21

[241] Amadeus Voß wohnte in Zehlendorf in der Alsenstraße, bei der Radrennbahn, im Giebelzimmer eines Neubaus. Man blickte auf Wiesenland, das von Kieferngehölz begrenzt war; aus der grünen Fläche erhob sich eine riesige Reklametafel, auf der mit riesigen Lettern stand: Zehlendorf-Grunewald-Aktien-Gesellschaft.

»Das haben sie in den letzten acht Tagen hier aufgerichtet, damit ich nicht über die Stränge schlage,« sprach Voß; »es ist ein ausgezeichnetes Memento übrigens; ich höre, diese Aktiengesellschaft will eine Kirche auf ihrem Terrain bauen. Ausgezeichnet. Eine Glockengießerei haben wir auch in unmittelbarer Nachbarschaft.«

Johanna saß an der andern Seite des Fensters, durch welches die Sonne hereinschien, die sie suchte. Ihr kleines Gesicht war abgemagert; der schön geschwungene Mund, um den eine süße Traurigkeit lag, verlor an Reiz durch die häßlich vorhängende Nase. »Du könntest dich ja als Laienpriester verdingen,« sagte sie frech und baumelte mit den Beinen wie ein Schulmädchen; »oder glaubst du, daß sie das Geschäft protestantisch führen werden? Natürlich, hier ist man ja protestantisch. Warum bekehrst du sie nicht, die Ungläubigen? Deine besten Talente läßt du verkümmern.«

Voß machte eine Grimasse. Mit seinen ziehenden Schritten ging er in dem atelierartig großen Raum umher. »Der Freigeisterei wird jeder Glaube zum Schachergut, das ist klar,« bemerkte er bitter. »Was spottest du? Spottest deiner selbst. Siehe nun wohl zu, daß nicht das Licht, das in dir ist, Finsternis sei, heißt es im Evangelium. Aber was gilt dir das: Evangelium? Eine gebildete Phrase. Schachergut.«

Johanna, den Kopf in die Hand gestützt, flüsterte unhörbar vor sich hin: »Wie gut, wie gut, daß niemand weiß, daß ich Rumpelstilzchen heiß.« Laut sagte sie: »Schlechte Zensuren[242] bekomm ich. Strafarbeit. Setzen Sie sich, Schülerin Johanna; Ihre Faulheit riecht bis an mein Katheder.«

»Hast du nie geglaubt?« fragte Amadeus, vor ihr stehenbleibend; »hat es dich nie angerührt, das namenlose Wesen? Haben dich die Schauer vor ihm nie erbeben gemacht? Kennst du die Ehrfurcht nicht? Aus was für einer Welt mußt du sein!«

Johannas Gesicht zuckte von Sarkasmus. »Wir sind den ganzen Tag damit beschäftigt, ums goldne Kalb zu tanzen,« antwortete sie; »Urahne, Ahne, Mutter und Kind. Stell dir das einmal vor. Schwindelerregend.«

Unempfindlich gegen ihren Hohn, in welchem die gebrechliche und geistreiche Anmut ihrer Natur zum Ausdruck kam, heftete Voß seinen Blick voll düsterer Leidenschaft auf sie. »Glaubst du wenigstens an mich?« fragte er und umschlang ihre Schultern.

Sie bäumte sich, sträubte sich, drückte die Hände wider seine Brust und bog den Kopf zurück. »An nichts glaube ich, an nichts,« sagte sie bebend, »an mich nicht, an dich nicht, an Gott nicht, an nichts. Du hast recht, an nichts.« Ihre Brauen verzogen sich schmerzlich, doch wie jedesmal, wenn er sie nahm und packte, erlag sie der Glut. Es war das Letzte der Erde und des Lebens; die letzte Betäubung; Schwäche, die Vernichtung will. Die spröde Lippe wurde weich und erschloß sich, die Lider fielen zu.

Amadeus, mit der Kraft des Verwilderten, hob sie ganz auf seine Arme. »An dich nicht, an mich nicht, an Gott nicht,« murmelte er, »aber an ihn? An ihn auch nicht? Sprich, an ihn auch nicht?«

Sie schlug die Augen wieder auf. »An wen?« fragte sie erstaunt.

»An ihn!« Er preßte die zwei Worte gequält hervor. Sie begriff. Mit der glatten Bewegung einer Schlange löste sie sich aus seinen Armen.[243]

»Was willst du?« fragte sie und ordnete mit nervösen Gebärden ihr reiches, braunes Haar.

Und er: »Ich will wissen. Ich will endlich wissen. So ist das nicht länger auszuhalten. Was ist geschehen? Wie kamst du zu dem Du in jenem Briefe? Was bedeuteten die Intimitäten: hast du mich schon vergessen? Darf ich noch darnach fragen? Ihr habt das gewisse Spiel miteinander getrieben, selbstverständlich, das geile, gefährliche Spiel der Motten um die Lampe; so dumm bin ich nicht, daß ich das nicht erraten hätte; aber wie weit habt ihr euch vorgewagt? Bis zum Zylinder oder bis zum Docht? Und als er dich stehen ließ, was hattest du für Forderungen an ihn? Was war er dir? Was ist er dir?«

Es war zum erstenmal, daß Voß davon redete. Es hatte ihn gewürgt; er hatte lauernde Fangfragen gestellt, Johannas Mienen erforscht, ihr Ablenken beargwöhnt, ihre zarte Scheu respektiert, und alles hatte die Ungeduld und den Verdacht gesteigert. Die Finger einer Hand um das Kinn verkrampft, hager und wunderlich schwankend stand er da.

Johanna schwieg. Ein Lächeln, halb spöttisch, halb leidend, irrte um ihre Lippen. Sie wünschte sich weit weg.

Voß fuhr knirschend fort: »Denke nicht, daß es Eifersucht ist. Und wenn es Eifersucht ist, vielleicht gibts kein andres Wort dafür, gehört sie nicht zu den Begriffen, in denen du aufgewachsen bist wie in einem vergifteten Ziergarten. Warum warst du nicht offen? Bin ich nicht wert, daß du mit mir offen bist? Hast du mein stummes Betteln nicht gespürt? Um was es geht, brauch ich dir nicht auseinanderzusetzen; ahntest dus nicht, so hättest du keine Angst davor. Ein Mensch wie ich, den äußerer Dienst und innerer Gehorsam von frühe an ein Ideal von Keuschheit gelehrt, das erhabene und heilige des Glaubens, den nur die Verzweiflung über die unerreichbare Himmelsferne dieses Bildes in die Sündenkloake getrieben hat, der muß ein andres Gewicht auf Unschuld und[244] Unberührtheit legen als eure Herrchen, eure eleganten Bezwinger, eure gedrillten Löwen. Die Sünde, da steht sie, da vor dir steht sie, voll Unrat und voll Jammer; du könntest Erlösung bringen, also rede. Die Beichte, da drin ist sie, da drin in meiner Brust schreit sie. War ich zu sparsam damit? Bekommt sie nicht geradezu eine schamlose Fratze neben deiner hoffärtigen Verschlossenheit? Kann ich denn bloß deine Sinne aufreizen, du heidnisches Menschlein, nicht auch deine Eingeweide und dein Herz? Beichte, oder ich reiß es mit Zangen aus dir heraus! Soll ich deswegen geharrt und entbehrt haben, daß man mich mit dem abspeist, was ein andrer übriggelassen hat, weil er satt war? Hast du mit ihm geschlafen? Rede. Hast du mich um deine Jungfrauschaft betrogen? Mit ihm betrogen, der mich ohnehin um alles betrogen hat? Rede!«

Johanna, stammend entrüstet, griff nach Hut und Mantel und ging. Er ließ sie gehen, starr. Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, und er vernahm ihre sich entfernenden Schritte, so jagte er ihr nach, kehrte wieder um, holte seine Mütze und stürzte zur Treppe. Als sie das Haus verließ, war er schon an ihrer Seite. »Hör mich an,« stammelte er, »verurteile mich nicht.« Sie ging rascher, ihm zu entfliehen; er wich nicht. »Das Gesagte mag schroff klingen, Johanna, brutal sogar; dahinter ist die demütigste Liebe.« Sie schlug die Straße zum Bahnhof ein; er vertrat ihr den Weg. Wenn sie fahre, werde er Gewalt anwenden, drohte er. Passanten wurden aufmerksam; um einen öffentlichen Skandal zu vermeiden, mußte sie umkehren. Sie bat: »Erlaß mir wenigstens das Haus; ich kann nicht mehr im Zimmer bleiben; sprechen wir im Gehen; aber nicht so nah, die Leute lachen ja.«

»Die Leute, die Leute; die Welt ist voller Leute; sie wissen von uns nicht mehr als wir von ihnen. Sag, daß du vergibst, und ich will so gleichmütig sein, als käm ich von einer Skatpartie.« Er war bleich bis in die Stirn.[245]

Sie gingen in nasser Schneeluft, auf nasser Erde. Die Straße endete in einen Feldweg. Über der untergehenden Sonne stand ein zersetzter Wolkenhimmel in Rot, Gelb, Grün und Blau. Ein Schnellzug donnerte hart an ihnen vorbei. Elektrische Signale himmelten. Es war ermüdend, über das schlüpfrige Laub zu gehen, doch der feuchte Wind kühlte das Gesicht.

Amadeus brachte Erklärungen vor. In der Selbstverteidigung fand er über sich, den Verstoßenen und Getretenen, das letzte, gepeinigte Glied einer Kaste und Geschlechterfolge von Verstoßenen und Getretenen, die unerhörten Worte, die Johanna niederbeugten und ihre Willenskraft knickten. Er sprach von seiner Liebe zu ihr, diesem schrecklichen Sturm im Blut, von dem er Reinigung, Bindung, Befreiung erhofft und der ihn statt dessen verwüste und zerstücke. Das sei wie Zweifel an Gott. Wenn man als sehr junger Mensch an Gott zweifle, breche die Welt in Trümmer, alles Leben sinke in die Agonie. So ergehe es ihm. Diese Nächte, wo man um Stillung lechze und das Dunkel zum Abgrund werde, aus dem tausend purpurne Zungen spritzten!

Ein Geblendeter, der sich im Kreis bewegt, fing er wieder an, zu fragen, vorsichtig und schlau zuerst; dringlich und inbrünstig dann; wies auf belastende Umstände, auf Zusammenhänge, die die Phantasie beunruhigten, appellierte an das Mitleid, an die Redlichkeit, an einen verschütteten Funken von Frömmigkeit, schilderte abermals seinen Seelenzustand, bettelte mit aufgehobenen Händen, verstummte, sah finster vor sich hin, verstört und hilflos.

In Johanna hatte anfangs das Erstaunen darüber vorgeherrscht, daß ihre Beziehung zu Christian, die für sie in der Vergangenheit lag wie in goldenem Schimmer, ihm nicht etwas Sonnenklares war. Hätte er es so aufgefaßt und das Geschehene als selbstverständlich vorausgesetzt, so hätte sie sich vielleicht harmlos dazu bekannt. Aber seine Wildheit[246] und Gier reizten sie zum Trotz, erregten ihr Furcht, immer mehr; jeder neue Angriff machte sie unzugänglicher; plötzlich hatte sie ein Geheimnis vor ihm zu schützen; plötzlich war es Geheimnis, tiefes, stolzes; es preiszugeben konnten sie keine Beteuerungen und Verfolgungen mehr zwingen; die guten Schicksalsgeister sprachen ihr Veto dagegen; es war ein Besitz, den sie sich nicht rauben lassen durfte, von ihm nicht, der Schuld und Schimpf darin erblickte, dem sie ohne Segnung verfallen war. Und sie errichtete Dämme, war bereit, zu kämpfen, zu lügen, das Häßliche und Widrigste zu dulden, Bezichtigung und Erniedrigung.

So kam es auch. Seine Besessenheit sammelte sich in dem einen Punkt. Jeder Blick forschte greulich, jedes Wort sondierte, hinter jeder Zärtlichkeit und Berührung war die eine Frage. Sie wich aus; er wurde rasend. Sie wollte ihn besänftigen; er warf sich hin und küßte ihre Füße. Sie erbarmte sich und täuschte ihn für die Dauer einiger trunkener Stunden mit den frei erfundenen Einzelheiten einer platonischen Schwärmerei. Er schien zu glauben, warb um Verzeihung, verhieß Besserung, Schweigen, Schonung. Aber es verstrich kein Tag, und das Unwesen begann von neuem. Sein Auge war vom Mißtrauen geätzt; Christian Wahnschaffe war der Feind, der Dieb, der Widersacher. Was war zu der und der Zeit? Was hast du ihm da und da gesagt? Was hat er geantwortet? Woher kam er? Wohin ging er? Hat er das Letzte von dir verlangt? Hast du ihn geküßt? Einmal? Viele Male? Hast du gewünscht, daß er dich küsse? Wo warst du allein mit ihm? Wie sah das Zimmer aus? Was für ein Kleid trugst du? Rettungslos; eine Schraube, die sich einbohrt. Johanna stieß ihn von sich. Sie höhnte; sie seufzte; sie schlug die Hände vors Gesicht; sie weinte; sie lachte; und sie wich nicht um Haares Breite.

Ermattung stellte sich ein. Ost war sie so erschöpft, daß sie vom Morgen bis zum Abend auf einem Sofa lag, blaß und[247] still. Sie ließ sich von ihren Verwandten in Gesellschaften schleppen, in Theater, Konzerte, Galerien; mit erloschenen Blicken und frierender Gleichgültigkeit fühlte sie sich als Beute lästiger Forderungen. Die Sympathie, die ihr die Menschen entgegenbrachten, war lästig; was gab das noch, wenn man sich so grimmig verachtete? Diese selbstmörderische Verachtung war die schneidende Waffe, die sie gegen ihre Brust kehrte, der ritzende Stachel ihres Witzes. Ihre Aussprüche wurden verbreitet, ergötzten ganze Zirkel; einmal schilderte sie, wie sie an einem See gebadet und wie ein jäher Windstoß die Badehütte samt Dach und Tür über ihren Kopf davongetragen; »und,« schloß sie, »ich stand nackt da, wie mich Gott in seinem Zorn erschaffen hat.«

Ihr Abscheu vor dem, der ihr Geliebter war, stieg zu einem Grade, daß es sie wie Frost schüttelte, an ihn zu denken, daß sie heimlich seine Gebärde äffte, seinen Tonfall, seine Pastoralen Floskeln, seinen heißhungrigen Blick. Sie hielt Verabredungen nicht ein, fuhr nicht hinaus zu ihm, wenn sie es versprochen hatte. Da schickte er Telegramme, Rohrpostbriefe, Boten, stand Wache vor dem Tor, redete die Dienstleute an, bis sie, außer sich, zu ihm ging und in ihrer Empörung unbesonnene Worte sagte, die eiskalt klangen. Er wurde Schulamtskandidat, spielte den Reuigen, war es auch, und die Angst, sie zu verlieren, riß ihn zu Worten hin, in denen sich Wahnsinn mit Teuflischem mischte.

Sie verfiel; sie schlief und aß kaum noch. Wieder und wieder beschloß sie, allem ein Ende zu machen und abzureisen. Aber da war ein andres. Da waren sinnliche Lockungen von perverser Art. Ihr feiner, verfeinerter Körper, ihre zarte, überzärtelte Seele, diese verletzliche Haut, diese inneren Membrane, sie bogen sich in kränklich süßer Sehnsucht Grausamem zu, einer mysteriösen Wollust, die in Sklaverei und Schändung enthalten war, dem Äußersten, Verruchtesten, was leiden machte, dem Verbotensten, was berauschte und betäubte.[248]

Es war ein Abend, da kauerte sie halbentkleidet auf einem Schemel, mit offenen Haaren, die üppig über die schmalen Schultern flossen, das Haupt zwischen flachen Händen, mit dem Ausdruck eines trostlosen Harlekins, bleich und still. Amadeus Voß saß am Tisch, hatte die Arme verschränkt und blickte ins Lampenlicht. Dies Alleinsein zu zweien, ohne Welt, ohne Würde, ohne Glück, es hatte für Johanna etwas Unerbittliches, Existenz von Sträflingen, die an eine Kette geschmiedet sind. Plötzlich erhob sie sich, raffte ihr Haar, und während sie es graziös aufsteckte, sagte sie in ihrer skurrilen Trockenheit: »Treten Sie ein, meine Herrschaften, hier ist zu sehen großer Maskenscherz. Das Neueste und Modernste. Garantierte Sensation. Geht unter kolossaler Spannung vor sich. Enthüllung der Geheimnisse männlicher und weiblicher Psyche. Überraschender Schlußeffekt. Nur immer hereinspaziert!«

Sie trat vor den Spiegel, schaute ihr Bild an, als kenne sie es nicht, und machte eine komische Verbeugung.

Amadeus Voß senkte den Kopf und schwieg.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 241-249.
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