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[137] Im tiefen Wald, unter Ruinen, forderte Stephan Gunderam von Lätizia die Entscheidung über sein Schicksal.

Man hatte in großer Gesellschaft einen Ausflug unternommen, Lätizia und ihr Anbeter waren zurückgeblieben, und so war es geschehen.

Ringsum ragten alte Stämme und uraltes Gemäuer, über den Baumwipfeln spannte sich der blaßblaue Herbsthimmel, im dürren Laub lag auf den Knien ein Mann und schwor mit Anwendung erhabener und maßloser Worte seine ewige Liebe. Dem allen vermochte Lätizia nicht zu widerstehen.

Stephan Gunderam sagte: »Verweigern Sie mir Ihre Hand, so bleibt mir nur die Kugel übrig. Sie ist für diesen Zweck schon längst bereit. Beim Leben meines Vaters, ich spreche wahr.«

Wer, so weich und so verführbar wie Lätizia, mag Blutschuld auf sich laden? Und sie gab ihr Ja. Sie dachte an keine Fessel, sie dachte nicht an das Unverbrüchliche eines solchen Entschlusses, sie dachte nicht an die Zeit und an das Spiel der Folgen, sie dachte nicht an den, dem ihre Seele zu eigen war; sie dachte nur an den Augenblick und daß da ein Mensch war, welcher erhabene und maßlose Worte zu ihr sagte.

Stephan Gunderam sprang auf, riß sie in seine Arme und stammelte: »Von nun an bis in die Ewigkeit gehörst du mir. Dein Atem, dein Gedanke, dein Traum mir, nur mir! Vergiß das nicht! Vergiß es nie!«

»Laß mich los, du Schrecklicher,« sagte Lätizia mit einem Schauer des Entzückens. Sie fühlte sich von einer Welle von Romantik lustvoll getragen. Ihre Nerven gerieten in Schwingung, der Blick flimmerte und brach; zum erstenmal regte sich Verlangen des Blutes. Leise aufschreiend glitt sie aus Gunderams Armen.

Schon auf dem Heimweg konnte das Paar die Glückwünsche[138] der Gesellschaft entgegennehmen. Crammon schlich still beiseite; als Christian kam und Lätizia die Hand reichte, war in ihren Augen eine unruhige Erwartung, etwas phantastisch Freudiges, das Christian durchaus nicht begriff. Er konnte durchaus nicht ergründen, was sich hinter dieser Miene verbarg. Er konnte nicht erraten, daß sie dem, welchem sie soeben ihr Leben anvertraut hatte, den Atem, den Gedanken und den Traum, sich treulos schon jetzt entzog, und daß sie dies ihm, Christian, auf ihre Weise, die eine unschuldige und törichte Weise war, zu verstehen gab.

Er liebte sie, von Stunde zu Stunde wuchs seine Liebe. Er empfand es fast wie ein inneres Gesetz, daß er sie lieben sollte; ein Auftrag, der ihm befahl: an diese wende dein Selbst; eine Botschaft, die ihm ausrichtete: in dieser finde dich.

Er glaubte Evas Stimme zu vernehmen: Von mir war der Weg zu ihr; hab ich dich fühlen gelehrt, so gib dort dein Gefühl, wo ein Herz in Bereitschaft ist; dort forme, dort werde, dort wirke; laß es nicht vergehen, laß es nicht sinken und verglühen.

So oder ähnlich sprach die Stimme.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 137-139.
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