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[401] Spät in der Nacht, und in unsinniger Erregung, weil eines hochzeitlichen Bettes denkend, das ihn den äußersten Qualen der Eifersucht preisgab, spielte Herr Carovius auf seinem Klavier die Revolutionsetüde von Chopin. Immer wieder begann er von vorn, immer wuchtiger wurde sein Anschlag, immer toller das Tempo, immer großartiger der Schwung seiner Gebärden und immer drohender sein Gesicht.

Er hielt Abrechnung mit dem Weibe, das er leibhaftig vor sein neronisches Tribunal nicht ziehen konnte und schüttete, was er gegen den Musiker Nothafft auf dem Herzen hatte, in die Musik eines andern. Der Neid des Nachempfinders vergriff sich am Schöpfer, die Ohnmacht des Schmeckers raste gegen den Koch. Es war, wie wenn ein durchgefallener Komödiant in der Wildnis deklamiert, wo ihm nur das Echo seiner eigenen Stimme antwortet.[401]

Sein Haß gegen das Allgemeine, gegen die Einrichtungen der Gesellschaft, gegen Gesetz und Wohlfahrt, Staat und Familie, Liebe und Ehe, Weib und Mann war zur höchsten Flamme aufgelodert. Selten hat einer so sich selber aufgerissen, zerfleischt und besudelt wie dieser entbürgerte Bürger, indem er musizierte. Er machte die Musik zu einer ausschweifenden Orgie, zu einem erniedrigenden Laster.

»Genug!« röchelte er, mit einer grellen Disharmonie schließend. Er schlug krachend den Deckel des Instruments zu und warf sich in einen abgeschabten Ledersessel.

Was sein inneres Auge sah, spottet des Wortes. Er war in dem Haus dort. Er hatte die Macht, seinen Nebenbuhler zu zerschmettern. Er durfte das Weib mißhandeln, das ihm durch die Tücke der Umstände versagt war. Er züchtigte sie, er zog die Wimmernde bei den Haaren aus dem Bette der Lust. Er weidete sich an ihrer Scham, wie auch an den zornigen Zuckungen des geknebelten Musikers. Er ersparte ihnen keine Beschimpfung, die ganze Stadt war Zeuge seines Strafgerichts, und alle Menschen fürchteten sich vor ihm.

So befriedigt der Kleinbürger seinen Rachedurst. So ahndet der Nero unserer Zeit die Verbrechen, die die Menschheit dadurch an ihm verübt, daß sie sich Genüsse und Glücksgüter verschafft, deren er nicht teilhaftig werden kann.

Weil er aber heute mehr als je seine grauenhafte Verlassenheit empfand und ihm das Unrecht zu Bewußtsein kam, welches ihm der eine Mensch zufügte, an dem er seit Jahren mit hündischer Treue hing und der ihn jetzt mied, wie man einen zum Dienst nicht mehr tauglichen Hund meidet, so beschloß er in seinem erbitterten Gemüt, hierfür eine Sühne zu nehmen, die nicht in bloßen Phantasiespielen bestand.

Mit diesem Vorsatz suchte er endlich den Schlaf.

Quelle:
Jakob Wassermann: Das Gänsemännchen, Berlin 88-911929, S. 401-402.
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