Fünfter Aufzug

[504] Im Arbeitszimmer des Marquis von Keith stehen sämtliche Türen angelweit offen. Während sich Hermann Casimir auf den Mitteltisch setzt, ruft von Keith ins Wohnzimmer hinein.


VON KEITH. Sascha! Da er keine Antwort erhält, geht er nach dem Wartezimmer; zu Hermann. Entschuldigen Sie. Ruft ins Wartezimmer. Sascha! – Kommt nach vorn; zu Hermann. Also, Sie gehen mit Einwilligung Ihres Vaters nach London. Ich kann Ihnen nach London die besten Empfehlungen mitgeben. Wirft sich auf den Diwan. In erster Linie empfehle ich Ihnen, Ihre deutsche Sentimentalität zu Hause zu lassen. Mit Sozialdemokratie und Anarchismus macht man in London keinen Effekt mehr. Lassen Sie sich noch eines sagen: Das einzig richtige Mittel, seine Mitmenschen auszunützen, besteht darin, daß man sie bei ihren guten Seiten nimmt. Darin liegt die Kunst, geliebt zu werden, die Kunst, recht zu behalten. Je ergiebiger Sie Ihre Mitmenschen übervorteilen, um so gewissenhafter müssen Sie darauf achten, daß Sie das Recht auf Ihrer Seite haben. Suchen Sie Ihren Nutzen niemals im Nachteil eines tüchtigen Menschen, sondern immer nur im Nachteil von Schurken und Dummköpfen. Und nun übermittle ich Ihnen den Stein der Weisen; das glänzendste Geschäft in dieser Welt ist die Moral. Ich bin noch nicht so weit, das Geschäft zu machen, aber ich müßte nicht der Marquis von Keith sein, wenn ich es mir entgehen ließe.


Es läutet auf dem Korridor.


VON KEITH ruft. Sascha! – Sich erhebend. Der Bengel kriegt Ohrfeigen.


Er geht auf den Vorplatz und kommt mit dem Kommerzienrat Ostermeier zurück.


VON KEITH. Sie könnten unmöglich gelegener kommen, mein bester Herr Ostermeier ...[504]

OSTERMEIER. Meine Kollegen im Aufsichtsrat, verehrter Freund, beauftragen mich ...

VON KEITH. Ich habe einen Plan mit Ihnen zu besprechen, der unsere Einnahmen verhundertfacht.

OSTERMEIER. Wünschen Sie eine von mir in der Generalversammlung abgegebene Erklärung, daß es mir heute wieder nicht gelungen ist, Ihre Geschäftsbücher zur Einsichtnahme zu erhalten?

VON KEITH. Sie phantasieren, lieber Herr Ostermeier! – Wollen Sie mir nicht ruhig und sachlich auseinandersetzen, um was es sich handelt?

OSTERMEIER. Um Ihre Geschäftsbücher, verehrter Freund.

VON KEITH aufbrausend. Ich rackre mich für diese triefäugigen Dickschädel ab ...

OSTERMEIER. Hat er also doch recht! Sich zum Gehen wendend. Gehorsamer Diener!

VON KEITH reißt die Schreibtisch-Schublade auf. Hier, bitte, schwelgen Sie in Geschäftsbüchern! Sich nach Ostermeier umwendend. Wer hat also doch recht?

OSTERMEIER. Ein gewisser Herr Raspe, Kriminalkommissär, der gestern abend in der »Americain Bar« fünf Flaschen Pommery darauf gewettet hat, daß Sie keine Geschäftsbücher führen.

VON KEITH sich in die Brust werfend. Ich führe auch keine Geschäftsbücher.

OSTERMEIER. Dann zeigen Sie Ihr Kopierbuch.

VON KEITH. Wo hätte ich seit der Gründung der Gesellschaft die nötige Zeit hernehmen sollen, um ein Büro einzurichten!

OSTERMEIER. Dann zeigen Sie mir Ihr Kopierbuch.

VON KEITH sich in die Brust werfend. Ich habe kein Kopierbuch.

OSTERMEIER. Dann zeigen Sie den Depositenschein, den Ihnen die Bank ausgestellt hat.

VON KEITH. Habe ich Ihre Einzahlungen erhalten, um sie auf Zinsen zu legen?!

OSTERMEIER. Regen Sie sich nicht auf, verehrter Freund. Wenn Sie keine Bücher besitzen, dann notieren Sie sich Ihre Ausgaben doch irgendwo. Das tut doch jeder Laufbursche.

VON KEITH wirft sein Notizbach auf den Tisch. Da haben Sie mein Notizbuch.[505]

OSTERMEIER schlägt es auf und liest. »Eine Silberflut von hellvioletter Seide und Pailletten von den Schultern bis auf die Knöchel –« Das ist der ganze Mensch!

VON KEITH. Wenn Sie mir jetzt, nachdem ich Erfolg auf Erfolg erzielt habe, Knüppel in den Weg werfen, dann können Sie mit aller Bestimmtheit darauf rechnen, daß Sie von Ihrem Gelde weder in dieser noch in jener Welt etwas wiedersehen!

OSTERMEIER. So schlecht stehen die Feenpalastaktien nicht, verehrter Freund. Wir sehen unser Geld schon wieder. – Gehorsamer Diener!


Will gehen.


VON KEITH ihn aufhaltend. Sie untergraben das Unternehmen durch Ihre Wühlereien! Verzeihen Sie, verehrter Herr; ich rege mich auf, weil ich mit dem Feenpalast empfinde wie ein Vater mit seinem Kind.

OSTERMEIER. Dann machen Sie sich Ihres Kindes wegen nur gar keine Sorgen mehr. Der Feenpalast ist gesichert und wird gebaut.

VON KEITH. Ohne mich?

OSTERMEIER. Wann's sein muß, ohne Sie, verehrter Freund!

VON KEITH. Das können Sie nicht!

OSTERMEIER. Sie sind jedenfalls der letzte, der uns daran hindern wird!

VON KEITH. Das wäre ein infamer Schurkenstreich!

OSTERMEIER. Das wär noch schöner! Weil wir uns von Ihnen nicht länger betrügen lassen wollen, schimpfen Sie uns Betrüger!

VON KEITH. Wenn Sie sich betrogen glauben, dann verklagen Sie mich doch auf Auszahlung Ihres Geldes!

OSTERMEIER. Sehr schön, verehrter Freund, wenn wir nicht dem Aufsichtsrat angehörten!

VON KEITH. Was Sie sich einbilden! Sie sitzen im Aufsichtsrat, um mich bei meiner Arbeit zu unterstützen.

OSTERMEIER. Dafür komme ich auch zu Ihnen; aber bei Ihnen gibt's eben nichts zu arbeiten.

VON KEITH. Mein lieber Herr Ostermeier, Sie können mir als Mann von Ehre nicht zumuten, eine solche Niederträchtigkeit über mich ergehen zu lassen. Übernehmen Sie doch den geschäftlichen Teil; lassen Sie mich artistischer Leiter des Unternehmens sein. Ich gebe Inkorrektheiten in meiner[506] Geschäftsführung zu, die ich mir aber nur in dem Bewußtsein verzieh, daß es zum allerletztenmal geschieht und daß ich mir nach Konsolidierung meiner Verhältnisse nicht das geringste mehr zuschulden kommen lassen würde.

OSTERMEIER. Darüber hätten wir gestern, als ich mit den anderen Herren hier war, ein Wort reden können; aber da haben Sie uns ein Loch in den Bauch geschwatzt. Ich würde Ihnen auch heut noch sagen: Versuchen wir's noch einmal – wenn Sie sich uns wenigstens als einen aufrichtigen Menschen gezeigt hätten. Hört man aber immer und immer wieder nur Unwahrheiten, dann ...

VON KEITH sich in die Brust werfend. Dann sagen Sie den Herren: Ich baue den Feenpalast, so gewiß wie die Idee dazu aus meinem Hirn entsprungen ist. Bauen Sie ihn aber – sagen Sie das Ihren Herren! – dann sprenge ich den Feenpalast samt Aufsichtsrat und Aktionärversammlung – in die Luft!

OSTERMEIER. Werde ich pünktlich ausrichten, Herr Nachbar! Wissen Sie, ich möcht' beileibe niemanden vor den Kopf stoßen, geschweige denn vor den ... Gehorsamer Diener!


Ab.


VON KEITH ihm nachstarrend. ... Hintern! Ich spüre so was. – – Zu Hermann. Lassen Sie mich jetzt nicht allein, sonst schrumpfe ich so zusammen, daß mich die Angst anpackt, es könnte nichts mehr von mir übrigbleiben. – – – Sollte das möglich sein? – – Mit Tränen in den Augen. Nach so viel Feuerwerk! – – Ich soll wieder wie ein Geächteter von Land zu Land gepeitscht werden?! – – Nein! Nein! – Ich darf mich nicht an die Wand drücken lassen!! – Es ist das letztemal in diesem Leben, daß die Welt mit all ihrer Herrlichkeit vor mir liegt! Sich hoch aufrichtend. Nein! – Ich wackle nicht nur noch nicht, ich werde ganz München durch meinen Sprung in Erstaunen setzen: Er schüttelt noch, da fall ich schon, unter Pauken und Trompeten, ihm direkt auf den Kopf, daß alles rings auseinanderstiebt, und schlage alles kurz und klein. Dann wird sich's zeigen, wer zuerst wieder auf die Beine kommt!


Die Gräfin Werdenfels tritt ein.[507]


VON KEITH ihr entgegeneilend. Meine Königin ...

ANNA zu Hermann. Würden Sie uns einen Moment allein lassen.


Von Keith läßt Hermann ins Wohnzimmer eintreten.


VON KEITH die Tür hinter ihm schließend. Du siehst so unternehmend aus?

ANNA. Das ist schon möglich. Ich erhalte seit unserem Feenpalastkonzert Tag für Tag ein halbes Dutzend Heiratsanträge.

VON KEITH. Das ist mir verdammt gleichgültig!

ANNA. Aber mir nicht.

VON KEITH höhnisch. Hast du dich denn in ihn verliebt?

ANNA. Von wem sprichst du denn?

VON KEITH. Von dem Genußmenschen!

ANNA. Du machst dich über mich lustig!

VON KEITH. Von wem sprichst du denn?!

ANNA nach dem Wohnzimmer deutend. Von seinem Vater.

VON KEITH. Und darüber willst du dich mit mir unterhalten?

ANNA. Nein, ich wollte dich nur fragen, ob du jetzt endlich ein Lebenszeichen von Molly hast.

VON KEITH. Nein, aber was ist mit Casimir?

ANNA. Was ist mit Molly?? – – Du hältst ihr Verschwinden geheim?

VON KEITH beklommen. Ich fürchte, offen gesagt, weniger, daß ihr ein Unglück zugestoßen ist, als daß mir ihr Verschwinden den Boden unter den Füßen wegzieht. Wenn das nicht von Menschlichkeit zeugt, dann sitze ich dafür seit drei Tagen Nacht für Nacht auf dem Telegrafenamt. – Mein Verbrechen an ihr besteht darin, daß sie, seit wir uns kennen, nie ein böses Wort von mir gehört hat. Sie verzehrt sich vor Sehnsucht nach ihrer kleinbürgerlichen Welt, in der man, Stirn gegen Stirn geschmiedet, sich duckt und schuftet und sich liebt! Kein freier Blick, kein freier Atemzug! Nichts als Liebe! Möglichst viel und von der gewöhnlichsten Sorte!

ANNA. Wenn man Molly nun nicht findet, was dann?

VON KEITH. Ich kann getrost darauf bauen, daß sie, wenn mir das Haus über dem Kopf zusammengekracht ist, reumütig lächelnd zurückkommt und sagt: »Ich will es nicht wieder tun.« – Ihr Zweck ist erreicht; ich kann mein Bündel schnüren.[508]

ANNA. Und was wird dann aus mir?

VON KEITH. Du hast bei unserem Unternehmen bis jetzt am meisten gewonnen und wirst, so hoffe ich, noch mehr bei unserem Unternehmen gewinnen. Verlieren kannst du nichts, weil du mit keinem Einsatz dabei beteiligt bist.

ANNA. Wenn das sicher ist?!

VON KEITH. – – Ach so ...?!

ANNA. Ja, ja!

VON KEITH. – Was hast du ihm denn geantwortet?

ANNA. Ich schrieb ihm, ich könne ihm noch keine Antwort geben.

VON KEITH. Das hast du ihm geschrieben?!

ANNA. Ich wollte erst mit dir darüber sprechen.

VON KEITH packt sie am Handgelenk und schleudert sie von sich. Wenn es nicht anders bei dir steht, als daß du mit mir darüber sprechen mußt, dann – heirate ihn!!

ANNA. Wer von Gefühlen so verächtlich denkt wie du, müßte doch über rein praktische Fragen ruhig mit sich reden lassen!

VON KEITH. Laß meine Gefühle hier aus dem Spiel! Mich empört, daß du nicht mehr Rassestolz in dir hast, um deine Erstgeburt für ein Linsengericht zu verkaufen!

ANNA. Was nicht du bist, das ist dir Linsengericht!

VON KEITH. Ich kenne meine Schwächen; aber das sind Haustiere! Dem einen fehlt es im Hirn und dem andern im Rückenmark! Willst du Wechselbälge zur Welt bringen, die vor dem achten Tage nicht sehen können?! – Ich gebe dir mit Freuden, wenn es mit mir vorbei sein soll, was ich von meiner Seelenglut in dich hineingelebt, auf deine Karriere mit. Aber wenn du dich vor deinem Künstlerlos hinter einen Geldsack verschanzest, dann bist du heute schon nicht mehr wert, als das Gras, das dereinst aus dem Grabe wächst!

ANNA. – Hättest du wenigstens den geringsten Anhaltspunkt darüber, was aus Molly geworden ist!

VON KEITH. Beschimpf mich nicht noch! – Ruft. Sascha!

ANNA. Wenn du denn durchaus darauf bestehst, daß wir uns trennen sollen ...

VON KEITH. Gewiß, ich bestehe darauf.

ANNA. Dann gib mir meine Briefe zurück!

VON KEITH höhnisch. Willst du deine Memoiren schreiben?[509]

ANNA. Nein, aber sie könnten in falsche Hände geraten.

VON KEITH aufspringend. Sascha!!

ANNA. Was willst du von Sascha? – Ich habe Sascha einen Auftrag gegeben.

VON KEITH. Wie kommst du dazu?!

ANNA. Weil er zu mir kam. Ich habe das doch schon öfter getan. Im schlimmsten Fall weiß der Junge, wo er etwas zu verdienen findet.

VON KEITH sinkt in den Sessel am Schreibtisch. Mein Sascha! Wischt sich eine Träne aus dem Auge. Daß du auch ihn nicht vergessen hast! – – Wenn du jetzt das Zimmer verläßt, Anna, dann breche ich zusammen wie ein Ochse im Schlachthaus. – Gib mir noch eine Galgenfrist!

ANNA. Ich habe keine Zeit zu verlieren.

VON KEITH. Nur so lange, bis ich mich deiner entwöhnt habe, Anna! – Ich bedarf meiner geistigen Klarheit jetzt mehr denn je ...

ANNA. Gibst du mir dann meine Briefe zurück?

VON KEITH. Du bist grauenhaft! – Aber das ist ja das helle Mitleid von dir! Ich soll dich wenigstens verfluchen dürfen, wenn du nicht mehr meine Geliebte bist.

ANNA. Du lernst deiner Lebtag keine Frau richtig beurteilen!

VON KEITH sich stolz emporreckend. Ich widerrufe meinen Glauben nicht auf der Folter! Du gehst mit dem Glück; das ist menschlich. Was du mir warst, bleibst du darum doch.

ANNA. Dann gib mir meine Briefe zurück.

VON KEITH. Nein, mein Kind! Deine Briefe behalte ich für mich. Sonst zweifle ich dereinst auf meinem Sterbebett, ob du nicht vielleicht nur ein Hirngespinst von mir gewesen bist. Ihr die Hand küssend. Viel Glück!

ANNA. Auch ohne dich!


Ab.


VON KEITH allein, sich unter Herzkrämpfen windend. – Ah! – Ah! – Das ist der Tod! – Er stürzt zum Schreibtisch, entnimmt einem Schubfach eine Handvoll Briefe und eilt zur Tür. Anna! Anna!


In der offnen Tür tritt ihm Ernst Scholz entgegen. Scholz geht unbehindert, ohne daß man ihm noch eine Spur von seiner Verletzung anmerkt.[510]


VON KEITH zurückprallend. ... Ich wollte eben zu dir ins Hotel fahren.

SCHOLZ. Das hat keinen Zweck mehr. Ich reise ab.

VON KEITH. Dann gib mir aber noch die zwanzigtausend Mark, die du mir gestern versprochen hast!

SCHOLZ. Ich gebe dir kein Geld mehr.

VON KEITH. Die Karyatiden zerschmettern mich! Man will mir meinen Direktionsposten nehmen!

SCHOLZ. Das bestärkt mich in meinem Entschluß.

VON KEITH. Es handelt sich nur darum, eine momentane Krisis zu überwinden!

SCHOLZ. Mein Vermögen ist mehr wert als du! Mein Vermögen sichert den Angehörigen meiner Familie noch auf unendliche Zeiten eine hohe, freie Machtstellung! Währenddem du nie dahin gelangst, einem Menschen irgend etwas zu nützen!

VON KEITH. Wo nimmst du Schmarotzer die Stirne her, mir Nutzlosigkeit vorzuwerfen?!

SCHOLZ. Lassen wir den Wettstreit! – Ich leiste endlich den großen Verzicht, zu dem sich so mancher einmal in diesem Leben verstehen muß.

VON KEITH. Was heißt das?

SCHOLZ. Ich habe mich von meinen Illusionen losgerissen.

VON KEITH höhnisch. Schwelgst du wieder mal in der Liebe eines Mädchens aus niedrigstem Stande?

SCHOLZ. Ich habe mich von allem losgerissen. – Ich gehe in eine Privatheilanstalt.

VON KEITH aufschreiend. Du kannst keine nichtswürdigere Schandtat begehen als den Verrat an deiner eignen Person!

SCHOLZ. Deine Entrüstung ist mir sehr begreiflich. – Ich habe in den letzten drei Tagen den grauenvollsten Kampf durchgekämpft, der einem Erdenwurm beschieden sein kann.

VON KEITH. Um dich feige zu verkriechen?! – Um als Sieger auf deine Menschenwürde zu verzichten?!

SCHOLZ aufbrausend. Ich verzichte nicht auf meine Menschenwürde! Du hast weder Ursache, mich zu beschimpfen noch meiner zu spotten! – Wenn jemand die Beschränkung, in die ich mich finde, gegen seinen Willen über sich verhängen lassen muß, dann mag er seiner Menschenwürde[511] verlustig gehen. Dafür bleibt er relativ glücklich; er wahrt sich seine Illusionen. – Wer kalten Blickes wie ich mit der Wirklichkeit abrechnet, der kann sich dadurch weder die Achtung noch die Teilnahme seiner Mitmenschen verscherzen.

VON KEITH zuckt die Achseln. Ich würde mir diesen Schritt doch noch ein wenig überlegen.

SCHOLZ. Ich habe ihn reiflich überlegt. Es ist die letzte Pflicht, die mein Geschick mir zu erfüllen übrigläßt.

VON KEITH. Wer einmal drin ist, kommt so leicht nicht wieder heraus.

SCHOLZ. Hätte ich noch die geringste Hoffnung, jemals herauszukommen, dann ginge ich nicht hinein. Was ich mir an Entsagung aufbürden, was ich meiner Seele an Selbstüberwindung und Hoffnungsfreudigkeit entringen konnte, habe ich aufgewandt, um mein Los zu ändern. Mir bleibt, Gott sei's geklagt, keinerlei Zweifel mehr darüber, daß ich anders geartet als andere Menschen bin.

VON KEITH im höchsten Stolz. Gott sei Dank habe ich nie daran gezweifelt, daß ich anders geartet als andere Menschen bin!

SCHOLZ sehr ruhig. Sei es nun Gott geklagt oder Gott gedankt – dich hielt ich bis jetzt für den abgefeimtesten Spitzbuben! – Ich habe auch diese Illusion aufgegeben. Ein Spitzbube hat Glück, so wahr wie dem ehrlichen Menschen auch im unabänderlichen Mißgeschick noch sein gutes Gewissen bleibt. Du hast nicht mehr Glück als ich, und du weißt es nicht. Darin liegt die entsetzliche Gefahr, die über dir schwebt!

VON KEITH. Über mir schwebt keine andere Gefahr, als daß ich morgen kein Geld habe!

SCHOLZ. Du wirst zeit deines Lebens morgen kein Geld haben! – Ich wüßte dich vor den heillosen Folgen deiner Verblendung gerne in Sicherheit. Deswegen komme ich noch einmal zu dir. Ich habe die heilige Überzeugung, daß es für dich das beste ist, wenn du mich begleitest.

VON KEITH lauernd. Wohin?

SCHOLZ. In die Anstalt.

VON KEITH. Gib mir die dreißigtausend Mark, dann komme ich mit![512]

SCHOLZ. Wenn du mich begleitest, brauchst du kein Geld mehr. Du findest ein behaglicheres Heim, als du es vielleicht jemals gekannt hast. Wir halten uns Wagen und Pferde, wir spielen Billard ...

VON KEITH ihn umklammernd. Gib mir die dreißigtausend Mark!! Willst du, daß ich hier vor dir einen Fußfall tue? Ich kann hier vom Platz weg verhaftet werden!

SCHOLZ. Dann bist du schon so weit?! – Ihn zurückstoßend. Ich gebe solche Summen keinem Wahnsinnigen!

VON KEITH schreit. Du bist der Wahnsinnige!

SCHOLZ ruhig. Ich bin zu Verstand gekommen.

VON KEITH höhnisch. – Wenn du dich in die Irrenanstalt aufnehmen lassen willst, weil du zu Verstand gekommen bist, dann – geh hinein!

SCHOLZ. Du gehörst zu denen, die man mit Gewalt hineinbringen muß!

VON KEITH. – Dann wirst du in der Irrenanstalt wohl auch deinen Adelstitel wieder aufnehmen?

SCHOLZ. Hast du nicht in zwei Weltteilen jeden erdenklichen Bankrott gemacht, der im bürgerlichen Leben überhaupt möglich ist?!

VON KEITH giftig. Wenn du es für deine moralische Pflicht hältst, die Welt von deiner überflüssigen Existenz zu befreien, dann findest du radikalere Mittel als Spazierenfahren und Billardspielen!

SCHOLZ. Das habe ich längst versucht.

VON KEITH schreit ihn an. Was tust du denn dann noch hier?!

SCHOLZ finster. Es ist mir mißlungen wie alles andere.

VON KEITH. Du hast natürlich aus Versehen jemand anders erschossen!

SCHOLZ. Man hat mir damals die Kugeln zwischen den Schultern, dicht neben dem Rückgrat, wieder herausgeschnitten. – Es ist heute wohl das letztemal in deinem Leben, daß sich dir eine rettende Hand bietet. Welch eine Art von Erlebnissen noch vor dir liegt, das weißt du jetzt.

VON KEITH wirft sich vor ihm auf die Knie und umklammert seine Hände. Gib mir die vierzigtausend Mark, dann bin ich gerettet!

SCHOLZ. Die retten dich nicht vor dem Zuchthaus!

VON KEITH entsetzt emporfahrend. Schweig!![513]

SCHOLZ bittend. Komm mit mir, dann bist du geborgen. Wir sind zusammen aufgewachsen; ich sehe nicht ein, warum wir nicht auch das Ende gemeinsam erwarten sollen. Die bürgerliche Gesellschaft urteilt dich als Verbrecher ab und unterwirft dich allen unmenschlichen mittelalterlichen Martern ...

VON KEITH jammernd. Wenn du mir nicht helfen willst, dann geh, ich bitte dich darum!

SCHOLZ Tränen in den Augen. Wende deiner einzigen Zuflucht nicht den Rücken! Ich weiß doch, daß du dir dein jammervolles Los ebensowenig selber gewählt hast, wie ich mir das meinige.

VON KEITH. Geh! Geh!

SCHOLZ. Komm, komm. – Du hast einen lammfrommen Gesellschafter an mir. Es wäre ein matter Lichtschimmer in meiner Lebensnacht, wenn ich meinen Jugendgespielen seinem grauenvollen Verhängnis entrissen wüßte.

VON KEITH. Geh! Ich bitte dich!

SCHOLZ. – – Vertrau dich von heute ab meiner Führung an, wie ich mich dir anvertrauen wollte ...

VON KEITH schreit verzweifelt. Sascha! Sascha!

SCHOLZ. – – – Dann vergiß nicht, wo du einen Freund hast, dem du jederzeit willkommen bist.


Ab.


VON KEITH kriecht suchend umher. – – Molly! – – Molly! – – Es ist das erstemal in meinem Leben, daß ich vor einem Weib auf den Knien wimmere! – – Plötzlich nach dem Wohnzimmer aufhorchend. Da ...! Da ...! Nachdem er die Wohnzimmertür geöffnet. ... Ach, das sind Sie?


Hermann Casimir tritt aus dem Wohnzimmer.


VON KEITH. Ich kann Sie nicht bitten, länger hierzubleiben. Mir ist – nicht ganz wohl. Ich muß erst – eine Nacht – darüber schlafen, um der Situation wieder Herr zu sein. – Reisen Sie mit ... mit ...


Schwere Schritte und viele Stimmen tönen vom Treppenhaus herauf.


VON KEITH. Hören Sie ... Der Lärm! Das Getöse! – Das bedeutet nichts Gutes ...[514]

HERMANN. Verschließen Sie doch die Tür.

VON KEITH. Ich kann es nicht! – Ich kann es nicht! – Das ist sie ...!


Eine Anzahl Hofbräuhausgäste schleppen Mollys entseelten Körper herein. Sie trieft von Wasser, die Kleider hängen in Fetzen. Das aufgelöste Haar bedeckt ihr Gesicht.


EIN METZGERKNECHT. Da hammer den Stritzi! – Zurücksprechend. Hammer's? – Eini! Zu von Keith. Schau her, was mer g'fischt hamm! Schau her, was mer der bringen! Schau her, wann'd a Schneid hast!

EIN PACKTRÄGER. Aus'm Stadtbach hammer's zogen! Unter die eisernen Gitterstangen vor! An die acht Täg' mag's drin g'legen sein im Wasser!

EIN BÄCKERWEIB. Und da derweil treibt sich der Lump, der dreckichte, mit seine ausg'schamte Menscher umanand! Sechs Wuchen lang hat er's Brot net zahlt! Das arme Weib laßt er bei alle Krämersleut' betteln gehn, as was z'essen kriagt! A Stoan hat's derbarmt, as wia die auf d'Letzt ausg'schaut hat!

VON KEITH retiriert sich, während ihn die Menge mit der Leiche umdrängt, nach seinem Schreibtisch. Ich bitte Sie, beruhigen Sie sich doch nur!

DER METZGERKNECHT. Halt dei Fressen, du Hochstapler, du! Sunst kriagst vo mir a Watschen ins G'sicht, as nimma stehn kannst! – Schau da her! – Is sie's oder is sie's net?! – Schau her, sag i!

VON KEITH hat hinter sich auf dem Schreibtisch Hermanns Revolver erfaßt, den die Gräfin Werdenfels früher dort hatte liegenlassen. Rühren Sie mich nicht an, wenn Sie nicht wollen, daß ich von der Waffe Gebrauch mache!

DER METZGERKNECHT. Was sagt der Knickebein?! – Was sagt er?! – Gibst den Revolver her?! – Hast net gnua an dera da, du Hund?! – Gibst ihn her, sag' i ...!


Der Metzgerknecht ringt mit von Keith, dem es gelingt, sich dem Ausgang zu nähern, durch den eben der Konsul Casimir eintritt. Hermann Casimir

hat sich derweil an die Leiche gedrängt; er und das Bäckerweib tragen die Leiche auf den Diwan.[515]


VON KEITH sich wie ein Verzweifelter wehrend, ruft. Polizei! – Polizei! Bemerkt Casimir und klammert sich an ihn an. Retten Sie mich, um Gottes willen! Ich werde gelyncht!

DER KONSUL CASIMIR zu den Leuten. Jetzt schaut's aber, as weiter kummt, sunst lernt's mi anders kenna! – Laßt's die Frau auf dem Diwan! – Marsch, sag' i! – da hat der Zimmermann 's Loch g'macht! Seinen Sohn, der sich mit der Menge entfernen will, am Arm nach vorn ziehend. Halt, Freundrl! Du nimmst auf deine Londoner Reise noch eine schöne Lehre mit!


Die Hofbräuhausleute haben das Zimmer verlassen.


CASIMIR zu von Keith. Ich wollte Sie auffordern, München binnen vierundzwanzig Stunden zu verlassen; jetzt glaube ich aber, es ist wirklich am besten für Sie, wenn Sie mit dem nächsten Zug reisen.

VON KEITH immer noch den Revolver in der Linken haltend. Ich – ich habe dieses Unglück – nicht zu verantworten ...

CASIMIR. Das machen Sie mit sich selbst ab! Aber Sie haben die Fälschung meiner Namensunterschrift zu verantworten, die Sie an Ihrem Gründungsfest in der Briennerstraße in einem Glückwunschtelegramm vorgenommen haben.

VON KEITH. Ich kann nicht reisen ...

CASIMIR gibt ihm ein Papier. Wollen Sie diese Quittung unterzeichnen. Sie bescheinigen darin, eine Summe von zehntausend Mark, die Ihnen die Frau Gräfin Werdenfels schuldete, durch mich zurückerhalten zu haben.


Von Keith geht zum Schreibtisch und unterzeichnet.


CASIMIR das Geld aus seiner Brieftasche abzählend. Als Ihr Nachfolger in der Direktion der Feenpalastgesellschaft möchte ich Sie im Interesse einer gedeihlichen Entwicklung unseres Unternehmens darum ersuchen, sich so bald nicht wieder in München blicken zu lassen!


Von Keith am Schreibtisch stehend, gibt Casimir den Schein und nimmt mechanisch das Geld in Empfang.


CASIMIR den Schein einsteckend. Vergnügte Reise! – Zu Hermann. Marsch mit dir!


[516] Hermann drückt sich scheu hinaus. Casimir folgt ihm.


VON KEITH in der Linken den Revolver, in der Rechten das Geld, tut einige Schritte nach dem Diwan, bebt aber entsetzt zurück. Darauf betrachtet er unschlüssig abwechselnd den Revolver und das Geld. – Indem er den Revolver grinsend hinter sich auf den Mitteltisch legt. Das Leben ist eine Rutschbahn ...

Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Berlin und Weimar 1969, S. 504-517.
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