60. Die Dichtkunst

[315] 2. Febr. 1795.


Nicht schämet euch zu singen,

Ob Dünkel höhnt und grollt!

Noch goldner ist, als Gold,

Gesang von edlen Dingen!

Gesang ward anvertraut,

Den starren Geist zu lindern

Uns armen Menschenkindern

Ein holder Ammenlaut.


Wer war's, der dich, Hellene,

Zur Menschlichkeit so hoch

Vom Wildling auferzog?

Des Mäoniden Töne!

Wer schuf dich, Römer, fein?

Wer weckte Wälsch' und Franken

Und Angeln zu Gedanken?

Des Liedes Mus' allein!


Durch fremder Lieder Halle

Entwacht in Deutschland kaum

Ein Häuflein dumpfem Traum:

Tief träumen noch fast alle.[315]

Der wähnt vom Mutterschoß

Sich edler, der verengelt;

Der lallt und spielt gegängelt,

Der kaum der Windeln los.


Wo späht ein freier Späher?

Gefesselt lahmt Vernunft

Durch Machtgebot und Zunft

Der Herrscherling' und Seher.

Was Ehre sei, was gut,

Was schön und herzerhebend:

Der Ausspruch hänget schwebend

An Wahn und Übermut.


O Dichter, lehrt die Menge,

Verachtend Groll und Hohn,

Durch süßen Ammenton

Begeisterter Gesänge!

Bald flieht von Herz und Ohr

Des Ungefühles Nebel;

Der hoch und niedre Pöbel

Vernimmt und staunt empor.


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 49, Stuttgart [o.J.], S. 315-316.
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