Brief eines jungen deutschen Malers in Rom
an seinen Freund in Nürnberg

[209] Teurer Bruder und Genosse!

Lange ist es schon, ich weiß es wohl, daß ich Dir nicht geschrieben habe, sooft ich auch mit inniger Liebe an Dich dachte; denn es gibt Stunden im Leben, in denen den beflügelten Gedanken alles Äußere zu langsam vonstatten geht, wo die Seele sich selbst mit Vorstellungen abarbeitet, und eben deswegen äußerlich nichts geschieht. Eine solche Epoche habe ich jetzt erlebt, und nun, da ich innerlich wieder etwas zur Ruhe gekommen bin, nehme ich auch sogleich die Feder, um Dir, geliebter Sebastian, meinem wertesten Jugendfreunde, zu berichten, wie es mir ergangen und was sich mit mir zugetragen hat.

Soll ich Dir weitläuftig schreiben, wie das gelobte Land Italia beschaffen sei, und mich in unzusammenhängende Bewunderungen ergießen? Es finden da keine Worte ihren rechten Platz, denn wie mag ich, der Sprache so ganz unkundig, Dir den hellen Himmel, die weiten paradiesischen Aussichten, durch die die erquickende Luft spielend ziehet, würdig darstellen? Weiß ich doch kaum in meinem eigentümlichen Handwerke Farben und Striche aufzufinden, um das, was ich innerlich sehe und fasse, auf die Leinwand hinzuzeichnen.

So verschieden aber auch alles hier sein mag, was Himmel und Erde betrifft, so läßt es sich doch noch eher ahnden und glauben, als dasjenige, was ich Dir von der Kunst zu sagen habe. Ihr mögt da in Deutschland fleißig zusammen malen, lieber Sebastian, Du und unser überaus teurer Lehrer Albrecht Dürer; aber wenn ihr hieher plötzlich verschlagen würdet, so würdet ihr wahrlich wie zwei Gestorbene sein, die sich im Himmel noch nicht zurechtzufinden wissen. Da seh ich in Gedanken den künstlichen Meister Albrecht auf seinem Schemel sitzen, und mit einer kindischen, fast rührenden Emsigkeit an einem feinen Stückchen[209] Holze schnitzeln, wie er die Erfindung und Ausführung wohl überlegt, und das angefangene Kunststück zu wiederholten Malen betrachtet; ich sehe seine weite ausgetäfelte Stube und die runden Scheiben, und Dich mit dem unermüdlichen getreuen Fleiße vor einer Kopei, und wie die jüngern Schüler ab- und zugehen, und der alte Meister Dürer manches kluge und manches lustige Wort fallen läßt; dann sehe ich unsre Hausfrau hereintreten, oder den wohlberedten Wilibald Pirckheimer, der die Gemälde und Zeichnungen betrachtet, und mit Albrecht einen lebhaften Disput anfängt; – und wenn ich mir dies alles eigentlich in meinen Gedanken vorstelle, so kann ich ordentlich nicht recht begreifen wie ich hieher gekommen bin, und wie hier alles so anders ist.

Erinnerst Du Dich noch der Zeit, als wir zuerst bei unserm Meister in die Lehre gegeben wurden, und wir es gar nicht begreifen konnten, daß aus den Farben, die wir rieben, ein Gesicht oder ein Baum hervorgehen sollte? Mit welchem Erstaunen betrachteten wir dann den Meister Albrecht, der immer alles so wohl anzuwenden wußte, und nie über die Ausführung seiner größten Sachen in Verlegenheit kam! Ich war oft wie im Traum, wenn ich aus der Malerstube ging, um ihm Wein oder Brot einzukaufen, und ich meinte sogar in manchen Stunden, wenn alle die übrigen unkünstlichen Menschen, Handwerker oder Bauern, an mir vorübergingen, er müsse wohl gar ein Zauberer sein, daß sich das Leblose so auf seinen Ruf zurechtfinde und gleichsam lebendig werde.

Aber was würde ich erst gesagt oder gefühlt haben, hätte man mir damals die verklärten Angesichter Raffaels vor die kindischen Augen gehalten? Ach, lieber Sebastian, wenn ich sie verstanden hätte, so wäre ich gewiß in meine Kniee gesunken und hätte meine ganze junge Seele in Andacht, Tränen und Anbetung aufgelöst; denn bei unserm großen Dürer findet man doch noch das Irdische heraus, man begreift es doch, wie ein künstlicher und wohlgeübter Mann auf diese Gesichter und Erfindungen verfallen konnte; – wenn wir recht mit den Augen in das Gemälde[210] einwurzeln, so können wir fast die gefärbten Figuren wieder vertreiben, und das leere, einfache Brett darunter entdecken: – aber bei diesem Meister, mein Teurer, ist alles so wunderbar eingerichtet, daß Du ganz vergissest, daß es Farben und eine Malerkunst gibt, und Dich nur innerlich vor den himmlischen, und doch so herzmenschlichen Gestalten mit der wärmsten Liebe demütigst, und ihnen Dein Herz und Deine Seele zueignest. – Glaube nicht, daß ich aus jugendlichem Eifer übertreibe; Du kannst es Dir nicht vorstellen und nicht fassen, wenn Du nicht selber kommst und siehst.

Überhaupt, lieber Sebastian, ist diese Erde durch die Kunst ein gar herrlicher und lieblicher Aufenthalt; ich habe es erst jetzt empfunden, wie ein unsichtbares Wesen in unserm Herzen wohnt, das allgewaltig von den großen Kunstwerken angezogen wird. – Und wenn ich Dir alles gestehen soll, mein teurer Jugendfreund (wie ich es denn muß, denn ich fühle mich mit Gewalt dazu hingezogen), so liebe ich jetzt ein Mädchen, die meinem Herzen über alles geht, und ich werde von ihr wiedergeliebt. Mein Sinn taumelt also in einem ewigen Frühlingsglanze umher, und ich möchte in manchen Stunden des Entzückens sagen, daß die Welt und die Sonne des Himmels ihren Glanz von mir erborgten, wenn es nicht zu frech wäre, seine Freude auf diese Art aussprechen zu wollen. Mit inniger Rührung habe ich seit lange ihre Züge in den besten Gemälden aufgesucht und sie immer bei meinen liebsten Meistern gefunden. Ich bin mit ihr verlobt, und in wenigen Tagen werden wir unsre Hochzeit feiern; Du siehst also, daß ich nicht Lust habe, nach unserm Deutschlande zurückzukehren, ich hoffe Dich aber bald hier in Rom zu umarmen.

Beschreiben kann ich Dir es nicht, wie Mariens Herz immer um das Wohl meiner Seele besorgt war, als sie hörte, daß auch ich der neuen Lehre zugetan sei. Sie bat mich oft inbrünstig, zum alten, wahren Glauben zurückzukehren, und ihre liebevollen Reden brachten oft meine ganze Phantasie und alles, was ich für meine Überzeugungen hielt, in Unordnung. – Von dem, was ich Dir nun schreiben werde, sage nichts unserm vielgeliebten[211] Meister Dürer; denn ich weiß, daß es nur sein Herz kränken würde, und es könnte doch weder mir noch ihm weiter fruchten.

Ich ging neulich in die Rotonda, weil ein großes Fest war, und eine prächtige lateinische Musik sollte aufgeführt werden, oder eigentlich anfangs nur um meine Geliebte dort unter der betenden Menge wiederzusehen und mich an ihrer himmlischen Andacht zu bessern. Der herrliche Tempel, die wimmelnde Menge Volks, die nach und nach hereindrang, und mich immer enger umgab, die glänzenden Vorbereitungen, das alles stimmte mein Gemüt zu einer wunderbaren Aufmerksamkeit. Mir war sehr feierlich zumute, und wenn ich auch, wie es einem bei solchem Getümmel zu gehen pflegt, nichts deutlich und hell dachte, so wühlte es doch auf eine so seltsame Art in meinem Innern, als wenn auch in mir selber etwas Besonderes vorgehen sollte. Auf einmal ward alles stiller, und über uns hub die allmächtige Musik, in langsamen, vollen, gedehnten Zügen, an, als wenn ein unsichtbarer Wind über unsern Häuptern wehte: sie wälzte sich in immer größeren Wogen fort, wie ein Meer, und die Töne zogen meine Seele ganz aus ihrem Körper heraus. Mein Herz klopfte, und ich fühlte eine mächtige Sehnsucht nach etwas Großem und Erhabenen, was ich umfangen könnte. Der volle lateinische Gesang, der sich steigend und fallend durch die schwellenden Töne der Musik durchdrängte, gleichwie Schiffe, die durch Wellen des Meeres segeln, hob mein Gemüt immer höher empor. Und indem die Musik auf diese Weise mein ganzes Wesen durchdrungen hatte und alle meine Adern durchlief – da hob ich meinen in mich gekehrten Blick, und sah um mich her – und der ganze Tempel ward lebendig vor meinen Augen, so trunken hatte mich die Musik gemacht. In dem Moment hörte sie auf, ein Pater trat vor den Hochaltar, erhob mit einer begeisterten Gebärde die Hostie, und zeigte sie allem Volke – und alles Volk sank in die Kniee, und Posaunen, und ich weiß selbst nicht was für allmächtige Töne, schmetterten und dröhnten eine erhabene Andacht durch alles Gebein. Alles, dicht um mich herum, sank nieder, und eine geheime, wunderbare Macht zog auch mich unwiderstehlich[212] zu Boden, und ich hätte mich mit aller Gewalt nicht aufrechterhalten können. Und wie ich nun mit gebeugtem Haupte kniete, und mein Herz in der Brust flog, da hob eine unbekannte Macht meinen Blick wieder; ich sah um mich her, und es kam mir ganz deutlich vor, als wenn alle die Katholiken, Männer und Weiber, die auf den Knieen lagen, und, den Blick bald in sich gekehrt, bald auf den Himmel gerichtet, sich inbrünstig kreuzten, und sich vor die Brust schlugen und die betenden Lippen rührten, als wenn alle um meiner Seelen Seligkeit zu dem Vater im Himmel beteten, als wenn alle die Hunderte um mich herum um den einen Verlorenen in ihrer Mitte flehten und mich in ihrer stillen Andacht mit unwiderstehlicher Gewalt zu ihrem Glauben hinüberzögen. Da sah ich seitwärts nach Marien hin, ihr Blick begegnete dem meinigen, und ich sah eine große, heilige Träne aus ihrem blauen Auge dringen. Ich wußte nicht wie mir war, ich konnte ihren Blick nicht aushalten, ich wandte den Kopf seitwärts, mein Auge traf auf einen Altar, und ein Gemälde Christi am Kreuze sah mich mit unaussprechlicher Wehmut an – und die mächtigen Säulen des Tempels erhoben sich anbetungswürdig, wie Apostel und Heilige, vor meinen Augen und schauten mit ihren Kapitälern voll Hoheit auf mich herab – und das unendliche Kuppelgewölbe beugte sich wie der allumfassende Himmel über mir her und segnete meine frommen Entschließungen ein.

Ich konnte nach der geendigten Feierlichkeit den Tempel nicht verlassen; ich warf mich in einer Ecke nieder und weinte, und ging dann mit zerknirschtem Herzen vor allen Heiligen, vor allen Gemälden vorüber, und es war mir, als dürfte ich sie nun erst recht betrachten und verehren.

Ich konnte der Gewalt in mir nicht widerstehen: – ich bin nun, teurer Sebastian, zu jenem Glauben hinübergetreten, und ich fühle mein Herz froh und leicht. Die Kunst hat mich allmächtig hinübergezogen, und ich darf wohl sagen, daß ich nun erst die Kunst so recht verstehe und innerlich fasse. Kannst Du es nennen, was mich so verwandelt, was wie mit Engelsstimmen in meine Seele hineingeredet hat, so gib ihm einen Namen, und belehre[213] mich über mich selbst; ich folgte bloß meinem innerlichen Geiste, meinem Blute, von dem mir jetzt jeder Tropfen geläuterter vorkömmt.

Ach! glaubte ich denn nicht schon ehemals die heiligen Geschichten und die Wunderwerke, die uns unbegreiflich scheinen? Kannst Du ein hohes Bild recht verstehen, und mit heiliger Andacht es betrachten, ohne in diesem Momente die Darstellung zu glaubend? Und was ist es denn nun mehr, wenn diese Poesie der göttlichen Kunst bei mir länger wirkt?

Dein Herz – wird sich dem meinigen gewiß nicht abwenden, das ist nicht möglich, Sebastian, und so laß uns denn zu demselben Gotte beten, daß er unser Gemüt hinfüro immer mehr erleuchte und die wahre Frömmigkeit auf uns herniedergieße: nicht wahr, Freund meiner Jugend, das übrige soll undkann uns nicht trennen?

Lebe recht wohl, und grüße herzlich unsern Meister. Wenn Du auch nicht meiner Meinung bist, wird Dir dieser Brief doch gewiß Freude machen, denn Du erfährst, daß ich glücklich bin.

Quelle:
Wilhelm Wackenroder: Werke und Briefe. Berlin und München 1984, S. 209-214.
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