Vierter Aufzug

[488] Im Gartensaal der Gräfin Werdenfels liegen mehrere riesige Lorbeerkränze auf den Lehnsesseln; ein pompöser Blumenstrauß steht in einer Vase auf dem Tisch. Anna Gräfin Werdenfels in schmucker Morgentoilette befindet sich im Gespräch mit Polizeikommissär Raspe und Hermann Casimir. Es ist Vormittag.


ANNA ein Blatt farbiges Briefpapier in der Hand, zu Hermann. Ihnen, mein junger Freund, danke ich für die schönen Verse, die Sie gestern abend nach unserem ersten Feenpalastkonzert noch auf mich gedichtet haben. Ich danke Ihnen auch für Ihre herrlichen Blumen. – Zu Raspe. Von Ihnen, mein Herr, finde ich es aber höchst sonderbar, daß Sie mir gerade am heutigen Morgen diese bedenklichen Gerüchte über Ihren Freund und Wohltäter hinterbringen.

RASPE. Der Marquis von Keith ist weder mein Freund noch mein Wohltäter. Vor zwei Jahren bat ich ihn, in meinem Prozeß als psychiatrischer Experte über mich auszusagen. Er hätte mir anderthalb Jahre Gefängnis ersparen können. Statt dessen brennt der Windhund mit einem fünfzehnjährigen Backfisch nach Amerika durch!


Simba in einem geschmackvollen Dienstbotenkleid kommt vom Vorplatz herein und überreicht Anna eine Karte.


SIMBA. Der Herr möchten um die Ehr' bitten.

ANNA zu Hermann. Um Gottes willen, Ihr Vater!

HERMANN erschrocken, auf Raspe blickend. Wie kann denn mein Vater ahnen, daß ich hier bei Ihnen bin!

RASPE. Durch mich hat er nichts erfahren.

ANNA hebt die Portiere zum Spielzimmer. Gehen Sie da hinein. Ich werde ihn schon weiterschicken.


Hermann ins Spielzimmer ab.


RASPE. Dann ist es wohl am besten, wenn ich mich gleichfalls empfehle.[488]

ANNA. Ja, ich bitte Sie darum.

RASPE sich verbeugend. Meine Gnädigste! Ab.

ANNA zu Simba. Bitten Sie den Herrn, einzutreten.


Simba geleitet den Konsul Casimir herein, der einem ihm folgenden Lakaien einen Blumenstrauß abgenommen hat; Simba ab.


KONSUL CASIMIR seine Blumen überreichend. Gestatten Sie mir, meine Gnädigste, Ihnen zu Ihrem gestrigen Triumph aufrichtig zu gratulieren. Ihr erstmaliges Auftreten hat Ihnen ganz München im Sturm erobert; Sie können aber auf keinen Ihrer Zuhörer einen nachhaltigeren Eindruck gemacht haben als wie auf mich.

ANNA. Wäre das auch der Fall, so müßte es mich doch ungemein überraschen, daß Sie mir das persönlich mitteilen.

CASIMIR. Haben Sie eine Sekunde Zeit? – Es handelt sich um eine rein praktische Frage.

ANNA lädt ihn zum Sitzen ein. Sie befinden sich doch wohl auf falscher Fährte.

CASIMIR nachdem beide Platz genommen. Das werden wir gleich sehen. – Ich wollte Sie fragen, ob Sie meine Frau werden wollen.

ANNA. – Wie soll ich das verstehen?

CASIMIR. Deswegen bin ich hier, damit wir uns darüber verständigen können. Erlauben Sie mir, Ihnen von vornherein zu erklären, daß Sie auf die verlockende künstlerische Zukunft, die sich Ihnen gestern abend erschlossen, natürlich verzichten müßten.

ANNA. Sie haben sich Ihren Schritt doch wohl nicht reiflich überlegt.

CASIMIR. In meinen Jahren, meine Gnädigste, tut man keinen unüberlegten Schritt. Später ja – oder früher. Wollen Sie mich wissen lassen, was sich bei Ihnen sonst noch für Bedenken geltend machen.

ANNA. Sie wissen doch wohl, daß ich Ihnen auf solche Äußerungen gar nicht antworten kann?

CASIMIR. Gewiß weiß ich das. Ich spreche aber für den naheliegenden Fall, daß Sie in vollkommenster Freiheit über sich und Ihre Zukunft entscheiden dürfen.[489]

ANNA. Ich kann mir in diesem Augenblick die Möglichkeit gar nicht vorstellen, daß ein solcher Fall eintritt.

CASIMIR. Ich bin heute der angesehenste Mann Münchens, sehen Sie, und kann morgen hinter Schloß und Riegel sitzen. Ich verdenke es meinem besten Freunde nicht, wenn er sich gelegentlich fragt, wie er sich bei einem solchen Schicksalsschlag mit mir stellen soll.

ANNA. Würden Sie es auch Ihrer Gattin nicht verdenken, wenn sie sich mit der Frage beschäftigt?

CASIMIR. Meiner Gattin gewiß; meiner Geliebten niemals. Ich möchte jetzt auch gar keine Antwort von Ihnen hören. Ich spreche nur für den Fall, daß Sie im Stich gelassen werden oder daß sich Tatsachen ergeben, die jede Verbindlichkeit lösen; kurz und gut, daß Sie nicht wissen, wo aus noch ein.

ANNA. Dann wollten Sie mich zu Ihrer Frau machen?

CASIMIR. Das muß Ihnen allerdings beinahe verrückt erscheinen; das gereicht Ihrer Bescheidenheit zur Ehre. Aber darüber ist man nur sich selbst Rechenschaft schuldig. Ich habe, wie Sie vielleicht wissen, noch zwei kleine Kinder zu Hause, Mädchen im Alter von drei und sechs Jahren. Dann kommen, wie Sie sich wohl denken können, noch andere Gründe hinzu ... Was Sie betrifft, daß Sie mich in meinen Erwartungen nicht enttäuschen werden, dafür übernehme ich jede Verantwortung – auch Ihnen gegenüber.

ANNA. Ich bewundere Ihr Selbstvertrauen.

CASIMIR. Sie können sich vollkommen auf mich verlassen.

ANNA. Aber nach einem Erfolg wie gestern abend! – Es schien, als wäre ein ganz neuer Geist über das Münchner Publikum gekommen.

CASIMIR. Glauben Sie mir, daß ich den Begründer des Feenpalastes aufrichtig um seinen feinen Spürsinn beneide. Übrigens muß ich Ihnen mein Kompliment noch ganz speziell zur Wahl Ihrer gestrigen Konzerttoilette aussprechen. Sie entfalten eine so vornehme Sicherheit darin, Ihre Figur wirkungsvoll zur Geltung zu bringen, daß es mir – ich gesteh es – kaum möglich wurde, Ihrem Gesangsvortrag mit der ihm gebührenden Aufmerksamkeit zu folgen.[490]

ANNA. Glauben Sie bitte nicht, daß ich den Applaus, den meine künstlerischen Leistungen ernteten, irgendwie überschätze.

CASIMIR. Das würde ich Ihnen durchaus nicht verdenken; aber Ihre Lehrerin sagt mir, daß ein Erfolg wie der Ihrige von gestern abend schon viele Menschen ins Unglück gestürzt hat. Dann vergessen Sie bitte eines nicht: Was wäre die gefeiertste Sängerin auf der Bühne, wenn es der reiche Mann nicht für seine moralische Pflicht hielte, sie sich à fond perdu anzuhören. Mag die Gage in einzelnen Fällen noch so glänzend sein, in Wirklichkeit bleiben es doch immer nur Almosen, von denen diese Leute leben.

ANNA. Ich war ganz starr über die günstige Aufnahme, die jede Nummer beim Publikum fand.

CASIMIR sich erhebend. Bis auf die unglückliche Symphonie dieses Herrn Zamrjaki. Übrigens zweifle ich gar nicht daran, daß wir mit der Zeit auch dazu kommen werden, den Lärm, den dieser Herr Zamrjaki verursacht, als eine göttliche Kunstoffenbarung zu verehren. Lassen wir also der Welt ihren Lauf, hoffen wir das Beste und seien wir auf das Schlimmste gefaßt. – Gestatten, gnädige Frau, daß ich mich empfehle. Ab.


Anna faßt sich mit beiden Händen an die Schläfen, geht zum Stielzimmer, lüftet die Portiere und tritt zurück.


ANNA. Nicht einmal die Tür geschlossen!


Hermann Casimir tritt aus dem Spielzimmer.


HERMANN. Hätte ich mir jemals träumen lassen, daß man ein solches Erlebnis erleben kann!

ANNA. Gehen Sie jetzt, damit Ihr Vater Sie zu Hause findet.

HERMANN bemerkt das zweite Bukett. Die Blumen sind von ihm? – Ich scheine das also geerbt zu haben. – Nur läßt er es sich nicht so viel kosten wie ich.

ANNA. Woher nehmen Sie denn auch das Geld zu so wahnsinnigen Ausgaben!

HERMANN bedeutungsvoll. Vom Marquis von Keith.

ANNA. Ich bitte Sie, gehen Sie jetzt! Sie sind übernächtig. Sie haben gestern wohl noch lange gekneipt?[491]

HERMANN. Ich habe geholfen, dem Komponisten Zamrjaki das Leben zu retten.

ANNA. Halten Sie das für eine Ihrer würdige Beschäftigung?

HERMANN. Was habe ich Besseres zu tun!

ANNA. Es ist gewiß schön von Ihnen, wenn Sie ein Herz für unglückliche Menschen haben; aber Sie dürfen sich nicht mit ihnen an den gleichen Tisch setzen. Das Unglück steckt an.

HERMANN bedeutungsvoll. Dasselbe sagt mir der Marquis von Keith.

ANNA. Gehen Sie jetzt! Ich bitte Sie darum.


Simba kommt vom Vorplatz herein und überbringt eine Karte.


SIMBA. Der Herr möcht' um die Ehre bitten.

ANNA die Karte lesend. »Vertreter der süddeutschen Konzertagentur« – Er soll in vierzehn Tagen wiederkommen.


Simba ab.


HERMANN. Was werden Sie meinem Vater antworten?

ANNA. Jetzt ist es aber die höchste Zeit! Sie werden ungezogen!

HERMANN. Ich gehe nach London – und wenn ich mir das Geld dazu stehlen muß. Mein Vater soll sich nicht mehr über mich zu beklagen haben.

ANNA. Das wird Ihnen selbst am meisten nützen.

HERMANN beklommen. Das bin ich meinen beiden kleinen Geschwistern schuldig. Ab.

ANNA besinnt sich einen Moment, dann ruft sie. Kathi!


Simba kommt aus dem Speisesaal.


SIMBA. Gnädige Frau?

ANNA. Ich will mich anziehen.


Es läutet auf dem Korridor.


SIMBA. Sofort, gnädige Frau. Geht, um zu öffnen.


Anna geht ins Spielzimmer ab. – Gleich darauf läßt Simba Ernst Scholz eintreten; er geht auf einen eleganten Krückstock gestützt, auf steifem Knie hinkend, und trägt einen großen Blumenstrauß.[492]


ERNST SCHOLZ. Ich fand noch gar keine Gelegenheit, mein liebes Kind, dir für dein taktvolles, feinfühliges Benehmen neulich Abend an dem Gartenfest zu danken.

SIMBA formell. Wünschen der Herr Baron, daß ich Sie der gnädigen Frau melde?


Von Keith kommt in hellem Paletot, einen Pack Zeitungen in der Hand, vom Vorplatz herein.


VON KEITH seinen Paletot ablegend. Das ist eine Fügung des Himmels, daß ich dich hier treffe! Zu Simba. Was tun Sie denn noch hier?

SIMBA. Die gnädige Frau haben mich als Hausmädchen in Dienst genommen.

VON KEITH. Sehen Sie, ich habe Ihr Glück gemacht. – Melden Sie uns!

SIMBA. Sehr wohl, Herr Baron.


Ins Spielzimmer ab.


VON KEITH. Die Morgenblätter bringen schon die begeistertsten Besprechungen über unser gestriges Konzert!


Er setzt sich an das Tischchen links vorn und durchblättert die Zeitungen.


SCHOLZ. Hast du denn jetzt endlich Nachricht, wo sich deine Frau aufhält?

VON KEITH. Sie ist bei ihren Eltern in Bückeburg. Du warst während des Banketts gestern abend ja plötzlich verschwunden?

SCHOLZ. Ich hatte das lebhafteste Bedürfnis, allein zu sein. Wie geht es denn deiner Frau?

VON KEITH. Danke; ihr Vater steht vor dem Bankrott.

SCHOLZ. So viel wirst du doch noch übrig haben, um ihre Familie vor dem Äußersten zu schützen!

VON KEITH. Weißt du, was mich das Konzert gestern gekostet hat?

SCHOLZ. Ich finde, du nimmst diese Dinge zu leicht!

VON KEITH. Du wünschtest wohl, daß ich dir dabei helfe, die Eier der Ewigkeit auszubrüten?

SCHOLZ. Ich würde mich glücklich schätzen, wenn ich dir von meinem Überschuß an Pflichtgefühl etwas abtreten könnte.

VON KEITH. Gott bewahre mich davor! Ich habe jetzt die erdenklichste Elastizität nötig, um die Erfolge in ihrer ganzen Tragweite auszubeuten.

SCHOLZ selbstbewußt. Ich danke es dir, daß ich dem Leben[493] heute mit ruhigem, sicherem Blick gegenüberstehe. Ich halte es daher für meine Pflicht, ebenso offen zu dir zu sprechen, wie du vor vierzehn Tagen zu mir gesprochen hast.

VON KEITH. Der Unterschied ist nur der, daß ich dich nicht um deinen Rat gebeten habe.

SCHOLZ. Das ist für mich nur ein Grund mehr zu rückhaltloser Aufrichtigkeit. Ich habe durch meinen übertriebenen Pflichteifer den Tod von zwanzig Menschen verschuldet; aber du benimmst dich, als habe man seinen Mitmenschen gegenüber überhaupt keine Pflichten. Du gefällst dir geradezu darin, mit dem Leben anderer zu spielen!

VON KEITH. Bei mir ist noch jeder mit einem blauen Auge davongekommen.

SCHOLZ mit wachsendem Selbstbewußtsein. Das ist dein persönliches Glück! Dir fehlt aber das Bewußtsein, daß andere ganz die nämlichen Ansprüche auf den Genuß ihres Lebens haben wie du. Das, worin die Menschheit ihre höchsten Errungenschaften erblickt, was man mit Fug und Recht als Sittlichkeit bezeichnet, dafür hast du nicht das geringste Verständnis.

VON KEITH. Du bleibst dir treu. – Du kommst nach München mit dem ausgesprochenen Vorsatz, dich zum Genußmenschen auszubilden, und bildest dich aus Versehen zum Sittenprediger aus.

SCHOLZ. Ich bin durch das buntscheckige Treiben Münchens zu einer bescheidenen, aber jedenfalls um so zuverlässigeren Selbstabschätzung gelangt. Ich habe in diesen vierzehn Tagen so gewaltige innere Wandlungen durchgemacht, daß ich, wenn du mich anhören willst, allerdings auch als Sittenprediger reden kann.

VON KEITH gereizt. Dir treibt mein Glück die Galle ins Blut!

SCHOLZ. Ich glaube nicht an dein Glück! Ich bin so namenlos glücklich, daß ich die ganze Welt umarmen möchte, und wünsche dir aufrichtig und ehrlich dasselbe. Dazu gelangst du aber nie, solang du noch über die höchsten Werte des Lebens in deiner knabenhaften Weise spottest. Ich wußte, bis ich nach München kam, die Beziehungen zwischen Mann und Weib allerdings nur ihrer [494] seelischen Bedeutung nach zu würdigen, während mir der Sinnengenuß noch als etwas Gemeines erschien. Das war verkehrt. Aber du hast in deinem ganzen Leben an einem Weibe nie etwas Höheres als den Sinnengenuß geschätzt. Solange du nicht von deinem Standpunkt aus der sittlichen Weltordnung deine Zugeständnisse machst, wie ich es von meinem Standpunkt aus getan habe, solang wird all dein Glück ewig auf tönernen Füßen stehen!

VON KEITH sachlich. Die Dinge liegen ganz anders. Ich verdanke den letzten vierzehn Tagen meine materielle Freiheit und gelange infolgedessen endlich zum Genuß meines Lebens. Und du verdankst den letzten vierzehn Tagen deine geistige Freiheit und bist infolgedessen endlich zum Genuß deines Lebens gelangt.

SCHOLZ. Nur mit dem Unterschied, daß es mir bei all den Genüssen darum zu tun ist, ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu werden.

VON KEITH aufspringend. Warum soll man denn durchaus ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft werden?!

SCHOLZ. Weil man als etwas anderes keine Existenzberechtigung hat!

VON KEITH. Ich brauche keine Existenzberechtigung! Ich habe niemanden um meine Existenz gebeten und entnehme daraus die Berechtigung, meine Existenz nach meinem Kopfe zu existieren.

SCHOLZ. Dabei gibst du deine Frau, die drei Jahre alle Gefahren und Entbehrungen mit dir getragen hat, mit der größten Seelenruhe dem Elend preis!

VON KEITH. Was soll ich denn tun! Meine Ausgaben sind so horrend, daß ich für meinen eigenen Gebrauch nicht einen Pfennig übrig habe. Mit der ersten Rate meines Gehaltes habe ich meinen Anteil am Gründungskapital eingezahlt. Ich dachte einen Augenblick daran, das Geld anzugreifen, das mir zur Bestreitung der Vorarbeiten zur Verfügung steht. Aber das kann ich nicht. – Oder wolltest du mir dazu raten?

SCHOLZ. Ich kann dir eventuell schon noch zehn- oder zwanzigtausend Mark überlassen, wenn du dir nicht anders[495] helfen kannst. Ich bekam gerade heute zufällig einen Wechsel von meinem Verwalter über zehntausend Mark.


Entnimmt seinem Portefeuille einen Wechsel und reicht ihn von Keith hin.


VON KEITH reißt ihm das Papier aus der Hand. Komm mir dann aber bitte nicht gleich morgen wieder damit, du wollest das Geld zurückhaben!

SCHOLZ. Ich brauche es jetzt nicht. Die übrigen zehntausend Mark muß ich mir aber erst durch meinen Bankier aus Breslau schicken lassen.


Anna kommt in eleganter Straßentoilette aus dem Spielzimmer.


ANNA. Entschuldigen Sie, meine Herren, daß ich warten ließ.

SCHOLZ überreicht seine Blumen. Ich konnte mir die Freude nicht versagen, gnädige Frau, Sie am ersten Morgen Ihrer vielversprechenden künstlerischen Laufbahn von ganzem Herzen zu beglückwünschen.

ANNA stellt die Blumen in eine Vase. Ich danke Ihnen. Gestern abend vergaß ich in meiner Aufregung vollkommen, Sie danach zu fragen, wie es Ihnen denn eigentlich mit Ihren Verletzungen ergangen ist.

SCHOLZ. Die sind weiß Gott nicht der Rede wert. Mein Arzt sagt, ich könne in acht Tagen, wenn ich Lust dazu habe, auf die Zugspitze klettern. Ein Schmerz war mir gestern abend allerdings das schallende Hohngelächter, das der Herr Kapellmeister Zamrjaki mit seiner Symphonie hervorrief.

VON KEITH hat sich an den Schreibtisch gesetzt. Ich kann nicht mehr tun, als den Menschen Gelegenheit geben, ihr Können zu zeigen. Wer seinen Mann nicht stellt, der bleibt am Wege. Ich finde in München Kapellmeister genug.

SCHOLZ. Sagtest du denn nicht selbst von ihm, er sei das größte musikalische Genie, das seit Richard Wagner lebt?

VON KEITH. Ich werde doch meinen eigenen Gaul nicht Schindmähre nennen! Ich muß in jeder Sekunde für die Richtigkeit meiner Berechnungen einstehen. Sich erhebend. Ich war eben mit den Karyatiden auf dem Magistrat. Es handelte sich um die Frage, ob der Bau des Feenpalastes[496] für München ein Bedürfnis ist. Die Frage wurde einstimmig bejaht. Eine Stadt wie München läßt es sich ja gar nicht träumen, was sie für Bedürfnisse hat!

SCHOLZ zu Anna. Gnädige Frau haben jetzt vermutlich mit Ihrem glücklichen Impresario weltumfassende geschäftliche Pläne zu erörtern.

ANNA. Nein, bitte, wir haben nichts miteinander zu besprechen. Wollen Sie uns schon verlassen?

SCHOLZ. Sie erlauben mir vielleicht, daß ich mir in den nächsten Tagen wieder einmal die Ehre nehme?

ANNA. Ich bitte Sie darum; Sie sind jederzeit willkommen.


Scholz hat von Keith die Hand gedrückt. Ab.


VON KEITH. Die Morgenblätter bringen schon die begeistertsten Kritiken über dein gestriges Auftreten.

ANNA. Hast du denn jetzt endlich eine Nachricht, wo sich Molly befindet?

VON KEITH. Sie ist bei ihren Eltern in Bückeburg. Sie schwelgt in einem Ozean kleinbürgerlicher Sentimentalität.

ANNA. Zum zweitenmal werden wir uns nicht wieder so von ihr in Schrecken jagen lassen! Übrigens hatte sie wirklich nötig, dir zu beweisen, wie völlig entbehrlich sie dir ist!

VON KEITH. Dir ist die gewaltige Liebesleidenschaft Gott sei Dank ein Buch mit sieben Siegeln. Ist das nicht befähigt, einen zu beglücken, dann will es einem wenigstens das Haus über dem Kopf in Brand stecken!

ANNA. Du dürftest einem trotzdem etwas mehr Vertrauen zu deinen geschäftlichen Unternehmungen einflößen! Ein Vergnügen ist es gerade nicht, Tag und Nacht wie auf einem Vulkan zu sitzen!

VON KEITH. Wie komme ich denn gerade heute dazu, mir von allen Seiten moralische Vorlesungen halten lassen zu müssen?!

ANNA. Weil dein Treiben den Anschein hat, als müßtest du dich ununterbrochen betäuben! Du kennst keine Ruhe. Ich finde, sobald man im Zweifel ist, ob man dieses oder jenes tun soll, dann tut man am besten gar nichts. Dadurch allein, daß man etwas tut, setzt man sich immer schon allen erdenklichen Unannehmlichkeiten aus. Ich tue so wenig als irgendwie möglich und hatte meiner[497] Lebtag Glück damit. Du kannst es niemandem verdenken, daß er dir mißtraut, wenn du Tag und Nacht wie ein ausgehungerter Wolf hinter deinem Glücke herjagst.

VON KEITH. Ich kann nicht für meine Unersättlichkeit.

ANNA. Es sitzen aber manchmal Leute mit geladenen Flinten im Schlitten, dann geht es piff-paff.

VON KEITH. Ich bin kugelfest. Ich habe noch zwei spanische Kugeln von Kuba her in den Gliedern. Außerdem besitze ich die unverbrüchlichste Garantie für mein Glück.

ANNA. Das ist schon die richtige Höhe!

VON KEITH. Allerdings zu hoch für den menschlichen Herdenverstand! – Zwanzig Jahre mögen es sein, da standen der junge Trautenau und ich in kurzen Schoßröckchen in der getünchten Dorfkirche am Altar. Mein Vater spielte die Orgel dazu. Da drückte der Dorfpfarrer jedem von uns einen Bilderbogen mit einem Bibelspruch darauf in die Hände. Ich habe seitdem kaum jemals eine Kirche mehr von innen gesehen, aber mein Konfirmationsspruch hat sich an mir bewahrheitet, daß ich oftmals des Staunens keine Grenzen fand. Und stellt sich mir heute je eine Widerwärtigkeit in den Weg, dann kommt mich immer gleich ein verächtliches Lächeln an im Hinblick auf den Spruch: – »Wir wissen, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum besten dienen.«

ANNA. Denen, die Gott lieben?! – Dieser Liebe willst du auch noch fähig sein?!

VON KEITH. Auf die Frage hin, ob ich Gott liebe, habe ich alle bestehenden Religionen geprüft und fand bei keiner Religion einen Unterschied zwischen der Liebe zu Gott und der Liebe zum eigenen Wohlergehen. Die Liebe zu Gott ist überall immer nur eine summarische symbolische Ausdrucksweise für die Liebe zur eigenen Person.


Simba tritt vom Vorplatz ein.


SIMBA. Der Herr Marquis möchten einen Moment herauskommen. Der Sascha ist da.

VON KEITH. Warum kommt der Junge denn nicht herein?


Sascha kommt mit einem Telegramm.[498]


SASCHA. I hab' net g'wußt, darf i oder darf i net, weil der Herr Baron g'sagt haben, i soll in G'sellschaft koan Telegramm nicht überbringen.

VON KEITH erbricht das Telegramm, ballt es zusammen und wirft es weg. Verdammt noch mal! – Meinen Paletot!

ANNA. Von Molly?

VON KEITH. Nein! – Wenn nur um Gottes willen keine Seele davon erfährt!

ANNA. Ist sie denn nicht bei ihren Eltern in Bückeburg?

VON KEITH während ihm Sascha in den Paletot hilft. Nein!

ANNA. Du sagtest doch eben noch ...

VON KEITH. Ist denn das meine Schuld, daß sie nicht in Bückeburg ist?! – Eben setzt man den Fuß auf den grünen Zweig, da hat man den Hals in der Schlinge! –


Von Keith und Sascha ab.


SIMBA hebt das Telegramm auf und gibt es Anna. Der Herr Marquis haben das Telegramm vergessen.

ANNA. Wissen Sie, woher der Sascha stammt?

SIMBA. Der Sascha stammt aus der Au. Sei' Mutter ist Hausmeisterin.

ANNA. Dann kann er aber doch nicht Sascha heißen?

SIMBA. Ursprünglich heißt er Sepperl, aber der Herr Marquis haben ihn Sascha 'tauft.

ANNA. Bringen Sie mir meinen Hut.


Es läutet auf dem Korridor.


SIMBA. Sofort, gnädige Frau.


Geht, um zu öffnen.


ANNA liest das Telegramm. »... Molly nicht bei uns. Bitte umgehend Drahtnachricht, ob Sie Lebenszeichen von Molly haben. In entsetzlicher Angst ...«


Simba kommt zurück.


SIMBA. Der Herr Baron haben seine Handschuh vergessen.

ANNA. Welcher Baron denn?

SIMBA. Ich moan halt den Genußmenschen.

ANNA hastig suchend. Maria und Joseph, wo sind denn die Handschuhe ...!


Ernst Scholz tritt ein.[499]


SCHOLZ. Erlauben Sie mir noch zwei Worte, gnädige Frau.

ANNA. Ich bin eben im Begriff, auszugehen. Zu Simba. Meinen Hut, aber rasch! Simba ab.

SCHOLZ. Die Gegenwart meines Freundes hinderte mich daran, mich rückhaltlos auszusprechen ...

ANNA. Vielleicht warten Sie damit doch auch lieber auf eine passendere Gelegenheit.

SCHOLZ. Ich hoffte noch einige Tage auf Ihren Bescheid warten zu können. Meine Empfindungen, Frau Gräfin, tun mir einfach Gewalt an! Damit Sie nicht im Zweifel darüber sind, daß ich mit meinen Anerbietungen nur Ihr Glück erstrebe, erlauben Sie mir, Ihnen zu gestehen, daß ich Sie in – in ganz unsagbarer Weise liebe.

ANNA. Nun? Und was wären Ihre Anerbietungen?

SCHOLZ. Bis Sie als Künstlerin die Früchte einer unbestrittenen Anerkennung ernten, wird sich Ihnen noch manches Hindernis in den Weg stellen ...

ANNA. Das weiß ich, aber ich singe voraussichtlich nicht mehr.

SCHOLZ. Sie wollen nicht mehr singen? Wie mancher unglückliche Künstler gäbe sein halbes Leben darum, wenn er Ihre Begabung damit erkaufen könnte!

ANNA. Sonst haben Sie mir nichts mitzuteilen?

SCHOLZ. Ich habe Sie wieder, ohne zu ahnen, gekränkt. Sie hatten natürlich erwartet, ich werde Ihnen meine Hand antragen ...

ANNA. Wollten Sie denn das nicht?

SCHOLZ. Ich wollte Sie fragen, ob Sie meine Geliebte werden wollen. – Ich kann Sie als Gattin nicht höher verehren, als ich meine Geliebte in Ihnen ehren würde. Von jetzt an spricht er mit den rücksichtslosen, ausfallenden Gebärden eines Verrückten. Sei es der Gattin, sei es der Geliebten, ich biete Ihnen mein Leben, ich biete Ihnen alles, was ich besitze. Sie wissen, daß ich mich nur mit der größten Selbstüberwindung in die sittlichen Anschauungen fand, die hier in München maßgebend sind. Wenn mein Lebensglück an dem Siege zerschellen sollte, den ich nur über mich errungen habe, um an dem Lebensglück meiner Mitmenschen teilnehmen zu können, das wäre ein himmelschreiendes Narrenspiel![500]

ANNA. Ich glaubte, Ihnen wäre es nur darum zu tun, ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu werden!

SCHOLZ. Ich träumte von Weltbeglückung wie der Gefangene hinter Kerkergittern von Gletscherfirnen träumt! Jetzt erhoffe ich nur eines noch, daß ich die Frau, die ich in so ganz unsagbarer Weise liebe, so glücklich machen kann, daß sie ihre Wahl nie bereut.

ANNA. Ich bedaure, Ihnen sagen zu müssen, daß Sie mir gleichgültig sind.

SCHOLZ. Ich Ihnen gleichgültig?! Ich erhielt noch von keiner Frau mehr Beweise von Zuneigung als von Ihnen!

ANNA. Das ist nicht meine Schuld. Ihr Freund hatte Sie mir als einen Philosophen geschildert, der sich um die Wirklichkeit überhaupt nicht kümmert.

SCHOLZ. Mir hat nur die Wirklichkeit meine Philosophie abgerungen! Ich bin keiner von denen, die ihr Leben lang über irdische Nichtigkeit schwadronieren und die der Tod, wenn sie taub und lahm sind, noch mit Fußtritten vor sich her jagen muß!

ANNA. Dem Marquis von Keith hilft sein Konfirmationsspruch über jedes Mißgeschick hinweg! Er hält seinen Konfirmationsspruch für eine unfehlbare Zauberformel, vor der Polizei und Gerichtsvollzieher Reißaus nehmen!

SCHOLZ. Ich erniedrige mich nicht so tief, um an Vorbedeutungen zu glauben! Hätte dieser Glücksritter recht, dann erhielt ich bei meiner Konfirmation eine ebenso unverbrüchliche Zauberformel für mein Unglück. Mir gab unser Pastor damals den Spruch: »Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt.« – Aber das kümmert mich nicht! Hätte ich auch die untrüglichsten Beweise dafür, daß ich selber nicht zu den Auserwählten gehöre, das könnte mich immer nur in meinem unerschrockenen Kampf gegen mein Geschick bestärken!

ANNA. Verschonen Sie nur bitte mich mit Ihrem unerschrockenen Kampf!

SCHOLZ. Ich schwöre Ihnen, daß ich lieber auf meine gesunde Vernunft verzichte, als daß ich mich durch diese Vernunft davon überzeugen lasse, daß gewisse Menschen ohne jedes Verschulden von Anfang an von allem Lebensglück ausgeschlossen sind![501]

ANNA. Beklagen Sie sich darüber doch beim Marquis von Keith!

SCHOLZ. Ich beklage mich gar nicht! Je länger die harte Schule des Unglückes währt, desto gestählter wird die geistige Widerstandsfähigkeit. Es ist ein beneidenswerter Tausch, den Menschen wie ich eingehen. Meine Seele ist unverwüstlich!

ANNA. Dazu gratuliere ich Ihnen!

SCHOLZ. Darin liegt meine Unwiderstehlichkeit! Je weniger Sie für mich empfinden, desto größer und mächtiger wird in mir meine Liebe zu Ihnen, desto näher sehe ich den Augenblick, wo Sie sagen: Ich kämpfte gegen dich mit allem, was mir zu Gebote stand, aber ich liebe dich!

ANNA. Bewahre mich der Himmel davor!!

SCHOLZ. Davor bewahrt Sie der Himmel nicht! Wenn ein Mensch von meiner Willenskraft, die sich durch kein Mißgeschick hat brechen lassen, sein ganzes Sinnen und Trachten auf einen Vorsatz konzentriert, dann gibt es nur zwei Möglichkeiten: Er erreicht sein Ziel, oder er verliert den Verstand.

ANNA. Darin scheinen Sie wirklich recht zu haben.

SCHOLZ. Darauf lasse ich es auch ankommen! Alles hängt davon ab, was widerstandsfähiger ist, Ihre Gefühllosigkeit oder mein Verstand. Ich rechne mit dem schlimmsten Ausgang und wende, ehe ich am Ziel bin, keinen Blick zurück; denn kann ich mir aus der Seligkeit, die mich in diesem Augenblick erfüllt, kein glückliches Leben gestalten, dann ist keine Hoffnung mehr für mich. Die Gelegenheit bietet sich nicht wieder!

ANNA. Ich danke Ihnen von Herzen dafür, daß Sie mich daran erinnern!


Sie setzt sich an den Schreibtisch.


SCHOLZ. Es ist das letztemal, daß die Welt in all ihrer Herrlichkeit vor mir liegt!

ANNA ein Billett schreibend. Das trifft auch für mich zu! – Ruft. Kathi! – Für sich. Mir bietet sich die Gelegenheit auch nicht wieder.

SCHOLZ plötzlich zu sich kommend. Was argwöhnen Sie, gnädige Frau?! – Was argwöhnen Sie?? Sie täuschen sich, Frau Gräfin! – Sie hegen einen entsetzlichen Verdacht ...

ANNA. Merken Sie denn noch immer nicht, daß Sie mich aufhalten? Ruft. Kathi![502]

SCHOLZ. Ich kann Sie so unmöglich verlassen! Geben Sie mir die Versicherung, daß Sie nicht an meiner geistigen Klarheit zweifeln!


Simba tritt mit Annas Hut ein.


ANNA. Wo bleiben Sie denn so lange?

SIMBA. I hab mi net hereingetraut.

SCHOLZ. Simba, du weißt am besten, daß ich meiner fünf Sinne mächtig bin ...

SIMBA ihn zurückstoßend. Gehens, redens net so dumm!

ANNA. Lassen Sie doch mein Mädchen in Ruhe. Zu Simba. Wissen Sie die Adresse des Herrn Konsul Casimir?

SCHOLZ in plötzlicher Versteinerung. – – Ich trage das Kainszeichen auf der Stirn ...[503]

Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Berlin und Weimar 1969, S. 488-504.
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