VII. Über die Kinderfiguren auf den Raffaelschen Bildern

[288] Wie wundervoll und schön ist es, sich oft mit allen Gedanken in der nächsten Gegenwart zu verlieren, und das Treiben des geheimnisvollen Lebens so recht eigentlich zu merken und zu spüren! Wir werden uns dann selbst zurückgegeben, und treffen süße Gefühle und Ahndungen wieder an, die uns vielleicht schon seit der Kindheit verließen.

So geht es uns zu mancher Zeit, wenn wir die unmündige Menschheit betrachten, wenn wir unsern Blick einmal recht eigentlich auf diese verschlossenen Knospen heften, in deren unbefangenem Lächeln, in ihren süßen heitern Augen, die jammervolle Zukunft schläft; die sich so innig genießen, und nichts weiter zu wissen streben. Wenn wir der Kinder holdseliges Angesicht betrachten, so vergessen wir gern und leicht die Verwickelungen der Welt, das Auge vertieft sich in den wunderbaren reinen Zügen, und wie Propheten einer schönen Zukunft, wie zarte Pflanzen, die unerklärlich aus der längst entflohenen goldenen Zeit zurückgekommen sind, stehn die Kinder um uns. Wir wissen uns nicht darin zu finden, daß diese Gestalten mit uns um den Bronn des Lebens sitzen, und noch nichts tun, als sich selber darin beschauen. Wir sehn mit ihnen hinab, und können uns nicht genug darüber verwundern, daß das das Leben sei. So kömmt denn in unsre Seele die Erinnerung der himmelsüßen Unschuld, immer tiefer, ernster und heiterer schauen wir in das spiegelnde Gewässer hinab, und glauben am Ende nichts wahrzunehmen als uns, und über unserm Haupte die lichten Wolken, wie im Begriff, als Glorie herunterzusteigen und uns mit Strahlen zu umflechten.

Wie durch den dichten Wald oft wunderliche Töne laufen, die wir niemals finden, so gibt es feine Seelen von Gedanken, wie ich sie nennen möchte, die niemals in uns wohnhaft werden, die uns nur wie aus der Ferne grüßen und locken, wir wenden Sinn und Geist darnach, und haschen und erringen sie nie, oft gewahren[288] wir sie nur wie ein fortschwebendes Gebilde, wie unstete Erinnerung. Je älter sich der Mensch in seine irdische Hülle hineinlebt, um so mehr gewöhnt er sich an alle Erscheinungen in und außer ihm, er zieht sich immer mehr in das Dunkelste des Erdenlebens zurück, und meint dann, er bewohne die Klarheit; es flimmert und blitzt nur selten mehr in seine Seele von oben hinein, und wenn er auch die wunderseltsamen, heilverkündenden Lichter gewahrt, so hält er sie nur allzugern für Täuschung.

Dieser Ätherschimmer, diese Erinnerungen der Engelswelt leben und regen sich noch hell und frisch im Kindergeiste, der dunkle Schatten der Erdgegenstände ist noch nicht verfinsternd in den Glanz hineingerückt, die irdischen Geschäfte, die hiesigen Leidenschaften und Entwürfe, diese träge Liebe und dieser wilde Haß, alles liegt noch weit zurück, wie eine unkenntliche Verzerrung: und darum stehn die Kindlein wie große Propheten unter uns, die uns in verklärter Sprache predigen, die wir nicht verstehn. Zu oft suchen wir mühsam im Kindesantlitz den künftigen Mann, aber schöner und erfreulicher ist es, im Manne die Spuren seiner Kindheit aufzusuchen, und die Glücklichsten sind die zu nennen, in denen der Stempel sich am wenigsten verwischt hat. Denn sind die Menschen nicht verdorbene, ungeratene Kinder? Sie sind nicht vorwärts, sondern zurückgegangen; das Kind ist die schöne Menschheit selbst.

Diese Kinder, wie ich sie hier beschrieben habe, hast du, o Raffael! uns dargestellt. Du hast es nicht der Mühe wert gehalten, das eigentliche unverständige Kindische nachzuahmen, wie die Geschicklichkeit andrer Maler getan hat, und man hat dich nur zu oft darum getadelt. Ich spreche hier nicht vom Erlöser, von den Engeln, die unsre Anbetung auf seinen Bildern fordern, auch in fröhlichen Aufzügen, auf Instrumenten spielend, im Scherzen hingegeben, finden wir auf seinen Bildern Kinder, die mit ihrer Weisheit, mit ihrem hohen, geheimnisvollen Ernst die umstehenden Greise beschämen, zu denen wir gleichsam hinauf blicken, um Rat zu fragen, wie das irdische Leben zu führen sei. – Sie sind so wahrhaft ernst und erhaben, weil sie den[289] Ernst, die Erhabenheit noch nicht kennen, die wir Erwachsenen nur immer so zu nennen pflegen; weil sie dem Quell des Glanzes noch so nahestehn, der immer dunkler sich entfernt, je mehr das Leben in die Jahre rückt.

Alle Welt braucht den Ausdruck kindisch, und tadelt stets damit. – O Raffael, welchen erhabenen Wink hast du uns gegeben! wie groß sprichst du dies Wort aus und unterweisest uns! Aber sie haben dich so wenig wie den Erlöser gehört, der auch wie du zu uns sagte: »Lasset die Kindlein zu mir kommen, und wehret ihnen nicht, denn ihrer ist das Reich Gottes«; und wieder: »Wahrlich, ich sage euch, wenn ihr nicht werdet, wie dieser einer, so werdet ihr nicht das Reich Gottes schauen!«

Mit diesen großen Worten will ich am liebsten meine Betrachtung schließen.

Quelle:
Wilhelm Wackenroder: Werke und Briefe. Berlin und München 1984, S. 288-290.
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