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[402] Der Inspektor hauste nun allein in den beiden Dachstuben. Er hatte sich von selbst erbötig gemacht, an Lenores Stelle die Schreibarbeiten anzufertigen, und die Arbeitgeber hatten sich damit einverstanden erklärt. So verdiente er wenigstens die Miete und konnte auch ein paar Taler für seine Beköstigung zahlen.

Lenore und Daniel schliefen in dem vorderen Eckzimmer; in der Wohnstube, wo jetzt auch das Klavier stand, arbeitete Daniel. Philippine und Agnes blieben in der Kammer neben der Küche.

Noch immer band Lenore Blumen, noch immer bezog sie von dem mysteriösen Unbekannten reichlichen Lohn dafür. Sie trieb diese Beschäftigung nicht in Daniels Nähe, sondern in ihrem früheren Stübchen unterm Dach.

Da saß oft der Vater bei ihr und schaute ihr gedankenvoll zu. Sie hatte bisweilen das Gefühl, als ob er um alles gewußt habe, was zwischen ihr und Gertrud und Daniel vorgefallen war, und als habe er nur in unendlicher Zartheit und Bescheidenheit, wohl auch in Furcht und Schmerz, darüber geschwiegen. Denn vor dieser Zeit war er nie bei ihr gewesen, hatte sie nie so still angeschaut, war immer vorübergegangen, immer bestrebt gewesen, allein zu sein.

Es dünkte ihr, als wisse er überhaupt vieles von Menschen und Dingen und schweige nur aus sanfter und mitleidiger Überlegenheit.

Daniel lebte nicht viel anders denn vor der Hochzeit. Nächtelang saß er am Tisch und schrieb. Oft traf ihn die frühaufstehende Lenore, mit der Feder in der Hand und eingeschlummert. Dann lächelte sie eigen und weckte ihn durch einen Kuß auf die Stirn.

Er schrieb die Noten aus dem Kopf wie andere Leute ihre Briefe. Er brauchte gar kein Instrument mehr zur Probe und Unterstützung.[403]

Einmal zeigte er Lenore achtzehn verschiedene Fassungen von ein und derselben Melodie. Die ganze Arbeit der Nacht hatte darin bestanden, zu ändern und wieder und wieder zu ändern. Lenores Herz war beklommen, und beinahe hätte sie gefragt: Für wen, Daniel? Alles für die Truhe?

Langsam fing sie an zu begreifen, daß nicht der grübelnde Verstand die Stufenfolge der Vollendung erzwingt, sondern der sittliche Wille. Es kam wie ein Blitz, daß sie eines Tages das dämonische Element in diesem Trieb erkannte, den sie ehedem seiner Bastelsucht und seinem nörglerischen Wesen hatte zuschreiben wollen. Da schauderte sie vor der ungeahnten Not und fühlte Erbarmen mit dem Mann, der sich in Finsternis vergrub, um die Welt lichter zu machen.

Die Welt? Was wußte die Welt von den Gebilden ihres Daniel? Opus auf Opus lag in der großen Truhe, und kein Mensch bekümmerte sich um die in einem Sarg ruhenden Schätze von Musik.

Das ging nimmermehr mit rechten Dingen zu. Es war etwas verdorben im Uhrwerk der Zeit; es war etwas krank in den Menschen, da war irgendein Gift, irgendein Übel, irgendein arges Versäumnis.

Sie konnte an gar nichts anderes mehr denken. Eines Tages machte sie sich auf und besuchte den alten Herold. Zuerst ließ er sie bärbeißig an, dann hörte er immer aufmerksamer zu. Ihre Züge waren wunderbar belebt, während sie sprach, und Professor Herold äußerte sich später: »Wenn man mir die ewige Seligkeit dafür verspräche, daß ich das Bild dieser schwangeren Frau vergessen soll, wie sie vor mir stand, um in Sachen Daniel Nothafft gegen Publikus zu plädieren, ich tät's nicht, ich könnt's nicht vergessen.«

Der Alte bat Lenore, sie möge ihm womöglich eine von Daniels letzten Kompositionen bringen. Sie sagte es zu und entwendete am anderen Morgen das Streichquartett in B-Moll aus der Truhe. Sie trug es zum Professor hin,[404] er schlug die Partitur auf und begann zu lesen. Lenore setzte sich und betrachtete geduldig die vielen gemalten Bilderchen, die an den Wänden der Stube hingen.

Eine Stunde war verflossen. Der weißhaarige Mann schlug das letzte Blatt um, stemmte die geballte Faust auf das Papier, und um seinen Löwenmund zuckte es halb grimmig, halb im erschütterten Gefühl, als er sagte: »Der Prozeß wird in Gang gebracht, Sie würdigste aller Lenoren, oder ich bin nicht mehr der Herold.«

Er schritt erregt hin und her, rang die Hände und rief: »Welch ein Aufbau! welche Klangfarbe! was für ein Reichtum an Melodie, an Rhythmus, an Ursprünglichkeit! Welche Bändigung! welche Süßigkeit! welche Kraft! Was für ein Kerl überhaupt! Und so einer lebt! Hier unter uns lebt so einer, plagt sich, sorgt sich. Schimpf und Schande! Marsch, liebe Frau, gehen wir zu ihm, ich muß ihn an meine Brust drücken ...«

Aber Lenore, deren Gesicht heiß war vor Glück, unterbrach ihn und sagte: »Dann würden Sie alles verderben. Raten Sie mir lieber, was zu tun ist. Er wird immer eigensinniger und immer bissiger, wenn nicht endlich ein Sonnenstrahl von außen auf sein Geschaffenes fällt.«

Der Alte sann. »Lassen Sie mir die Partitur, ich möchte was damit unternehmen,« erwiderte er nach einer Weile.

Voll Hoffnung ging Lenore von ihm weg.

Das Quartett wurde nach Berlin geschickt und kam in die Hände eines Mannes von Einfluß und Verständnis. Einige Leute vom Fach lernten alsbald die Komposition kennen. Professor Herold erhielt einige begeisterte Briefe und beantwortete sie klug. Es bildete sich dort ein Sagenkreis um die Person des unbekannten Meisters. Man erzählte sich, daß er als Klausner in den fränkischen Wäldern lebte und Enthaltsamkeit von irdischen Genüssen predige.

In Leipzig wurde das Quartett einem Zirkel von Musikfreunden[405] vorgespielt. Der Beifall klang ganz anders als man ihn bei einer mit musikalischen Neuigkeiten überfütterten Versammlung gewohnt war.

Dadurch erfuhr Daniel endlich das Geschehene. Eines Tages bekam er einen Brief von dem Veranstalter des Konzerts, einem Geheimrat Löwenberg. Der Brief schloß mit den Worten: »Eine Gemeinde von Verehrern ist nach Ihren Schöpfungen begierig und grüßt Sie in herzlicher Dankbarkeit.«

Daniel traute seinen Augen nicht. Es war wie Hexerei. Stumm reichte er den Brief Lenore. Sie las ihn und blickte Daniel ruhig an.

»Ja, ich bin schuld,« sagte sie, »ich habe das Quartett gestohlen.«

»Soso; weißt du denn auch, was du mir damit angetan hast, Lenore?«

In Lenores Gesicht malte sich Verwunderung und Schrecken.

»Du sollst es wissen,« sprach er ernst, »vielleicht vergeht dir künftighin die Lust zu solchen Weiberstreichen.«

Er ging auf und ab und blieb dann dicht vor ihr stehen. »Du hältst mich wahrscheinlich für einen Dickkopf und Justamentschädel; für einen, dem einmal der Frost die Finger zerbeult hat und der nun hinterm Ofen sitzt und raunzt und das Wetter scheut. Da bist du auf dem Holzweg. Früher war etwas Ähnliches bei mir im Verzug, jetzt hat's keine Gefahr mehr.«

Er ging wieder auf und ab, blieb wieder stehen. »Nicht weil sie mir zu gut scheinen, oder weil ich zu faul und zu feig bin, verwahr' ich meine Elaborate unter Schloß und Riegel. Da müßt ich ja Heu im Kopf haben, wenn ich nicht begriffen hätte, daß die Wirkung zum Werk gehört wie die Wärme zum Feuer. Ein Werk, das nicht zu den Menschen redet, ist so gut wie nicht geschaffen. Es sind Lügner, die sich einbilden, sie könnten auf Anerkennung oder Erfolg verzichten. Was ich[406] gemacht habe, ist gar nicht mehr mein Eigentum; es strebt zur Welt und ist ein Stück der Welt und ich muß es ihr geben, wohlgemerkt, falls es etwas Lebendiges ist.«

»Nun also, Daniel,« kam es erleichtert von Lenores Lippen.

»Eben, da liegt der Hase im Pfeffer,« fuhr er unbeirrt fort, »um die Lebendigkeit handelt's sich, um die wahre Wesenhaftigkeit. Wozu die Leute mit dem Halbfertigen und Unausgereiften abspeisen? Sie haben sich mit zu vielem von der Art zu plagen. Zu viele wollen, zu viele können heutzutage, aber es ist kein Himmelszwang dabei, kein göttliches Muß. Mein Unvollkommenes würde meinem Vollkommenen nur die Bahn sperren. Hat einen das Publikum mal verführt, daß man sich am Halben genügt, dann wird das Ohr taub und die Seele blind, eh man's recht weiß, und man ist dem Teufel verfallen. Der falsche Schritt ist schnell getan, ein Zurück gibt's nicht, denn so zahllos wie die Möglichkeiten, so einmalig ist die Tat, und so ersprießlich die Ermunterung von außen sein kann, so mörderisch ist sie, wenn sie das Gewissen überlärmt. Was ich da in all den Jahren verfertigt habe, es sind ja gute Sachen, aber es sind schließlich nur Versuche zu dem Großen, was mir vorschwebt. Vielleicht schmeichl' ich mir mit Trug und Traum, vielleicht überschätz ich meine Kraft, aber es steckt in mir drinnen und muß an den Tag. Es wird sich ja dann zeigen, was für eine Kreatur es ist. Dann hat das Dahintenstehen ein Ende, dann will ich mich schon rühren, dann tret ich hinaus, dann will ich auch als der gelten, der ich bin. Darauf kannst du dich verlassen.«

Kaum jemals hatte Daniel so zu Lenore gesprochen. Als sie ihn anschaute, von der Leidenschaft seiner Worte bezwungen und ihn dastehen sah, so furchtlos, so ehern unerbittlich, hob ein Seufzer ihre Brust, und sie sagte: »Gebe Gott, daß es gelingt und daß du's erlebst.«

»Es ist alles Schicksal, Lenore,« entgegnete er.

Er forderte und erhielt das Quartett zurück.[407]

Von da an unterdrückte Lenore jede Regung der Unzufriedenheit in sich. Sie spürte, daß er Grausamkeit und Härte für das kleine Leben brauchte, um Geduld und Liebe für das große zu bewahren.

Ja, sie betete zur Vorsehung, daß sie ihn grausam und hart bleiben lasse.

Quelle:
Jakob Wassermann: Das Gänsemännchen, Berlin 88-911929, S. 402-408.
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