Phaethon an Theodor

[112] Krankheit sei die Liebe? Laßt mir, laßt mir diese Krankheit! Wie aus einem Heilquell schöpf' ich Gesundheit aus ihr und ewige himmlische Gesundheit.

Nichts Schöneres gibt es auf der Erde, nichts Schöneres im Himmel als diese Gesundheit. Sie kräftigt die Seele und füllt sie an mit Wärme. Sie bereitet die Geister vor, die Urschönheit zu schauen in ihrer reinen Göttlichkeit, in ihrer ewigen unveränderlichen Fülle. Sie deckt endlich auf den Riesenschleier des größten der Geheimnisse.

Gott selbst erfreut sich ihrer. Durch sie ist er Gott. Ewige nieverblühende Jugend ist ihre Tochter. In ihrem frischen Wasser zu baden, ist die Wonne der Unsterblichen.

Sie ist voll und üppig wie die Rose. Aus ihrem Kelche saugen die Menschen wie Bienen ewiges Gedeihn. Ihre Farbe ist weiß wie Milch, denn sie ist voll Unschuld. Ihre Stimme ist wie der Klang einer Glocke; denn alles staunt ob ihrer Fülle. Aber auch sanft ist sie oft wie verhallende Harmonikalaute, und in der Ferne der Erinnerung klingt sie wie leises Wellengemurmel.[113]

Ein Kuß ist das größte Geheimnis dieser Liebe. Die Liebe zur ganzen Menschheit ist eins mit ihr.

Weissagend ist diese Liebe, lauter Wahrheit; nur der Begeisterte fühlt ihre Kraft, ihren Segen. Alles bringt sie dem Menschen; denn die Gesandte, die Priesterin Gottes ist sie. Ohne sie ist nichts Edles auf Erden, nichts Gutes und Großes. Ohne sie ist kein Leben. Ihr warmes Licht aber, das klare keusche, fällt nur in zarte Seelen, durchdringt sie ganz, macht sie unendlich durchsichtig, läutert und reinigt sie überschwänglich.

Voll Glauben ist sie; sie läßt uns erkennen Gott in unserm Innern und zeigt uns, wie alles, was ist, durch ihn, durch sie ist, und erfüllt von ihm allein Natur, Schöpfung und unsern eignen Busen.

Uneigennützig ist sie. Siehe, wie sie lächelt, die Unsterbliche, aus dem Auge der Mutter, wenn sie den Säugling an den Brüsten tränkt! Geben und Nehmen, das wird ihr zu Einem.

Ich lernte lieben, lieben aus ihrem Auge, ihrem Kusse, lieben aus ihrer Seele, ihrem Geiste.

Ihn lernt' ich erkennen, fassen, lieben, den alten ewigen Geist, den wandellosen, der alles Dasein schafft und gibt, den Vater des Maßes, das Maß selbst, den Urheber alles Lichts, das Licht selbst, die Urkraft und das Urleben, der die Weisheit erfand, ihn, den Alleinigen, Unerschaffenen, ihn, die Liebe, die Wahrheit.

O, richtet nicht!

Ich weiß ja wohl, es ist nichts leichter als urteilen und verdammen. Tausendmal wird gerichtet, bis einmal der Richter versteht, was er zu richten[114] wagt. Er braucht, um vieles zu erkennen, eine Kraft, ein angeborenes Etwas, das man nicht lernen, nicht erwerben kann.

Menschen, die keine Leidenschaften haben, weil sie ohne Herz, ohne Kraft sind, predigen der Jugend, mit ihren Wünschen, ihren Trieben der Vernunft nicht zu entlaufen!

Ich sagt' es Dir schon hundertmal: solch eine Ruhe will nichts heißen. Der sich mit seiner Kühnheit brüstet und keinen Feind noch sah, der ist kein Held. Aber der ist ein Mann, der sich bewegt durchs wildeste Gedränge.

Wunden! Wunden! Laß sie bluten! Eine Brust ist stark. Du bist doch ein Mann. So zu bluten, das ist groß!

Mich laßt nur irren! O, ich bin glücklicher als Ihr auf Eurer rechten Bahn. Nicht bedauern dürft Ihr mich, weil ich irre, Ihr Klüglinge, Ihr Selbstgefällige! Beneiden müßt Ihr mich! Ach, solch ein Irren ist mehr als all Euer Fortschlendern!

Quelle:
Wilhelm Waiblinger: Phaeton. Teil 1 und 2. Dresden 1920, S. 112-115.
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