V.

[364] Auf offener See weht noch immer der Nordwestwind, freilich etwas schwächer, aber doch noch stark genug, um uns einigermaßen zu beunruhigen. Wir haben einen langen Weg vor uns, ohne einen Hafen außer Texel, im Norden der Zuidersee, und dieser hat eine schwierige Einfahrt. Sind wir einmal über diesen hinaus, so müssen wir wohl oder übel weiterdampfen. Die Brise nahm allmählich wieder zu und es war zu befürchten, daß sie mit Sonnenaufgang noch mehr auffrischte. In diesen, höchstens fünfzehn bis zwanzig Faden tiefen Gewässern kommt das Meer schnell in kräftige, kurz stoßende Bewegung und wirst ein so flach gehendes Schiff wie unseren »Saint Michel« unbarmherzig hin und her.

Wir dachten also schon ernsthaft daran, in Texel wieder vor Anker zu gehen, doch bestimmten uns einerseits die Weigerungen Thomas Pearkop's, der keine Lust zu haben schien, Nachts daselbst einzulaufen, und eine weitere Erhöhung der Quecksilbersäule des Barometers, die Reise fortzusetzen. Mit Sonnenaufgang wehte der Wind, wie vorausgesehen, wirklich stärker, er ging aber gleichzeitig nach Norden um, was für uns von Vortheil war. Mit dem Winde von der Seite erreichte der »Saint Michel« mit Hilfe seiner Segel bald eine Schnelligkeit von zehn Knoten. Das Wetter klarte nach und nach auf, und gegen neun Uhr Abends kamen wir vor dem Jahdebusen an. Dann heuerten wir einen Bremer Lootsen, dessen Boot auf dem Meere am Eingange der Bucht umherschaukelte, und der es übernahm, unsere Yacht nach Wilhelmshaven zu bringen, wo wir gegen Mitternacht eintrafen.

Dieser ausschließlich militärischen Zwecken dienende Hafen an der Westseite des Golfes ist durch Thore ohne Schleußen versperrt, die nur zur Fluthzeit geöffnet werden, um Schiffe ein- oder auslaufen zu lassen. Wir wußten natürlich nicht im Voraus, welcher Empfang uns von den Hafenbeamten zutheil werden würde, und ob man einem französischen Schiffe überhaupt den Zutritt gestatten werde.

Wer darüber erstaunen sollte, daß wir als Franzosen so begierig waren, mehrere Punkte der deutschen Küste und vor Allem Wilhelmshaven kennen zu lernen, dem diene als Erklärung, daß wir der Ansicht huldigen, man könne [365] von fremden Völkern allemal das oder jenes lernen. Was übrigens Deutschland betrifft, so legten wir uns natürlich von vornherein die, unter den gegebenen Umständen nothwendige Reserve auf.

Am 14. Juni um acht Uhr Morgens gingen wir, mein Bruder und ich, ans Land, um die nöthigen Schritte zu thun. Ein Herr, in Uniform, wie Alle, wel che zu der Regierung in irgend welchem näheren Verhältnisse stehen, empfing uns und wies uns zunächst an den Admiral-Gouverneur von Wilhelmshaven, der in einer Entfernung von zwei Kilometern wohnt. Begleitet von einer straff einherschreitenden Ordonnanz, begaben wir uns schnellen Schrittes nach der Amtswohnung des Gouverneurs. Der Admiral ließ uns melden, daß er vor zehn Uhr Niemand empfangen könne. Auf unser Gesuch um Erlaubniß zur Einfahrt, da wir die Fluth nicht verpassen wollten, erhielten wir denn auch eine schriftliche Ordre an den Hafenkapitän Möller, den wir nun unverzüglich, begleitet von einer womöglich noch strammeren Ordonnanz, aufsuchten.

Nach halbstündigem Bemühen entdeckten wir endlich den Kapitän Möller, in Uniform, den Säbel an der Seite.

Unsere Ordonnanz geht auf ihn zu, bleibt drei Schritt vor dem Officier unbeweglich stehen, die Fersen geschlossen, die linke Hand an der Dienstmütze und überreicht mit der rechten Hand dem Kapitän die schriftliche Ordre des Admirals.

Wenn ich diese Einzelheiten erwähne, so geschieht es, weil sie eine der originellen Seiten der militärischen Organisation Deutschlands illustriren. Unser Begleiter führte alle Bewegungen mit wahrhaft mechanischer Sicherheit und absoluter Regelmäßigkeit aus, ein Beweis, wie tief die Regeln der Disciplin und der Respect vor dem Vorgesetzten jedem Untergebenen in Fleisch und Blut übergegangen sind. Mein Leben lang werde ich diesen regungslosen Soldaten nicht vergessen, der erst ein Zeichen seines Vorgesetzten abwartete, um seine Position zu verändern, und dann noch immer voller Respect vor demselben stehen blieb. Ganz ähnlich verhält es sich zwischen allen Graden der deutschen Armee gegenüber dem höherstehenden Chargirten.

Kapitän Möller erlaubte uns sofort, in den Hafen einzulaufen; er gab die nöthigen Befehle und eine Stunde später lag der »Saint Michel« am vorderen Hafenbassin vertäut.

Wilhelmshaven ist noch ziemlich neuen Ursprungs; es besteht erst seit etwa fünfzehn Jahren, das heißt seit der Zeit, wo die Provinzen Schleswig und Holstein dem deutschen Reiche wieder einverleibt wurden.

[366] Es ist das einzige militärische Etablissement, welches das deutsche Reich, an der Nordsee besitzt, und wird noch immer mit rastlosem Eifer ausgebaut, so daß es in kurzer Zeit eine Festung ersten Ranges darstellen muß. Seine Lage im Grunde des Jahdebusens schützt es vor einem Bombardement von der Seeseite.

Außer den Batterien, welche dasselbe bis zur Mündung der Bucht beschützen, bietet eben die Bucht selbst ihm eine natürliche Vertheidigung, da diese nach Entfernung der Seezeichen für jede feindliche Flotte so gut wie unerreichbar ist. Das Fahrwasser in dieselbe hinein ist außerordentlich gewunden, die Strömung sehr schnell, und wenn es Kanonenboote wagen sollten, sich einen Weg zu erzwingen, so wären sie aus kurzer Entfernung einem verheerenden Feuer schwerer Batterien ausgesetzt, welche Alles in Grund und Boden schießen, was den Torpedos etwa entgangen sein sollte.

Vorläufig hat der Hafen nur einen Zugang; binnen zwei Jahren wird er jedoch noch einen zweiten besitzen, an dem man Tag und Nacht arbeitet und der ihm einen weiteren Vorzug gewähren wird.

Er enthält zwei Bassins, den Vorhafen, in welchem der »Saint Michel« liegt, und den eigentlichen Kriegshafen, in dessen Hintergrunde sich zahlreiche Werkstätten, Werfte und Docks befinden. Dieser Theil ist für Fremde nur mit besonderer schriftlicher Erlaubniß des Gouverneurs zugänglich.

Wir wünschten natürlich lebhaft, auch diesen reservirten Theil der Anlage kennen zu lernen, und begaben uns deshalb gegen zwei Uhr nach dem Hôtel des Gouvernements, um die unumgänglich nöthige schriftliche Erlaubniß auszuwirken.

Der Vice-Admiral-Gouverneur war abwesend und wir richteten unser Gesuch demnach an den stellvertretenden Gouverneur, den Contre-Admiral Berger. Der hohe Officier empfing uns unverzüglich. Er äußerte seine Befriedigung darüber, auch einmal eine französische Yacht den großen deutschen Kriegshafen besuchen zu sehen, und fügte dem sogar eine Entschuldigung bei, daß er uns am Morgen unmöglich habe empfangen können.


Aber welch' ein Sack war das (S. 357.)
Aber welch' ein Sack war das (S. 357.)

Dieses wohlwollende Entgegenkommen erfüllte uns mit bester Hoffnung; als wir indeß den delicaten Punkt berührten, erklärte der Admiral, daß er Erlaubniß zum Besuche des eigentlichen Arsenals nur nach Anfrage in Berlin gewähren könne, und erbot sich, sofort dahin zu telegraphiren. Wir lehnten das dankend ab. »Ist es aber, fragte ich, nicht vielleicht gestattet, wenn nicht das [367] Arsenal, so doch das Artillerie-Schulschiff, den ›Mars‹ zu besuchen, der im Vorderhafen ankert?

– O, gewiß, antwortete der Admiral; ich werde Ihnen meine Karte übergeben, welche Sie dem dienstthuenden Officier übermitteln lassen wollen, und er wird Sie zweifelsohne willkommen heißen. Sie werden da die neuesten Geschütze sehen, und empfehle ich Ihrer Aufmerksamkeit besonders das Vierundzwanzig-Centimeterrohr, mit dem wir uns schmeicheln, jeden existirenden Panzer noch in der Entfernung von achthundert Metern zu durchbohren.«

[368] Wir verabschiedeten uns von Sr. Excellenz und trafen eine Viertelstunde später bei der Fregatte, »Mars« ein.

Dieses ungepanzerte Eisenschiff erscheint für den ersten Blick von etwas schwerfälliger Bauart, erfüllt jedoch seinen Zweck ganz ausgezeichnet. Die Armirung desselben besteht aus allen, in der deutschen Marine jetzt gebräuchlichen Kalibern, von der Krupp'schen acht- bis zur vierundzwanzig Centimeterkanone, dem Geschütz, auf welches uns Admiral Berger ganz besonders aufmerksam machte.


Unsere Ordonnanz geht auf ihn zu. (S. 366.)
Unsere Ordonnanz geht auf ihn zu. (S. 366.)

[369] An Bord angelangt, empfängt uns der Kapitän und zweite Befehlshaber der Fregatte, der des Französischen ebenso gut wie jeder gebildete Franzose mächtig ist. Er stellt sich uns zur Verfügung und zeigt und erklärt uns sein Schiff mit größter Zuvorkommenheit. Der vierundzwanziger Krupp erregte natürlich unser hervorragendes Interesse. Wie alle aus der großen Werkstatt in Essen herrührenden Geschütze ist auch dieses aus Gußstahl hergestellt und mit Schmiedeeisenringen verstärkt; denn wenn sein Geschoß auf achthundert Meter noch die stärksten Panzerplatten durchschlagen soll, muß es eine wahrhaft ungeheuere Anfangsgeschwindigkeit haben, welche nur durch eine sehr starke Pulverladung zu erzwingen ist.

Unser Besuch endete im Achtersalon, wo sich eine Anzahl Officiere befand, denen der Kapitän uns vorstellte. Alle sprachen geläufig englisch und französisch. Sie erzählten uns von einem unlängst an Bord ihrer Fregatte vorgekommenen Unfall, bei dem eine Granate geplatzt war, als sie eben in das Geschützrohr eingeführt werden sollte; acht Mann waren dabei getödtet und noch ein Dutzend Andere mehr oder weniger schwer verletzt worden. Auch auf einem anderen Schiffe war eine Krupp'sche Kanone gesprungen und hatte erhebliche Verheerungen angerichtet. Die Officiere sprachen ungemein zwanglos über diesen Vorfall. Sie hätten noch hinzufügen können, daß eines ihrer Panzerschiffe kürzlich beinahe untergegangen wäre, indem es durch ein falsches Manöver gegen den Hafendamm in Kiel anlief und ein Leck bekam, ein Unfall, der wenigstens in französischen Zeitungen nirgends besprochen worden ist.

Der Dienst für die Marineofficiere an Bord des »Mars« muß ein ziemlich beschwerlicher sein. Die Mannschaft des Schiffes wird nämlich alle zwei Monate gewechselt, um eine möglichst große Anzahl Matrosen mit der Bedienung der Geschütze vertraut zu machen. So lange die Fregatte im Hafen liegt, detachirt man auch eine Abtheilung der Mannschaft nach einem Kanonenboote, um auf der Rhede nach einem Ziele schießen zu lernen. Auf jeden Fall wird in Wilhelmshaven sehr viel Pulver verplatzt. Tag für Tag haben Matrosen und Marinesoldaten Schießübungen, denen man mit Recht hier großen Werth beilegt.

Gegen vier Uhr nahmen wir Abschied, nachdem wir dem zweiten Befehlshaber und den Officieren unseren aufrichtigen Dank abgestattet hatten.

Quelle:
Paul Verne: Von Rotterdam nach Kopenhagen an Bord der Dampfyacht »Saint Michel«. In: Die Jangada. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XXXIX– XL, Wien, Pest, Leipzig 1883, S. 353–404, S. 364-370.
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