Die zweiundsechzigste Fabel.

Vom Schafhirten und den Ackerleuten.

[98] Es hüt ein knab auf einer wisen,

Ließ seine schaf und ziegen bisen.

Scherzweis rief er drei oder vier:

»Der wolf, der wolf komt jetzt dorther!«

Das gschrei horten die ackerleut,

Die umb in warn zur selben zeit;

Wiewol der knabe schimpflich rief,

Dennoch ein jeder baur zulief.

Als sie nun sahen, daß der knab

An ir laufen ein lachen gab[98]

Und sie damit nur reizen tet,

Daß er den wolf gesehen het,

Sprachen: »Des haben wir auch gnug.«

Ein jeder gieng zu seinem pflug.

Zu hand des knaben scherzes art

In rechten ernst verwandelt ward.

Der wolf kam laufen zu den schafen;

Da schrei der knabe: »Waffen, waffen!

Komt mir zu hilf, der wolf ist hie!«

Da blieben bstehen alle, die

Dazumal auf dem acker warn,

Sprachen: »Hast uns genarrt zuvorn,

Daß wir umbsunst gelaufen zu;

Des magstu auch entgelten nu.«

Horatius ein buben blacht,

Der sich oft krank fürn leuten macht,

Kam mit einr stelzen einher krochen,

Als ob er het ein bein zerbrochen.

Damit er oft die leut benarrt,

Biß mans zuletst auch innen ward.

Darnach on gfer ein mal geschach,

Daß er auch recht ein bein zerbrach.

Er rief die leut erbermlich an,

Da spottet sein auch jederman,

Umbsunst er aller hilfe harrt;

Sprachen: »Hast uns zuvorn genarrt,

Als hetstu ein zerbrochen bein,

So hab dir diß und bhalts allein.«

Wer seinen nehsten oft betreugt,

Zwei oder drei mal im vorleugt,

Der schafft damit, daß im hinfort

Seiner red nicht geglaubt ein wort.

Wenn er auch schon die warheit brengt,

Dennoch der vorigen lügen denkt;

Die vorige lůg vernichten tut,

Was gegenwertig ist recht und gut.


Quelle:
Burkard Waldis: Esopus. Erster und zweiter Theil, Band 1, Leipzig 1882, S. 98-99.
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