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[136] Ein entlassener Arbeiter hatte eines Abends dem aus der Stadt zurückkehrenden Automobil des Herrn Albrecht Wahnschaffe aufgelauert. Als der Wagen am Parktor langsamer fuhr, hatte der Mensch aus meuchlerischem Hinterhalt, von Gebüschen gedeckt, einen Revolver auf den ehemaligen Brotherrn abgedrückt.

Der Schuß streifte nur den Arm des Überfallenen. Die Verletzung war leicht, doch Albrecht Wahnschaffe hütete mehrere Tage lang das Bett. Nach verübter Tat war der Verbrecher im Dunkel des Abends entflohen; erst am andern Morgen gelang es der Polizei, ihn festzunehmen.

Dieses Ereignis, so unbeträchtlich seine Folgen waren, hatte das fröhliche Treiben im Hause Wahnschaffe für eine Weile gestört. Einige Personen reisten ab; so Herr von Wedderkampf, der zu seinen Töchtern sagte, der Boden unter den Füßen sei ihm hier zu heiß.[136]

Aber am dritten Abend wurde schon wieder getanzt.

Christian wunderte sich darüber. Er wunderte sich über das rasche Vergessen. Er wunderte sich über den Gleichmut der Mutter, über die Unbekümmertheit von Bruder und Schwester.

Er wollte den Namen jenes Arbeiters erfahren, aber niemand wußte ihn. Der eine sagte, er heiße Müller, der andre sagte, er heiße Schmidt. Er wunderte sich darüber. Auch der Beweggrund, der den Mann zu seiner Tat getrieben, war keinem genau bekannt. Der eine sagte, es sei Rachsucht gewesen, Frucht systematisch geschürten Klassenhasses; der andre sagte, nur ein Irrsinniger sei zu solcher Tat fähig.

Mochte es sich so verhalten oder so, der Schuß aus dem Hinterhalt, von einem Unbekannten abgefeuert, aus unbekannter Ursache geplant, war für Christian nicht ganz dasselbe, was er für alle andern war, die rings um ihn lebten und sich nach wie vor vergnügten, jeder nach seiner Art. Er war für ihn ein Anlaß zum Nachdenken, einem zwar ziel- und fruchtlosen, aber ernsten und sonderbar leidenden Nachdenken.

Er hätte gern den Mann gesehen. Er hätte gern sein Gesicht gesehen.

Crammon sagte: »Wieder ein Fall, wo sich sonnenklar erweist, daß man mit der Abschaffung der Folter nichts erreicht hat, als daß die Kanaille frech geworden ist. O, was war so ein spanischer Stiefel oder eine Daumenschraube, was waren das für herrliche Erfindungen der Humanität und Disziplin!«

Christian besuchte seinen Vater, der in einem Lehnstuhl saß, mit verbundenem Arm, die breit auseinandergefaltete Kreuzzeitung vor sich. Herr Wahnschaffe sagte: »Ich hoffe, daß ihr euch in keiner Weise Zwang auferlegt, du und deine Freunde. Ich wäre untröstlich, wenn ich schuld wäre, daß die Laune meiner Gäste nur um einen Hauch sich trübt.«

Christian wunderte sich über diese Höflichkeit, diese vornehme Gemessenheit, diese liebenswürdige Rücksicht.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 136-137.
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