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[139] Crammon, der Verhärtete, hatte einen Traum, worin ihm jemand Vorwürfe machte, daß er untätig zuschaue, während man sein Fleisch und Blut an einen argentinischen Viehzüchter verkuppele.

Infolgedessen ging er zur Gräfin und fragte sie, ob sie wirklich gesonnen sei, das unmündige Kind in die Länder der Wilden zu schicken. »Ist Ihnen nicht bange, wenn Sie daran denken, wie verlassen das Kind in diesen äußerst südlichen Regionen dastehen wird?« fragte er und rieb die Hände rollend umeinander, was ihm das Aussehen eines alten Wucherers verlieh.[139]

»Was fällt Ihnen ein, Herr von Crammon?« erwiderte die Gräfin entrüstet, »mit welcher Befugnis stellen Sie mich zur Rede? Wissen Sie vielleicht einen besseren Freier, einen, der reicher, vornehmer, repräsentabler ist? Meinen Sie, nur in Europa könne man glücklich sein? Ich habe mir die Leute genau angesehen, denn sie sind uns ja schockweise nachgelaufen, in Interlaken, in Aix-les-Bains, in Genf, in Zürich und in Baden-Baden; Alte und Junge, Franzosen, Russen, Deutsche und Engländer, Grafen und Millionäre. Daß wir nicht von vornherein auf das Exotische versessen waren, wird Ihnen Ihr Freund Christian bezeugen, der sich wahrscheinlich zu gut für uns gedünkt hat. Kummer genug, daß ich mein Liebchen über den Ozean lassen muß, Sie sollten mir nicht auch noch das Herz schwer machen.«

Aber Crammon war nicht zu rühren. »Überlegen Sie sich die Sache noch einmal genau,« sagte er, »es ist ein verantwortungsvoller Schritt. Bedenken Sie, daß es dort Giftschlangen geben soll, deren Biß innerhalb fünf Sekunden tötet. Ich habe von Stürmen gelesen, die die stärksten Bäume mit den Wurzeln ausreißen und neun Stock hohe Häuser umwerfen. Gewisse Volksstämme, die sogenannten Feuerländer, huldigen noch dem Kannibalismus, soviel ich weiß. Ferner existiert eine Gattung Ameisen daselbst, die auch den Menschen überfällt und ihn mit Stumpf und Stiel verzehrt. Die Hitze im Sommer soll nicht zu ertragen sein, die Kälte im Winter desgleichen. Es ist eine unwirtliche Gegend, Gräfin, eine schmutzige Gegend mit gefährlichen Einwohnern; überlegen Sie sich die Sache noch einmal.«

Die Gräfin war bestürzt. Der Wirkung seiner Worte froh, entfernte sich Crammon erhobenen Hauptes.

Am Abend, Lätizia lag schon zu Bett, ging die Gräfin mit unter der Brust gekreuzten Armen im Zimmer des jungen Mädchens auf und ab. Ihr Gewissen war beschwert, sie wußte[140] aber nicht recht, wie sie das Gespräch beginnen sollte. Sie hatte den ganzen Nachmittag Briefe und Verlobungsanzeigen geschrieben und war jetzt müde. Puck, das Löwenhündchen, saß im Nebenzimmer auf einem seidenen Kissen und kläffte bisweilen grundlos.

Lätizia schaute mit feuchtglänzenden, schwelgerischen Augen in den dämmernden Raum über sich. Man hätte ihre Haut mit einer Nadel ritzen können, sie hätte es nicht gespürt.

Endlich überwand sich die Gräfin. Sie nahm einen Stuhl, setzte sich an das Bett und ergriff die Hand Lätizias. »Ist es wahr, Liebchen,« fing sie an, »ist es wahr, was Herr von Crammon berichtet, hat dir Stephan auch davon gesprochen, von den giftigen Schlangen, den Menschenfressern, den Orkanen, den wilden Ameisen und der schauerlichen Hitze und Kälte, wovon das Land heimgesucht sein soll, in das du gehst? Wenn es sich so verhält, möchte ich dich bitten, den Schritt, den du unternimmst, noch einmal gründlich in Erwägung zu ziehen.«

Lätizia lachte, tieftönig und herzlich. »Wie, Tante, jetzt kriegen Sie es mit der Angst?« rief sie aus; »jetzt, wo ich mir schon die ganze Zukunft ausgemalt habe? Crammon hat sich einen unpassenden Scherz mit Ihnen erlaubt, das ist alles. Stephan sagt niemals eine Lüge, und seiner Schilderung nach ist Argentinien das Paradies auf Erden. Hören Sie nur, Tantchen,« sagte sie geheimnisvoll, rückte an den Rand ihres Lagers und sah die Gräfin zutraulich und entzückt an, »Pfirsiche gibt es dort, so groß wie Kinderköpfe, schmackhafter als man sichs träumt, und in solcher Menge, daß man die, die man nicht essen und verkaufen kann, zu Hügeln aufschichtet und verbrennt. Wildbret jeder Art, Tantchen, köstlich und in Zubereitungen, die hier ganz unbekannt sind; Fische, Geflügel, Honig, die seltensten Gemüse, alles, was man nur will und was das Herz begehrt.«

Die Miene der Gräfin hellte sich auf. Sie streichelte Lätizia[141] über den Arm und sagte: »Dann freilich; wenn dem so ist, dann freilich ...«

Lätizia aber fuhr fort: »Hab ich mich einmal eingelebt und die Verhältnisse kennengelernt, so schreib ich Ihnen, Tante, und Sie müssen zu uns kommen. Da werden Sie dann ein Haus für sich bewohnen, eine reizende Villa, die von Blumen überwachsen ist. Die Vorratskammern sollen jeden Tag frisch gefüllt werden, und neben Ihrem Schlafzimmer wird ein marmornes Badebecken sein; sooft Sie Lust haben, können Sie sich darin ausstrecken, und schwarze Sklavinnen werden zu Ihrer Bedienung bereit stehen.«

»Gewiß, Liebchen,« antwortete die Gräfin mit verklärtem Gesicht, »denn Paradies oder nicht Paradies, das eine wird wohl unter allen Umständen zutreffen: schmutzig wird es sein, und Schmutz, du weißt es ja, Schmutz ist für mich fast so arg wie Giftschlangen und Menschenfresser.«

»Haben Sie keine Sorge, Tantchen,« sagte Lätizia, »wir werden dort ein herrliches Leben führen.«

Die Gräfin war beruhigt und umarmte Lätizia mit überströmendem Dank.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 139-142.
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