I.

Nach schneller, glücklicher Ueberfahrt von der Küste Englands nach der Maas, von Deal (Grafschaft Kent) in Rotterdam am 5. Juni angelangt, wurden wir daselbst noch am 10. durch ungünstige Witterung zurückgehalten. Ein stürmischer Nordwest rollte gewaltige Wogenmassen gegen den flachen Strand Hollands und verwehrte uns die Ausfahrt. Mindestens wäre es unklug gewesen, mit unserer Dampfyacht »Saint Michel«, trotz ihrer bewährten Seetüchtigkeit und höchst vollkommenen Maschine, der empörten Nordsee gerade an diesen gefährlichen Gestaden Trotz bieten zu wollen.

Das war auch die Ansicht Harry Thomas Pearkop's, Pilot for the Channel and the North sea, wie seine Karte meldete, der sich – etwas gegen unseren Willen – mit an Bord befand. Wir hatten ihn in Deal engagirt, um den »Saint Michel« eigentlich nur durch die Dünen vor der Küste zu lootsen, da sich am Nachmittag des 4. Juni ein dichter Nebelschleier über den Kanal herabzusenken begann; mit der eigenthümlichen Zähigkeit der englischen Race, welche sich den Erwerb einiger Pfund Sterling nicht so leicht entgehen läßt, gelang es ihm aber doch zuletzt, uns von seiner »Unentbehrlichkeit« bei der geplanten Fahrt unserer Yacht zu überzeugen.

Dieser »Gentleman«, der trotz wiederholter Weigerung sich an Bord des »Saint Michel« sozusagen einnistete, hatte übrigens eine gewisse Geschichte. Thomas Pearkop ist ein Mann von mittlerer Größe mit breitem Gesicht, breiten Schultern und stark im Leibe, mit einem Wort, bei ihm geht Alles in die Breite, so auch seine breiten Füße, welche in breiten Schuhen ohne Absätze stecken Er hat ein gutmüthiges Aussehen, blaue Augen, eine gerade Nase – so eine Nase, von welcher man glaubt, sie müsse sehen können – gebräunten, in's Röthliche spielenden Teint, Bart allein unter dem Kinn – kurz, er bietet ganz das Bild eines wetterfesten Seemannes.

[355] Thomas Pearkop besaß eine starke Stimme, welche auch das Sausen des Windes übertönte, er verstand aber nicht zwei französische Worte. Zum Glück war mir das Englische so weit geläufig, daß ich mich mit ihm verständigen konnte.

»Wir brauchen aber Ihre guten Dienste nicht, Pearkop, sagte ich zu ihm. Unser Kapitän kann uns schon allein führen; nachdem er in dreißig Jahren fünfundzwanzigmal über die Nordsee gekommen ist, kennt er dieselbe gründlich und wird von Leuchtthurm zu Leuchtthurm ebenso sicher fahren, wie der beste Lootse von der Rhede bei den Dünen!

– Aoh, yes! erwiderte der ›Gentleman‹, aber die Strömungen, die Sandbänke, die Nebel, vorzüglich die Nebel, welche zur Sommerzeit so häufig vorkommen und es unmöglich machen, ein Leuchtfeuer oder die Küste zu erkennen! Was wird dann aus Ihnen werden? Ach, fügte er hinzu und hob melancholisch die großen hellen Augen zum Himmel, wie viele Kapitäne, und darunter auch ganz vortreffliche Seeleute, haben es büßen müssen, daß sie meine Dienste abwiesen!«

Nun folgte eine Aufzählung von Schiffen aller Nationen, welche gestrandet oder mit Mann und Maus untergegangen waren, nur weil sie die Warnungen dieses, mit allen Gewässern der Nordsee vertrauten Mannes in den Wind geschlagen hatten. Darauf brachte er eine geradezu zahllose Menge Zeugnisse in russischer, dänischer, deutscher und italienischer Sprache hervor, von denen wir keine Silbe verstanden; nur ein einziges französisches Attest befand sich darunter, ausgestellt von M. E. Pérignon, dem Eigenthümer der Dampfyacht »Fauvette« und Vicepräsident des französischen Yachtclubs. Unter dieser Lavine von guten und minder guten Gründen ermattete endlich unser Widerstand und wurde unser Angreifer nur noch hitziger, so daß uns nur der Ausweg blieb, nach ehrenvoller Vertheidigung zu capituliren.

Wir nahmen also das Angebot Thomas Pearkop's an, den »Saint Michel« von Deal nach Rotterdam zu führen. Freilich mußte sich das Lootsenhonorar eine für den »Gentleman« sehr schmerzhafte Amputation gefallen lassen: dasselbe wurde von fünfzehn Pfund, seiner ursprünglichen Forderung auf acht Pfund, also um ziemlich fünfzig Percent herabgesetzt.

Nun sahen wir erst auf ein Zeichen Thomas Pearkop's in dem Boote, das ihn zu uns gebracht hatte, den Sack aus getheertem Segeltuche auftauchen, den jeder Lootse, der auf sich hält, unabänderlich bei sich zu führen pflegt. Aber, himmlischer Vater, welch' ein Sack war das! Einundeinhalb Meter lang [356] und einen halben Meter dick, vollgestopft zum Platzen, geschnürt wie eine Preßwurst, und so schwer, daß ihn kaum zwei kräftige Männer an Bord schaffen konnten. Ich fürchtete, der »Saint Michel« werde unter dieser ungewöhnlichen Last kentern wie ein Fischerboot.

Quelle:
Paul Verne: Von Rotterdam nach Kopenhagen an Bord der Dampfyacht »Saint Michel«. In: Die Jangada. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XXXIX– XL, Wien, Pest, Leipzig 1883, S. 353–404, S. 355-357.
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