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[171] Um zwei Uhr nachts erhob sich Christian vom Tisch, in Karens Stube, und klappte seine Bücher zu. Er ging zum Sofa, um sich in Kleidern hinzulegen. Karen hatte gegen[171] Abend starkes Fieber bekommen. Die Ärztin, an welche Ruth sich gewendet, war mittags dagewesen. Sie hatte von Knochentuberkulose gesprochen.

Auf einem hölzernen Sessel am Ofen lag zusammengerollt eine kleine weiße Katze. Sie war vor wenigen Tagen zugelaufen und hatte sich heimisch gemacht, da niemand sie vertrieb. Christian hatte von jeher einen Widerwillen gegen Katzen gehabt, er blieb einen Augenblick stehen und besann sich, ob er sie nicht aus dem Zimmer jagen solle. Sie betrachtend dachte er aber an andres.

Ruth, kleine Ruth, ging es ihm durch den Kopf.

Karen schlief schwer. In ihrem vom Lampenschein nicht mehr gestreiften Gesicht waren die Muskeln straff gespannt. Ein Traum wütete hinter der verfalteten Stirn. Im Munde sammelte sich ein furchtbarer Schrei.

Der Traum: sie stand vor einer Scheune, die hoch oben eine Luke hatte. Ein Mann und ein Weib waren eben dort verschwunden. Man wußte sofort, zu welchem Zweck. Zwei Burschen standen im Dunkel, halb unsichtbar. Die Träumende spürte erbost, daß sie lüstern waren, lüstern horchten. Sie selbst war von jenem sinnlichen Neid und Haß gequält, mit dem man Liebesfreuden andrer beobachtet. Das Blut kitzelte, das Herz schlug stark. Da schien die Scheune sich zu drehen, oder man wechselte unmerkbar den Platz. Die Scheune war offen; es fehlte einfach eine Wand. Aber nicht oben lag das Paar, wie man erwartet, sondern in der Tiefe. Der Mann war in Kleidern und bewegte sich in der Wollust, gleichmäßig wie eine Maschine; von dem Weib sah man nur schwarze Strümpfe im Stroh. Etwas unnennbar Ekles strömte von ihnen aus, erhitzte, süßliche Luft; die halb unsichtbaren Burschen, vom Veitstanz ergriffen, warfen sich aufeinander. Die Träumende wurde ihrer Grenzen beraubt; sie war nicht mehr Karen, sie war der sinnliche Dunst, sie war das Weib unter dem Mann, sie verirrte sich ins Stroh, ins braunrote Licht, in die schwarzen[172] Strümpfe; sie lag da, und ihr Leib schwoll auf, schwoll und schwoll zu einer gallertigen, graugelben Kugel, schwoll bis an das Dach der Scheune, die Kugel wurde durchsichtig, und in ihrem Innern sah man Eidechsen, Kröten, kleine rötliche Pferde, auf denen winzige Reiter saßen, Soldaten, Spinnen, Würmer, ein entsetzliches Gewimmel. Die ekle Gier, von der alles durchdrungen war, verwandelte sich in eine erstickende Qual; die Kugel zersprang, eine Leiche flatterte umher wie verbranntes Papier, ein weißer Schatten dehnte sich aus, Karen schrie gräßlich und fuhr, erwacht, aus den Knien empor.

Ihre erste Bewegung war der Griff nach den Perlen.

Christian trat an ihr Bett.

Verstört murmelte sie: »Du bist noch da? Was tust du denn?«

Er reichte ihr Wasser. »Mir hat geträumt,« sagte sie und nippte mit zitternden Lippen am Glas. Schon zerfielen die Elemente des Traums und entzogen sich dem Wort; im gleichen Maß nahm das Gefühl seiner Schrecklichkeit zu. In der Tiefe des Bewußtseins zuckte Todesfurcht.

»Mir hat geträumt,« wiederholte sie schlotternd. Nach einer Weile fragte sie: »Warum bist du noch wach, so spät? Was hast du denn den ganzen Tag gemacht, daß du in die Nacht hinein schuften mußt? Warum schuftest du dich so, sag mir?«

Er schüttelte den Kopf. Ruth, kleine Ruth, ging es ihm durch den Sinn. »War nicht deine Mutter heute bei dir?« fragte er und glättete das Kissen.

»Sag mir doch, was hast du den ganzen Tag über gemacht?« beharrte sie.

»Vormittag war ich in der Vorlesung.« – »Und dann?«

»Dann bin ich zu Botho Thüngen gegangen, er hatte dringend mit mir zu sprechen.« – »Und dann?« – »Dann bin ich mit Lamprecht und Jacoby bei einer Gerichtsverhandlung gewesen. Ein Dienstmädchen aus der Kurfürstenstraße[173] hat ihr Kind nach der Geburt erdrosselt.« – »Haben sie sie eingelocht?« – »Fünf Jahre Zuchthaus. Ich habe sie in der Zelle gesehen. Der Verteidiger hat uns zu ihr geführt. Lamprecht hat mit ihr gesprochen. Sie war wie irrsinnig. Sie sah mich immerfort an.« – »Und dann, wo warst du dann?« – »Dann hab ich Amadeus Voß getroffen. Er hat mir geschrieben.« – »Hat er Geld verlangt?« – »Nein; er hat verlangt, daß ich kommen soll, wenn Johanna Schöntag bei ihm ist.« – »Wer ist das?« – »Eine Freundin von früher.« – »Was will sie von dir?« – »Ich weiß es nicht.« – »Und dann?« – »Dann bin ich über Moabit und Plötzensee nach Hause gegangen.« – »Zu Fuß? Den weiten Weg? Und dann?« – »Dann war ich ja hier.« – »Aber nicht lange, und dann?« – »Dann war ich drüben bei Ruth.« – »Was tust du immerfort bei der Jüdin?« murmelte Karen mit finsterm Gesicht. »Gib mir deine Hand,« stieß sie plötzlich rauh hervor, streckte ihre Rechte hin und krampfte die Linke um die Perlen unter der Decke. An der Linken hatte sie sich verletzt. Als die Witwe Engelschall dagewesen war, hatte sich Karen mit den eigenen Fingernägeln verwundet, so angstvoll hatte sie nach dem versteckten Schmuck gegriffen.

Die Witwe Engelschall hatte ein erpresserisches Schriftstück an den Geheimrat Wahnschaffe abgefaßt und es Karen vorgelesen. Die Sache war die: Niels Heinrich hatte im Baubureau zweitausend Mark unterschlagen, die mußten beschafft werden, sonst drohte Anzeige. In dem Brief an den Geheimrat wurden unverschämt zehntausend gefordert. Da Karen die Absendung des Schreibens verhindern gewollt, hatte die Witwe Engelschall randaliert.

Es war fast gut, daß man krank war. Doch weshalb gab er ihr nicht seine Hand?

Die kleine Katze war vom Stuhl gesprungen; mit emporgerichtetem Schwanz stand sie vor Christians Füßen, zwinkerte leise miauend empor, schien unschlüssig, faßte plötzlich Mut[174] und sprang auf seine Knie. Einen Moment lang kämpfte er noch mit dem Widerwillen, dann reizte ihn das weiße Fell, die graziöse Bewegung, er berührte schüchtern Kopf und Rücken des Tierchens, beugte sich herab zu ihm und lächelte. Die kleine Katze gefiel ihm.

»Wo hast du mein Kind hingetan?« hatte Karen ihre Mutter gefragt. Die Antwort war schepperndes Gelächter gewesen. Wüßte er, daß sie nach dem Kind gefragt, er hätte sie vielleicht freundlich angeschaut. Aber sie konnte es nicht sagen. Auch war ihr bang, als sie sich des Gelächters erinnerte.

Eine Weile noch hielt sie stumm die Hand hin, dann ließ sie sie fallen, streifte die Decke zurück und kroch aus dem Bett. Sie wimmerte seltsam. Auf dem Bettrand sitzend, gegenüber Christian, starrte sie eisig und wimmerte. Man konnte die Worte kaum hören: »Er gibt einem nicht die Hand«; sie blies sie nur so hin. Barfuß, im langen Hemd, gebückten Rückens ging sie bis zum Ofen, kauerte sich dort in den Winkel, steckte den Kopf zwischen die Arme und heulte laut auf.

Erstaunt und erstaunter verfolgte Christian ihr Gehaben. Die kleine Katze hatte sich in seine Hand geschmiegt, und mit ihrem rosigen Schnäuzchen stieß sie schnurrend gegen seine Brust. Dies erregte eine Freude in ihm, wie er sie lange nicht gefühlt, und er wünschte heimlich, mit dem Tierchen allein zu sein, um mit ihm zu spielen. Zugleich aber entsetzte ihn Karens Tun; er stand auf, ohne das Kätzchen von sich zu lassen, ging hin und kniete nieder und fragte Karen, was ihr sei, und bat sie, sich doch wieder ins Bett zu legen. Doch Karen achtete nicht auf seine Worte. Sie krümmte sich verzweifelt und hörte nicht auf zu heulen.

Es war das Chaos, das da heulte.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 171-175.
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