Lied

[304] Der hochheit schein ist stark, groß ist der weisheit macht,

der sterblichen gemüt zu ihrer baiß zu bringen:

vil größer aber ist der schönheit macht und pracht,

als die die weisheit selbs und hochheit kan bezwingen.

Groß ist gewiß des golds und der hochheit gewalt,

so mag die weisheit auch den menschen wolgefallen:

jedoch der reich und weis muß, elend, der gestalt,

dadurch die schönheit ihn versehret, zu fuß fallen.

Du, Venus, kanst allein sie aller süßigkeit

ergötzung, schönheit, lieb und lieblichkeit gewehren,[304]

und wie durch deine kraft kein herz ohn freindlichkeit,

also kan kein geschlecht ohn deine gnad lang wehren.

Du, göttin, bist allein voll schönheit, lust und lieb,

luft, himmel, meer und erd wird nu von dir erhalten,

und dises alles würd ohn dich bald öd und trüb,

ohn dich würd alles bald verkalten und veralten.

Dir dienet nicht aus zwang, sondern mit freud und scherz

was immer in der welt kan kriechen, fliegen, gehen;

dan durch dein süße brunst ein jede seel und herz

entzündet mutiglich kan für und für bestehen.

Die luft erfüllest du mit der lieb saft und kraft,

mit der lieb danz und glanz die himmel du erleuchtest,

die erd bereichest du mit der lieb wissenschaft,

und mit liebreicher frucht das meer du überfeuchtest.

Du stillend allen zank, du legend allen streit

und dämpfend allen haß, wirst billich hochgeehret;

so groß der schönheit kraft, so süß ist der lieb beut,

daß dadurch alle welt, verliebet, sich vermehret.

Stark zwar der hochheit schein, groß ist der weisheit macht

der sterblichen gemüt zu ihrer baiz zu bringen:

vil größer aber ist der schönheit macht und pracht,

als die die weisheit selbs und hochheit kan bezwingen.

Quelle:
Georg Rodolf Weckherlin: Gedichte, Leipzig 1873, S. 304-305.
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