Phaethon an Theodor

[14] Ich habe nun eine neue Wohnung gemietet. Ein kleines Häuschen bewohn' ich ganz allein. Hat Dir eine so angenehme Lage draußen vor dem Dorf am Abhang eines kleinen Rebenhügels! Man hat eine weite Aussicht durch die engen Fensterscheiben. Zu einer Seite liegt das freundliche Dorf und drüber hin auf dem grünen Wiesengrund ein paar andre; dann zur andern Seite liegt das Waldgebirge, und unter ihm auf jäher Felswand glänzt im Abendlicht die Burg.

All den vielen Kram hab ich weggeschafft, und es steht jetzt nur noch mein Amor und mein Klavier in dem größern Zimmer, worin ich arbeite. Daneben ist ein anderes, worin ich schlafe.

Meinen Homeroskopf hab ich ans Fenster gestellt zur Morgenseite. Der erste Strahl der alten heiligen Sonne verklärt das Angesicht des grauen Sängers. Mir ist's oft, als ob er lebte, wenn ich erwache und der Alte glühet!

Und solltest sehen, wie schön! Draußen um die Wände krümmen sich Traubenranken, und die schönen[15] großen Blätter breiten sich geschlängelt bis ans Fenster! So nah hab ich die Natur!

Mir ist auch wohl dabei wie dem Säugling am vollen Mutterbusen.

Innen sieht's freilich nicht so schön aus! Da liegen die paar Bücher, die ich noch habe, zerstreut umher wie die Gedanken in meinem Kopfe. Du lächelst und sagst vielleicht: War ja von jeher alles untereinander! Du hast Recht. Es ist mir auch nichts so zuwider als übertriebene Regelmäßigkeit.

Quelle:
Wilhelm Waiblinger: Phaeton. Teil 1 und 2. Dresden 1920, S. 14-16.
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