftlos hatte auf dem halben Wege zurückbleiben müssen? Nicht zufrieden, daß er das ja leicht erraten konnte, hätte er es doch beobachten und alles wissen mögen.[350]

Da geriet er in helle Wut. Ah, wenn er mit einem einzigen Schlage dieses vermaledeite Fahrzeug hätte zertrümmern können! Mit welcher Freude hätte er seine Gefährten alle und auch sich selbst in die Fluten gestürzt, wenn er nur das Vergnügen gehabt hätte, gleichzeitig mit seiner Schwägerin auch deren verwünschten Retter umkommen zu sehen.

Doch wenn sich auch Jack Lindsays Verstimmtheit leicht erklären ließ, woher stammte die Niedergeschlagenheit der andern? Warum waren sie im Laufe des Nachmittags nicht ebenso zusammengetreten wie beim Beginne der Reise? Warum hatten sie ihre Eindrücke nicht ausgetauscht, als sie an der abstoßenden Küste von Ferro vorüberkamen, statt einzeln und schweigsam umherzustehen?

Sie hatten eben das notwendigste seelische Gut verloren: die Hoffnung, die gegebenenfalls alle andern ersetzen kann. Bis dahin hatte die Aussicht auf die Zukunft sie aufrecht erhalten. Es war ja nicht ausgeschlossen gewesen, daß ein gelungener Ausflug, ein anständiges Hotel, ein angenehmer Spaziergang ihnen für einen verfehlten Ausflug, einen erbärmlichen Gasthof oder einen allen Atem raubenden, langweiligen Spaziergang Ersatz geboten hätte. Jetzt war das Buch geschlossen. Nach Vollendung der Reise würde den Reisenden keine Überraschung mehr geschenkt werden. Deshalb verbrachten sie nun auch ihre Zeit damit, sich alles erlittenen Ungemachs zu erinnern, und deshalb beharrten sie, aus gegenseitiger Scham, sich in dieser plumpen Falle haben fangen zu lassen, jetzt, wo ihre Unzufriedenheit durch die letzte Enttäuschung den Gipfel erreicht hatte, auf ihrem dumpfen, bedrohlichen Schweigen.

Daß das fortdauerte, darüber freute sich Saunders weidlich. Er fühlte die latente elektrische Spannung. Unzweifelhaft lag ein Gewitter in der Luft. Das wollte er zum Ausbruch bringen. Er wartete nur auf eine passende Gelegenheit, und an der sollte es ihm nicht fehlen.

Schon hatte er mehrere unangenehme Bemerkungen fallen lassen, ohne das gewünschte Echo zu finden, als ihm zwei nebeneinanderliegende leere Plätze ins Auge fielen, die gewöhnlich besetzt gewesen waren.

»Zwei kluge Passagiere, die auf Las Palmas französisch Abschied genommen haben,« dachte er anfänglich.

Eine aufmerksamere Betrachtung lehrte ihn aber seinen Irrtum. Die leeren Plätze waren die der jungen Eheleute, die in Santa-Cruz ihrer Gewohnheit gemäß gleich ans Land gegangen waren.[351]

Saunders verkündigte das sofort mit lauter Stimme und erkundigte sich nach den abwesenden Passagieren. Die hatte keiner gesehen.

»Sie befinden sich vielleicht nicht wohl, meinte Thompson.

– Warum sollten sie krank geworden sein? erwiderte Saunders bissig. Sie waren es doch gestern nicht wie Sie.

– Ja, wo glauben Sie denn, daß die beiden sein könnten? fragte Thompson in aller Sanftmut.

– Weiß ich das etwa? antwortete Saunders. Sie werden die Leutchen bei Teneriffa einfach vergessen haben.«

Saunders hatte das nur wie hingeworfen gesagt. Thompson zuckte dazu mit den Schultern.

»Wie kommen Sie darauf, daß die Leutchen vergessen worden wären? Hatten sie denn nicht ein Programm in den Händen?«

Bei diesen Worten mischte sich auch der Baronet in das Gespräch ein.

»Ein Programm? Ja freilich, sagte er mit scharfer Stimme. Das sagt aber, daß die »Seamew« am vierten Juni von Santa-Cruz abfahren werde und nicht am siebenten und auch nicht von Orotava. Und auf ein solches Programm berufen Sie sich!

– Sie mußten jedoch von dessen Abänderung unterrichtet sein, entgegnete Thompson. Übrigens gibt es ja nichts Einfacheres, als einmal an ihre Kabinentür klopfen zu lassen.«

Zwei Minuten darauf meldete Roastbeaf, daß die betreffende Kabine leer sei. Die jungen Leute waren also zweifellos verschwunden.

Trotz seiner gewöhnlich so zuversichtlichen Haltung war Thompson etwas erbleicht; die Sache nahm ein ernstes Gesicht an. Den Leuten die Bezahlung für eine Reise abzunehmen und sie dann unterwegs ruhig sitzen zu lassen, ein solch leichtherziges Verfahren würden die englischen Gerichtshöfe sicherlich hart verurteilen.

»Da gibt es nur ein Mittel, sagte der Agent nach einiger Überlegung, nämlich das, wenn die Herren zustimmen, noch einmal nach Santa-Cruz auf Teneriffa umzukehren. Infolge des Umwegs, den wir gemacht haben, wird uns das nicht viel aus unsrer Route verschlagen, und schon morgen...

Da wurde er von einem tollen Lärm unterbrochen. Alle Passagiere sprachen durcheinander. Eine Reise in Gesellschaft dieses General-Unternehmers um einen Tag, nur um eine Stunde zu verlängern... nein, nimmermehr!Offenbar schlug das dem Fasse den Boden aus, das Gewitter begann sich zu entladen. Daß der Blitz einschlüge, dafür wollte Saunders schon sorgen.

Seine Stimme allein übertönte die aller übrigen. Er gestikulierte mit dem entsetzlichen Geräusche verrosteter Bleuelstangen.


Baker nahm die klassische Stellung der Faustkämpfer ein. (S. 357.)
Baker nahm die klassische Stellung der Faustkämpfer ein. (S. 357.)

»Nun auch uns noch aufhalten! schrie er ordentlich hinaus. Zum Donnerwetter, ist es etwa unser Fehler, wenn Sie Passagiere wie ein Schnupftuch verlieren? Das mögen Sie mit den beiden Leuten ausmachen. Wir hätten einen gar zu langen Weg, wenn alles aufgesucht werden sollte, was Sie unterwegs vergessen haben, Ihre Verpflichtungen zum Beispiel, denen Sie überall, auf den Azoren, auf Madeira und auf den Kanarien, nicht nachgekommen sind. Das wird sich ja noch in London finden!« fügte er mit schrecklicher Stimme hinzu, indem er mit aller Kraft auf sein Notizbuch schlug.

Thompson erhob sich und verließ die Tafel.

»Sie sprechen mit mir in einem Tone, der mir nicht paßt, mein Herr, sagte er, bemüht, eine würdige Haltung anzunehmen. Gestatten Sie mir also, hier abzubrechen und mich zurückzuziehen.«

Daß die beleidigenden Redensarten aber auch nur Thompsons Epidermis verletzt hätten, dürfte sehr zweifelhaft sein. Seine übrigens normale Haut war gegen solche Nadelstiche gepanzert. Er fürchtete nur die beklagenswerte Wirkung eines so groben Ausfalles, jetzt, wo die Erweckung einer versöhnlichen Stimmung seine Hauptsorge war. Da erschien es besser, erst wieder Ruhe eintreten zu lassen. Dann wollte er sein Friedenswerk wieder aufnehmen und hoffte, daß einige gute Mahlzeiten ihm die jetzt aufgeregten Reisenden wieder zu Freunden machen würden.

Er kannte seinen Feind aber schlecht. Saunders folgte ihm auf den Fersen nach dem Spardeck, wohin er sich geflüchtet hatte, und hinter dem kamen noch alle Passagiere ohne Ausnahme, die einen erhitzt, die andern, wie Roger und die zwei Amerikanerinnen, nur belustigt über den ganzen Auftritt, während übrigens alle die Vor- und Einwürfe des groben Saunders zwar nicht der Form, aber doch dem Sinne nach billigten.

»Ja, mein Herr, spektakelte Saunders hier weiter, indem er den unglücklichen General-Unternehmer in eine Ecke drängte und ihm sein Notizbuch unter die Nase hielt, wir werden uns schon in London wegen Ihrer schönen Zusagen sprechen, und das Gericht wird Ihre vortrefflichen Scherze nach Gebühr zu würdigen wissen. Ich werde meine Rechnung vorlegen, werde den Beweis liefern, daß Ihr schmutziger Geiz mich zu diesen Ausgaben über den Preis für[355] meinen Platz gezwungen hat, die sich auf siebenundzwanzig Pfund Sterling, neun Schilling und fünf Pence (686 Frcs. 80 Cent. = 548 M. 74 Ps.) belaufen. Ich werde vor Gericht erzählen, wie Mistreß Lindsay fast ertrunken wäre, und mich ebenso über die Lawine von San Miguel, das Frühstück in Horta, den Rheumatismus Sir Hamiltons und über das Hüftweh des Herrn Blockhead aussprechen...

– Erlauben Sie! Ich bitte Sie! fiel Blockhead mit schwacher Stimme ein.

–... und werde Klage führen über die jämmerlichen Hotels, über alle unsre Ausflüge, unsre so schön organisierten Spaziergänge, ohne den letzten, die unsinnige Besteigung des Pics von Teneriffa, zu vergessen, von der die meisten Ihrer Passagiere krank zurückgekommen sind und von der die zähesten nichts mit zurückgebracht haben als... nun ja, als Flöhe!

– Bravo, bravo! riefen alle Zuhörer mit einer durch schadenfrohes Lachen halberstickten Stimme.

– Verlassen Sie sich darauf, mein Herr, fuhr Saunders, der einmal im Zuge war, fort, alles das werde ich tun. Inzwischen will ich gerade heraussagen, mein Herr Thompson: wir sind von Ihnen bestohlen worden!«

Der Auftritt nahm entschieden eine schlimme Wendung. Gegenüber der Heftigkeit seines Gegners und den von diesem gebrauchten Worten, sah er ein, daß er Protest einlegen müsse, und das tat er denn auch.

»Wahrhaftig, erklärte er, das ist nicht mehr zu ertragen! Wenn Sie glauben, sich ans Gericht wenden zu müssen, so warten Sie wenigstens dessen Urteilsspruch ab, ersparen Sie mir aber Auftritte wie diesen. Schon seit der Abreise habe ich es immer mit Ihnen zu tun gehabt. Wenn Sie nicht bei uns wären, würden sich alle für befriedigt erklären. Was haben Sie denn gegen mich? Ich kenne Sie ja übrigens gar nicht, Herr Saunders!

– Sie kennen mich im Gegenteil sehr gut, erwiderte Saunders.

– Ich?... Sie?...

– Jawohl, Sie!«

Der unversöhnliche Passagier pflanzte sich dicht vor dem General-Unternehmer auf.

»Mein Name lautet gar nicht Saunders.

– Bah! stieß Thompson mit einem Blick auf seinen Feind.

– Mein Name ist Baker, mein Herr, rief dieser, indem er seinen langen Arm gen Himmel streckte.[356]

– Baker!

– Ja, mein Herr Thompson, Baker, Direktor eines Reisebureaus, das aber, wie ich mir schmeichle, mit dem Ihrigen in keinerlei Verbindung steht.«

Diesen Theatercoup hatte vorher nichts ahnen lassen. Nach einem Ausrufe der Überraschung schwiegen die Passagiere still und richteten die Augen auf Baker, der in aggressiver Haltung die Wirkung seiner Enthüllung abwartete.

Diese Enthüllung, die nach der Ansicht ihres Autors Thompson hätte niederschmettern sollen, schien diesen im Gegenteil eher aufzuheitern.

»Baker! wiederholte er spöttisch. Das erklärt ja alles! Und wenn ich jetzt denke, daß ich Ihren unausgesetzten Nörgeleien gar Aufmerksamkeit geschenkt habe! Alles kommt ja nur auf den niedrigsten Konkurrenzneid hinaus!«

Thompson bewegte dazu die Hand mit verächtlicher Sorglosigkeit. Das sollte aber nicht lange dauern... Baker, wir bezeichnen ihn von hier an mit seinem wahren Namen, hatte eine wahrhaft wilde Miene angenommen, die die Heiterkeit des unklugen General-Unternehmers schnell gefrieren ließ.

»Hier, erklärte Baker sehr kühl, hier bin ich ein Passagier wie die andern und habe wie die andern das Recht, auszusprechen, daß ich bestohlen worden bin.

– Warum sind Sie denn überhaupt hier? entgegnete ihm Thompson gereizt. Wer und was hat Sie gezwungen, hierher zu kommen?

– Oho, antwortete Baker, glauben Sie denn, wir warteten nur darauf, uns von Ihnen ruinieren zu lassen? Warum ich hier bin?... Um zu sehen. Und gesehen habe ich gerade genug. Ich weiß nun, was bei der sinnlosen Preiserniedrigung herauskommt, die Possenreißer Ihres Schlages verschulden. Daneben habe ich auch noch auf ein andres Vergnügen gerechnet. Sie kennen jedenfalls die Geschichte jenes Engländers, der einem Tierbändiger immer nachreiste in der Hoffnung, einmal zu sehen, wie der von seinen Bestien zerfleischt würde.«

Thompson verzog das Gesicht.

»Zwischen jenem Engländer und mir besteht nur der Unterschied, daß ich die Lust verspüre, selbst die Zähne zu gebrauchen. Wenn ich mich nicht bezwänge, Herr, wissen Sie, daß ich Sie zum Boxen herausfordern würde?«

Um die beiden Champions erscholl ein Donner von Bravos. Angestachelt durch diese Zurufe, nahm Baker die klassische Stellung der Faustkämpfer ein und tat einen Schritt nach vorn. Thompson hätte da gern einen nach rückwärts gemacht, wie hätte er aber die Mauer von Menschenleibern durchbrechen können, die ihn auf allen Seiten umgab?[357]

»Meine Herren! meine Herren!« begann er zu bitten.

Baker, der langsam immer weiter auf ihn eindrang, war nahe daran, von Worten zu Taten überzugehen.

Plötzlich wurde das Schiff gewaltsam erschüttert; ein ohrenbetäubendes Zischen kam von der Maschine her.

Alle, die beiden Streithengste eingeschlossen, erstarrten vor Schreck. Zu dem Pfeifen und Zischen gesellten sich Schmerzensschreie und aus der Kappe und den Windfängen des Maschinenraumes strömten dichte Dampfwolken hervor. Die Schraube stand sofort still.

Was war hier vorgegangen?

Als erster stürmte der Kapitän Pip nach dem Orte der Gefahr. Er wollte schon die eiserne Treppenleiter hinuntersteigen, die zu den Maschinen führte, als einer der Heizer auf das Deck sprang und schreiend davonlief. Ein zweiter folgte ihm, beide waren aber glücklicherweise nicht eigentlich verletzt.

Ein Heizer fehlte noch. Bald sah man ihn aber erscheinen oder vielmehr von Mr. Bishop herausgetragen werden. Der Arme war übel zugerichtet; am ganzen Körper verbrüht, stieß er klägliche Schmerzensrufe aus.

Als der Mann auf das Deck an einer Stelle niedergelegt war, wo der noch immer laut prasselnd ausströmende Dampf ihn nicht erreichen konnte, richtete sich Bishop wieder auf, und da zeigte es sich, daß auch der an Brust und Gesicht stark verbrüht war. Darauf schien er jedoch nicht viel Wert zu legen, denn er wendete sich sogleich wieder dem Kapitän zu, diesem Rede und Antwort zu stehen.

»Was ist denn geschehen, Bishop? fragte Pip.

– Ein Unfall, Herr Kapitän. Ich hatte Ihnen doch schon früher gesagt, daß man aus etwas Altem nicht etwas Neues machen könne. Der Kessel hat einen Riß erhalten, zum Glück an der untern Wand, so daß er die Feuer gelöscht hat.

– Ist der Riß zu reparieren?

– Nein, Herr Kapitän.

– 's ist gut, Herr Bishop,« sagte Pip, der, während die Passagiere sich unter der Leitung Flyships um den Schwerverletzten bemühten, wieder seinen Posten einnahm.

»Das Großsegel setzen! Die Klüversegel setzen! Alles, alles heraus!« kommandierte er in gewöhnlichem Tone.[358]

Als er dann noch einen Blick auf Mr. Bishop und den Heizer geworfen hatte, den man eben in halb bewußtlosem Zustande nach einer Kabine schaffte, wendete er sich seinem Artimon zu, den nichts in der Welt hätte von seinem hergebrachten Posten verdrängen können.

Er sah Artimon an und Artimon wieder den Kapitän. Nach Austausch der beiderseitiges Verständnis verratenden Blicke schielte dieser auf eine nur für die wichtigsten Vorkommnisse vorbehaltne Weise, und rief, nachdem er noch ins Meer gespuckt hatte:

»Beim Barte meiner Mutter, Master, da sitzen wir hübsch in der Tinte!«

Quelle:
Michel Verne: Das Reisebüro Thompson und Comp. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCI–XCII, Wien, Pest, Leipzig 1909, S. 347-353,355-359.
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