Zweites Lied

[71] Deutsches Liebchen.


Sie.


Wilhelm, ach so lange Jahre

Hab' ich deiner nun gewartet,

Meine Freuden dir geopfert,

Meine Schmerzen dir verziehen,

Meine Seelenangst besänftigt,

Hing so lang, so treu an dir,

Und du liebest eine andre?


Sagtest du in schönen Zeiten

Nicht so oft, in deinen Augen,

Liebes Herz, ist meine Liebe,

Wie im Meeresgrund verschwommen.

Meintest du damit die Thränen,

Die ich weine, sättigt sich

Deine Liebe nur in Thränen?
[71]

Was hab' ich um deinetwillen

Nicht ertragen und erduldet;

Nur um einen Kuß den Jammer

Meiner Mutter, deiner Feinde

Grimmen Haß auf mich geladen,

O wie treu hab' ich geliebt,

Und du liebst nun eine andre?


Hab' ich nicht den Schimpf der Bosheit,

Nicht die Schmähungen der Rache,

Nicht Verleumdung und Mißhandlung

Dir zu Liebe still erlitten,

Nur geweint in meiner Kammer,

Und an dich gedacht, erfreun

Deine Liebe denn nur Thränen?


Selbst die Eifersucht, ich habe

Sie für dich bekämpft, ertragen,

Daß so oft der großen Freundin

Fürchterlich Geschick und Leiden

Selbst in meinem Arm dich schreckte,

Trug es willig, blieb dir treu,

Und du liebst nun eine andre?


O ein Wort, ein Blick genügte

Mir für all' den Seelenkummer,

Niemals hab' ich ja gefordert,

Daß du zum Altar mich führest,

Nur gehofft hab' ich's, gewünschet

Im geheimsten, und geglaubt,

Deine Liebe trockne Thränen.


Meine Ruhe, meinen Frieden,

Hab' ich für dich hingegeben,

Nur gezittert, wenn von Ruhmgier,

Künft'gen Thaten du gesprochen,[72]

Nur gebebt, wenn so gewaltig

Sich dein Geist erhob, doch treu

Bin ich immer dir geblieben.


Alles hab' ich dir verziehen,

Wie sie auch dich mir verleumdet,

Wild und gottlos dich geschildert,

Nur dem Guten, nicht dem Schlimmen,

Hab' ich fromm geglaubt, du konntest

Irren doch nicht freveln, nicht

Deine Lieb' in Thränen weiden.


O zuweilen meint' ich freilich,

Daß zwei Seelen in dir wohnten,

Allen bösen Höllengeistern

Sei die ein' anheim gefallen.

Doch die andre gut und menschlich,

Diese liebt' ich, blieb ihr treu,

Und du liebst nun eine andre?


Wilhelm, laß mich denn die letzte

Sein von deinen armen Opfern!

Was kann ich noch thun? Zu lieben,

Du vergönnst mir's nicht! Vergeben

Will ich dir! Fang' endlich einmal

An zu lieben, bleib' ihr treu,

Und vergiß nun meine Thränen.

Quelle:
Wilhelm Waiblinger: Gedichte aus Italien, Band 1: Lieder des Römischen Karnevals und andere Gedichte, Leipzig 1893/1895, S. 71-73.
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