Zweite Szene


[71] Die Zofe bringt auf einem silbernen Teller eine Karte herein.


DIE ZOFE. Der Herr läßt fragen, ob Herr Buridan zu sprechen sind.

BURIDAN liest die Karte. Dr. Cajetan Prantl. – Ich lasse bitten. Er geht mit der Zofe hinaus und kommt mit Dr. Prantl zurück. Wie komme ich zu dieser Auszeichnung, daß sich Hochwürden selbst zu mir bemühen?

DR. PRANTL eine jugendliche Erscheinung von tadellosem Auftreten. Ich bitte um Entschuldigung. Ich bin die drei Treppen augenscheinlich zu rasch heraufgestiegen.

BURIDAN. Ich wohne allerdings sehr hoch. Am Tage ist dafür die Aussicht um so freier. Darf ich Sie ersuchen, Platz zu nehmen.

DR. PRANTL sich setzend. Sie haben mir heute nachmittag die Ehre Ihres Besuches erwiesen. Nach Atem ringend. Verzeihen Sie, ich habe etwas mit meinem Herzen zu kämpfen.

BURIDAN setzt sich auf den Diwan. Bitte, wir haben Zeit.

DR. PRANTL. Sie hatten mir auf Ihrer Karte hinterlassen, daß Sie mich in einer sehr ernsten Angelegenheit dringend zu sprechen wünschten. Daher war es meine Pflicht, zu Ihnen zu kommen.

BURIDAN. Hoch würden wissen, um was es sich handelt.

DR. PRANTL. Ich kenne zwei Angelegenheiten, in denen Sie sich mir anvertraut haben. Die eine Angelegenheit ist Ihr Wunsch, sich mit der Dame, die Sie zu Ihrer Lebensgefährtin erwählt haben und die meines Wissens auch künstlerisch Ihre Partnerin ist, kirchlich trauen zu lassen. Ich komme selbstverständlich nur in der Voraussetzung zu Ihnen, daß es diese Angelegenheit ist, um derentwillen Sie mich heute aufgesucht haben.

BURIDAN. Selbstverständlich handelt es sich bei mir in erster Linie um meine kirchliche Trauung. Vielleicht gestatten Sie mir, Ihnen zu bekennen, daß mir, als ich Sie heute nachmittag zu sprechen suchte, die andere Angelegenheit auch ein ganz klein wenig am Herzen lag.[72]

DR. PRANTL. In dieser anderen Sache wäre ich natürlich nie in meinem Leben zu Ihnen gekommen.

BURIDAN. Selbstverständlich!

DR. PRANTL. Sie fragen in Ihrem Schreiben vom neunundzwanzigsten vorigen Monats bei uns an, welche Gründe Seine Exzellenz von Sporck zur Einsprache gegen die Aufführung Ihres Trauerspiels »Pandora« bewogen haben. Auf Ihre vorige Eingabe hatten wir Ihnen schon erwidert, daß Seine Exzellenz als Beichtvater Seiner Majestät diese Einsprache gegen die Aufführung Ihres Trauerspiels erheben mußten und daß die Einsprache Seiner Exzellenz unmöglich zurückgenommen werden könnte. Die Gründe, die uns zu unserer Einsprache nötigten, schriftlich zu Ihrer Kenntnis gelangen zu lassen, dazu sehen wir uns nicht im geringsten veranlaßt.

BURIDAN. Es schmerzt mich tief, Herr Doktor, daß der Ton, dessen Sie sich heute bedienen, so grundverschieden von der liebenswürdigen Herzlichkeit ist, mit der Sie mich bei meinem ersten Besuch bei Ihnen empfingen.

DR. PRANTL. Das erklärt sich einfach daraus, daß ich Ihrem Wunsch, sich kirchlich trauen zu lassen, damals unvergleichlich mehr Teilnahme entgegenbrachte als Ihren schriftstellerischen Mißhelligkeiten. Außerdem kannte ich damals auch den Inhalt Ihrer »Pandora« noch nicht.

BURIDAN. In allem, was ich bis jetzt geschrieben und veröffentlicht habe, findet sich nicht ein Wort, das Ihnen in Wirklichkeit Grund zu Ärgernis geben könnte.

DR. PRANTL. Ich habe Ihre sämtlichen Schriften derweil gelesen. Es handelt sich bei uns aber gar nicht darum, welche Wirkung Ihre Ansichten auf uns ausüben. Es handelt sich darum, welche Wirkung Ihre Ansichten auf den arglosen Zuschauer ausüben, der die öffentlichen Darstellungen besucht, um sich zu zerstreuen, und der, ohne etwas davon zu ahnen, mit einer Schädigung seiner sittlichen Empfindungen in sein Heim zurückkehrt.

BURIDAN. Dann bestehen Sie also darauf, daß der geistige und sittliche Gewinn, den der Zuschauer aus der Darbietung schöpfen soll, ihm in schwerfälligen Lehren auf den Heimweg mitgegeben werden muß?

DR. PRANTL. In zweifelhaften Fällen bestehen wir darauf![73]

BURIDAN. Das ist eines Künstlers gänzlich unwürdig!

DR. PRANTL einfach. Die Menschheit ist unserer Obhut anvertraut, nicht der Künstler!

BURIDAN. Aber kann denn die Kirche, die sämtliche Künste in ihren Dienst stellt – Musik, Malerei, Plastik, Dichtung, Schauspielerei; ich denke an die Mysterien des Mittelalters, an die lateinischen Theateraufführungen der Jesuiten – kann die Kirche die Kunst als ihre Feindin bekämpfen?

DR. PRANTL. Es ist unsere Pflicht, wenn die Kunst das Glück der Menschheit anfeindet.

BURIDAN sich erhebend. In Norddeutschland hat durch die Darstellungen meiner »Pandora« meines Wissens keine Seele Schaden genommen. Sie wissen vermutlich nicht, wie sich seinerzeit ein norddeutscher Zensor zu der Frage der öffentlichen Aufführung stellte? Nach einer kurzen Audienz, die er mir gütigst gewährte, hatte sich der Zensor davon überzeugt, daß in dem Stück nicht ein einziges spöttisches Wort enthalten ist, dessen Spott sich nicht durch die Verhältnisse, in denen es ausgesprochen wird, in tiefempfundenen wahrheitsgetreuen Ernst verwandelt. Darauf nahm er keine Rücksicht mehr auf die Gefahr, daß seine Entscheidung von einem ungebildeten Straßenpöbel falsch beurteilt werden könnte. In sichtlichem Stolz auf seine Machtbefugnis sagte er mir: Begreifen wird man Ihr Stück allerdings nicht ohne weiteres. Aber eben deshalb bin ich dafür, daß es so prompt als möglich zur öffentlichen Beurteilung gelangt. Wir Preußen haben uns nie vor der »Reinen Vernunft« gefürchtet.

DR. PRANTL. In Preußen ist man durch unsere weltliche Ordnung in Anspruch genommen. Wir haben es mit dem seelischen Wohl der Menschen zu tun. Wir können uns auf Ihre Zumutungen nicht einlassen, weil Ihrem Wirken die Aufrichtigkeit fehlt Ihnen fehlt die seelische Lauterkeit, die anima candida. Es fehlt Ihnen das Hochzeitsgewand, das auch vom ärmsten Bettler gefordert wird, wenn er nicht in die tiefste Hölle geworfen werden soll.

BURIDAN. Darin bewährt sich der untilgbare Fluch, den ich in dieses Erdendasein mitbekommen habe! Was ich mit[74] dem tiefsten Ernst meiner Überzeugung ausspreche, halten die Menschen für Lästerungen. Soll ich mich nun deshalb in Widerspruch mit meiner Überzeugung setzen? Soll ich mit klarstem Bewußtsein unecht, unaufrichtig, unwahr werden, damit die Menschen an meine Aufrichtigkeit glauben? Um das tun zu können, müßte ich der Lästerer sein, für den mich die Menschen halten!

DR. PRANTL erhebt sich, mit fester Stimme. Ich komme nicht hierher, um Ihre bösen, sondern um Ihre guten Geister heraufzubeschwören! Beruhigen Sie sich doch!

BURIDAN. Was hilft alle Liebe zum Guten, wenn sich das Gute nicht lieben lassen will! Ich jammerte nie über die schimpflichen Lebenslagen, in die mich das allgemeine Mißverständnis geraten ließ; ich nutzte vielmehr die schimpflichen Lebenslagen nur wieder dazu aus, um die ewigen Gesetze klarzulegen, die sich in ihnen offenbarten. Aber auch darin erschien ich wieder als Spötter!

DR. PRANTL heftiger. Das haben Sie Ihrem doppelzüngigen Beruf zu danken! Wer traut einem Menschen, der aller Welt gegen Eintrittsgeld auftischt, was er zu Hause mit sich selbst auskämpfen sollte. Täglich sehe ich in meiner Eigenschaft als Zensor, wie unheilvoll der Schriftsteller das Wesen seines Berufes verkennt. Warum zerren Sie immer und immer wieder auf die Bühne, was nicht auf die Bühne gehört?! Bleiben Sie doch in Ihrem Bereich! Ihre Arbeit ist Modeware! Ihr Geschäft ist ein Glücksspiel!

BURIDAN ruhiger. Aber können Sie mir denn irgend etwas aus meinen Schriften anführen, was nicht zum letzten Zwecke hätte, die ewige Gesetzmäßigkeit, vor der wir alle demütig auf den Knien liegen, künstlerisch zu gestalten und zu verherrlichen?

DR. PRANTL. Was nennen Sie die ewige Gesetzmäßigkeit?

BURIDAN. Ich verstehe unter ewiger Gesetzmäßigkeit dasselbe, was der Evangelist Johannes den Logos nennt. Ich verstehe darunter dasselbe, was die gesamte Christenheit als Heiligen Geist anbetet. In keiner meiner Arbeiten habe ich das Gute als schlecht oder das Schlechte als gut hingestellt. Ich habe die Folgen, die dem Menschen aus seinen Handlungen erwachsen, nirgends gefälscht.[75] Ich habe diese Folgen überall immer nur in ihrer unerbittlichen Notwendigkeit zur Anschauung gebracht.

DR. PRANTL. Lassen Sie mich einen Augenblick über Ihre Arbeiten nachdenken. Jedenfalls war ich mir während des Lesens nicht bewußt, es mit einem Schriftsteller zu tun zu haben, der das Leben so ernst nimmt.

BURIDAN sehr leicht. Aber welche Kurzweil bereitet uns denn das Leben, wenn wir es nicht ernst nehmen?! Ein Spieler, der das Spiel nicht ernst nimmt, ist ein Spielverderber! Ich möchte mein Leben so ernst nehmen, wie einer meiner Bekannten das Kegelschieben. Mein Bekannter sowohl wie ich, wir möchten beide um unseren höchsten Genuß nicht betrogen sein. Sobald wir uns über die Gesetze des Spieles hinwegsetzen, ist die Freude am Spiel dahin. Mißverständnisse, Schimpfreden, Schlägereien, wüster Aberglaube und dumpfe Verzweiflung sind die Früchte – alles Ergebnisse, um derentwillen das Leben nicht lebenswert ist.

DR. PRANTL. Habe ich Sie nicht vielleicht doch schon wieder eine Sekunde lang zu ernst genommen?

BURIDAN. Lassen Hochwürden unsere heutige Aussprache nicht fruchtlos sein! Legen Sie bei Seiner Exzellenz ein empfehlendes Wort für die Aufführung meiner »Pandora« ein! Keine neue Kunst in dieser Welt hat noch je dem Geist, dessen Gesandter Sie sind, widersprochen. Keine Wahrheit, mag sie noch so unerwartet kommen, noch so verblüffend klingen, wird diesem Geiste je widersprechen. Darin eben besteht doch gerade die Göttlichkeit der Religion, daß sie als ewige Herrscherin in unerreichbarer Höhe über allen Wandlungen des Menschengeistes thront! Nein, darin allein besteht ihre Göttlichkeit natürlich nicht. Darüber brauchen Sie mich nicht aufzuklären. Die Religion ist vor allem die hilfreiche Trösterin im Unglück. Das hat niemand so am eigenen Leibe erfahren wie ich! Die Religion lehrt uns jedes beliebige Unglück, das unsere menschliche Berechnung durchkreuzen möchte, von vornherein berechnen. Die Religion hat den größten und einzigen Feind des Menschen, sie hat den Zufall in Ketten geworfen. Die Religion schlägt einen glänzenden Saltomortale über[76] unsere jämmerliche Ohnmacht, in der wir ohne sie der Willkür des Schicksals überantwortet sind. Wer ihre göttliche Unüberwindlichkeit einmal erkannt hat, der sagt mit nüchternster Geistesruhe: Tod, wo ist dein Stachel! Hölle, wo ist dein Sieg!

DR. PRANTL. Wie mir scheint, verehren Sie in der Religion nichts Höheres als die Kunstfertigkeit, auf jede Frage eine Antwort zu wissen und aus jeder Klemme einen Ausweg zu finden!

BURIDAN. Auf jeden Fall kenne ich nichts Bedauernswürdigeres auf dieser Welt als einen Dummkopf, der nicht an Gott glaubt!

DR. PRANTL. Sie sprechen über Religion wie ein Börsenmakler über den Kurszettel, wie ein Jockei über Pferderennen spricht! Ihnen fehlt jede geringste Spur von christlicher Demut! Die Religion ist nicht Sache der Vernunft! Die Religion ist Sache des Herzens!

BURIDAN. Aber doch wohl nur für denjenigen, der seine eigenen Gedanken nicht zu Ende denken kann! Dem die Gedankenarbeit, die die menschliche Vernunft seit Jahrtausenden bewältigt hat, ein Buch mit sieben Siegeln ist!

DR. PRANTL. Ein Mensch von sittlichen Empfindungen kann seine eigenen Gedanken nicht zu Ende denken! Das ist ein Ding der Unmöglichkeit! Wozu bedürften wir denn des Glaubens, wenn wir mit unserer Vernunft auskämen! Sie kranken an einem geistigen Hochmut, wie ich ihn bei den verstocktesten Verbrechernaturen auf dem Schafott nicht verblüffender gefunden habe.

BURIDAN. Darf ich mir jetzt die Freiheit nehmen, Sie darum zu bitten, sich etwas beruhigen zu wollen?

DR. PRANTL ruhiger. Ein wahrhaft gläubiger Mensch kann über seinen Glauben ebensowenig sprechen, wie ein wahrhaft keusches Mädchen über seine Keuschheit sprechen kann.

BURIDAN sehr ruhig. Ich finde die Art, wie Sie Ihren Beruf auslegen, einfach irrig. Es hat ja allerdings einmal jemand gesagt: Wo die Vernunft aufhört, beginnt der Glaube. Ich erblicke darin eine Herabwürdigung des Glaubens. Ich finde, daß in dem ganzen Riesendom unseres Glaubens[77] die Vernunft nirgends aufhört. Ich finde im Gegenteil, daß die höchste Spitze dieses herrlichen Gebäudes aus der höchsten, auf ewig unübersteigbaren Entfaltung der Vernunft besteht. Ich finde, daß jeder Pfeiler, jedes Gewölbe dieses Gebäudes nur durch die Vernunft im unerschütterlichen Gleichgewicht festgehalten wird, nur durch die Vernunft seit Jahrtausenden gegen jeden Wolkenbruch, gegen jedes Erdbeben gesichert ist.

DR. PRANTL. Es ist nicht gerade taktvoll von Ihnen, daß Sie mir auf diesem Gebiet das richtige Verständnis absprechen. Die Anschauungen, die Sie äußern, sind schon zu den verschiedensten Zeiten aufgetaucht und wurden jedesmal gründlich widerlegt. Ich rufe Ihnen mit einem Wort den Unterschied zwischen Ihren halsbrecherischen Rechenkünsten und der Allmacht, die Sie damit verwechseln, ins Gedächtnis: Glauben Sie an die Unsterblichkeit der menschlichen Seele?

BURIDAN. Glauben? – Ich sehe sie bewiesen durch jedes Lied, das gesungen wird. – Aber ich kann Ihnen aus tiefstem Herzen versprechen, daß ich Sie solcher Meinungsverschiedenheiten wegen niemals anfeinden würde.

DR. PRANTL entrüstet. Sie bilden sich wohl gar ein, daß wir uns vor Ihnen fürchten?!

BURIDAN ängstlich. Wie kommen Sie auf den Verdacht! Ich wagte damit anzudeuten, daß Sie nie etwas von mir zu fürchten haben würden. Mir ist meine innerste Überzeugung viel zu heilig, als daß ich sie je einem Menschen enthüllen würde, von dem ich nicht vollkommen sicher bin, daß er genau ebenso denkt wie ich.

DR. PRANTL. Ich kann Ihnen gar nicht ausdrücken, wie absolut gleichgültig uns Ihre Geheimniskrämerei ist! Sie befinden sich in einer bejammernswerten Verblendung, wenn Sie sich darauf verlassen, daß es in der christlichen Religion eine Geheimlehre gibt!

BURIDAN. Setzen wir einmal ruhig den Fall, es gäbe eine solche Geheimlehre, woher könnten Sie dann wissen, ob man sie Ihnen bis zum heutigen Tage nicht vorenthalten hat?

DR. PRANTL. Wenn Sie hoffen, uns mit derartigen zweideutigen Zugeständnissen die Freigabe Ihrer Theatervorstellung[78] abdisputieren zu können, dann täuschen Sie sich gewaltig!

BURIDAN. Ich kann Ihnen bei allem, was heilig ist, schwören, daß mir die Freigabe meiner Theatervorstellung in diesem Augenblick vollständig gleichgültig ist! Diese Freigabe war mir aber auch schon beinahe ebenso gleichgültig, als ich vor vier Wochen zu Ihnen kam. Und wenn ich Ihnen damals den Wunsch aussprach, mit meiner Lebensgefährtin kirchlich getraut zu werden, so lag mir auch unsere kirchliche Trauung dabei nur sehr gering am Herzen, so war mir unsere kirchliche Trauung nicht weniger als die Freigabe meiner »Pandora« – damals auch in letzter Linie nur ein willkommener Anknüpfungspunkt, nur ein Mittel zum Zweck. Das einzige Ziel, das ich mit allem, was ich mit Ihnen besprach, mit allem, um das ich Sie bat, verfolgt habe, sehnsüchtig verfolgt habe, heißhungrig verfolgt habe, waren Sie!

DR. PRANTL. Ich?!

BURIDAN. Sie! Ihr Reich! Der Geist, dessen Verkünder und Kämpfer Sie sind! Der Einklang, den ich seit frühester Kindheit mit diesem Reiche suche! Das Einverständnis, das ich seit frühester Kindheit mit den Wissenden der ewigen Wahrheiten suche! Ihr Beruf als Priester macht es Ihnen zur Pflicht, mich nicht zurückzuweisen! Sie glauben ja nicht, wie heiß, wie inbrünstig meine Seele nach dem Reiche verlangt, in dem zu wirken und zu kämpfen Sie das beneidenswerte Glück haben! Was gäbe ich in diesem Augenblick darum, wenn ich an Ihrer und Sie an meiner Stelle wären! Jedenfalls kann ich ohne Übertreibung behaupten, daß ich, ohne mich in Ihrem Reiche ergehen zu dürfen, einfach nicht leben kann. Ich meine das buchstäblich. Was seit Jahrtausenden als höchster Lebensgenuß geschätzt wird – von sinnlichen Genüssen rede ich natürlich gar nicht, aber Kunst und Literatur –, das alles verliert nicht nur jeden Reiz für mich, sondern erregt mir ausgesprochenen Widerwillen, wenn es mir einige Zeit versagt war, mein Inneres mit den Gesetzen, durch die die Welt regiert wird, in Einklang zu bringen. Und dieser Zustand äußert sich körperlich bei mir. Bei den reichlichsten Mitteln, die der[79] Mensch zur Befriedigung all seiner Begierden nötig hat, würde ich in einem solchen Fall kurzweg Hungers sterben. Ich wüßte auch nichts, was mir in dieser Welt so lieb wäre, daß ich es nicht kalten Blutes opferte, wenn mich das Opfer mit dem, was ich als Höchstes, als Ewiges anbete, aussehnen könnte.

DR. PRANTL. Ich bin kein blinder Eiferer; von dieser Verirrung fühle ich mich vollkommen frei. Ich kenne die fast unbegrenzte Weitherzigkeit der Religion von Grund aus und verehre in dieser Weitherzigkeit eine ihrer herrlichsten Segnungen. Aber einem verbissenen, fanatischen Menschenverächter, wie Sie es in all Ihren Schriften sind, die Religion der Nächstenliebe als willkommenes Reklamematerial auszuliefern, vor diesem fürchterlichen Frevel möge mich mein guter Engel bewahren!

BURIDAN. Weil ich die unvermeidlichen Folgen menschlicher Handlungen schildere, deshalb bin ich ein verbissener Menschenverächter!

DR. PRANTL. Nicht deshalb, weil Sie diese Folgen schildern, sondern wegen der empörenden Freude, die Ihnen die hilflose Verzweiflung Ihrer Mitmenschen bereitet! Wegen Ihrer himmelschreienden Lieblosigkeit! Und dabei wollen Sie uns überreden, mit Ihnen Hand in Hand zu gehen!? Die Kirche hat den göttlichen Beruf, das Leben der Menschen zu schützen und zu behüten! Ihnen ist das Schauspiel menschlicher Vernichtung höchster Lebensgenuß! Sie kommen wie ein Triumph des Bösen, wie eine Lustseuche über unsere Generation! Vernichtete menschliche Existenzen sind die Marksteine an Ihrem Lebensweg! Ist nicht erst neulich wieder ein junges Geschöpf in der schauerlichsten Weise in den Tod gegangen, nachdem es einen Blick in Ihre Bücher geworfen hatte?

BURIDAN auf dem Diwan. Sprechen Sie mir nicht davon! Um Gottes Barmherzigkeit, sprechen Sie nicht davon! Das Unglück lag in Familieneigentümlichkeiten begründet. Leichtlebige Menschen gehen leicht in den Tod.

DR. PRANTL. Mich wundert nur, daß Sie dieses Unglück nicht auch schon in irgendeinem Ihrer Dramen auf die Bühne gezerrt haben![80]

BURIDAN aufspringend. Wenn mir die Schilderung des Unglücks Genugtuung bereitet, so habe ich dafür auch ebensoviel getan, um die Freuden unseres irdischen Daseins in all ihrer ursprünglichen Pracht und Herrlichkeit wieder aufleben zu lassen! Das ist mein höchster Stolz, daß mich auch die erdenklichsten Widerwärtigkeiten nicht in die Reihen der Verneiner, der Pessimisten zu drängen vermochten! Hören Sie mich noch eine Minute an, Herr Doktor! Ich habe große Pläne in meinem Kopf. Es ist sonst nicht meine Art, mit Projekten zu prahlen. Ihnen muß ich zu meiner Rechtfertigung mein geheimstes Innere aufdecken. Seit frühester Kindheit arbeite ich daran, die Verehrung, die uns die schöne Natur einflößt, mit der Verehrung auszusöhnen, die uns die ewigen Weltgesetze abtrotzen. An der Schönheit der Weltgesetze haben wir keine Freude. Vor den Gesetzen weltlicher Schönheit hegen wir keine Achtung. Die Wiedervereinigung von Heiligkeit und Schönheit als göttliches Idol gläubiger Andacht, das ist das Ziel, dem ich mein Leben opfere, dem ich seit frühster Kindheit zustrebe.

DR. PRANTL. Sie treten in kein Gotteshaus ein, ohne Heiligkeit und Schönheit aufs innigste miteinander vereinigt zu finden. In Ihrem Münde klingt die Zusammenstellung entsetzenerregend. Was Sie Schönheit nennen, sind Zirkusspiele, Seiltänzerei, niedrige Ausschweifungen! Auf dem Altar der von Ihnen verherrlichten Schönheit schlachten Sie Menschenkinder ab, mit denen Sie vorher Ihr sündiges Spiel getrieben hatten!

BURIDAN. Ich verwahre mich gegen diesen Vorwurf! Ich kenne keinen heiligeren Besitz in dieser Welt als den Besitz an geliebten Menschen! So wahr wie ich keine höhere Gottheit anerkennen kann als die höchste Entfaltung der uns offenbarten Vernunft – schon aus dem einzigen Grunde, weil das höchste, das edelste Ergebnis der uns offenbarten Vernunft die menschliche Güte ist, während Sie mit aller erdenklichen Herzensgüte nie dazu gelangen, sich Vernunft zu erkämpfen!

DR. PRANTL lächelnd. Ihre menschliche Gute würde Ihre Vernunft aber nie daran hindern, über das unglückliche[81] Geschöpf, das eben unter Ihren Füßen zugrunde gegangen ist, ein Theaterstück zu schreiben! Das ist ja das Grauenvolle an Ihren Aufführungen, daß alles darin die lebendigste Wirklichkeit ist! Statt eines Spiels führen Sie Unglücksfälle herbei! Stirbt ein Mensch bei Ihnen, dann ist eben ein Menschenleben dahin! Von geistiger Betätigung keine Spur! Und dieser Scheußlichkeiten rühmen Sie sich womöglich noch! Man sitzt vor Ihrer Kunst wie das kaiserliche Rom vor Gladiatorenkämpfen und Christenverfolgungen! Raubtierhetzen sind der Gipfelpunkt dessen, was Sie Kunst nennen! Ihre Kunst ist die fürchterlichste Gotteslästerung, die seit Jahrtausenden von einem Menschengehirn ersonnen wurde!

BURIDAN im Klubsessel. Gotteslästerung! – Ich habe mein halbes Leben lang ohne Kunst gelebt. Ohne Religion könnte ich nicht eine Minute leben.

DR. PRANTL. Stammt denn vielleicht das Wort von der Wiedervereinigung von Kirche und Freudenhaus im sozialistischen Zukunftsstaat nicht von Ihnen?! Ist das etwa keine Gotteslästerung?!

BURIDAN. Dieses Wort, Herr Doktor, ist nicht von mir! Aufspringend. Dieses Wort habe ich nie geschrieben! Dies Wort habe ich niemals ausgesprochen! Auf welche Weise kann ich Sie so rasch wie möglich von dieser Tatsache überzeugen?! Lassen Sie meine sämtlichen Schriften vom ersten bis zum letzten Buchstaben durchsuchen. Sie stoßen nirgends auf dieses Wort. Ebensowenig finden Sie irgendeinen Zeugen, der das Wort jemals aus meinem Munde gehört hat. Das Wort ist eine der zahllosen Verleumdungen, die die Zeitungsrezensenten erfanden, um mich auf einige Jahre ins Gefängnis zu bringen! – Um wieviel leidenschaftlicher, um wieviel ehrfurchtsvoller ich dem Widerstreit zwischen Geistesgewalt und Weltlust gegenüberstehe, das beweist Ihnen meine »Anleitung zur Überwindung der Todesschauer«. Er nimmt ein Buch vom Büchergestell, schlägt eine Seite auf und überreicht es Dr. Prantl. Ich bitte Hochwürden inständig darum, nur die ersten zehn Seiten dieser Anleitung lesen zu wollen.[82]

DR. PRANTL liest laut, langsam und aufmerksam. Die Furcht vor dem Tode ist ein Denkfehler. – Viele Leiden sind schmerzlicher als Sterben. – Alles Leiden ist schmerzlicher als der Tod. – Fürchten wir uns nur, geboren zu werden! – Jeder bringt seinen ärgsten Feind mit zur Welt. – Mit klaffenden Wunden bekämpfen wir ihn unser halbes Leben lang, und hoffen wir endlich, ihn zu Boden geworfen zu haben, – dann ...


Derweil ist Kadidja, in ein beliebiges geschmackvolles Phantasiekostüm gekleidet, durch die Seitentür eingetreten. Sie hat die Lauftrommel hinter dem Wandschirm vorgeholt, ist darauf gestiegen und rollt sie unter ihren Füßen nach vorn. Sie fürchtet zu fallen und stützt sich auf das Wort »dann« einen Augenblick flüchtig auf die Schultern Dr. Prantls.


KADIDJA. Ach, entschuldigen Sie bitte!


Dr. Prantl wendet sich rasch nach ihr um, hebt im ersten Erstaunen die Hände zum Herzen, faßt sich aber rasch und betrachtet Kadidja mit ruhigem Lächeln.


KADIDJA rollt die Trommel unter ihren Füßen einige Schritte rückwärts. Verzeihen Sie, daß ich Sie erschreckt habe.

DR. PRANTL legt lächelnd das Buch beiseite. Da ist er ja schon – der Feind! der Versucher! – die Schlange des Paradieses! – Zu Buridan. Wollen Sie auch jetzt noch behaupten, daß jenes Wort nicht von Ihnen stammt? – Kadidja betrachtend. Die Erscheinung ist echt! – – Fürchten Sie nichts, mein Kind. Es kommt mir gar nicht in den Sinn, Sie herabwürdigen zu wollen. Ich habe es hier nur mit diesem Herrn zu tun, der es versucht hat, uns ein inniges Verlangen nach den Segnungen der Kirche vorzuspiegeln, in der Hoffnung, wir würden ihm daraufhin die öffentliche Aufführung seiner – fragwürdigen Theaterstücke gestatten. Zu Buridan sehr ruhig. Sie werden sich schlechterdings damit abfinden müssen, daß wir für so – abenteuerliche Tauschgeschäfte nicht zu haben sind. Wir lassen uns nicht verführen. Am allerwenigsten aber sind wir durch zauberhafte Gaukelspielereien zu erschüttern, die Ihre mittelalterliche Menschenkenntnis offenbar ausgebrütet hat, um in den Bekämpfern[83] Ihres verderblichen Treibens die niedrigsten Begierden wachzurufen.

BURIDAN. Ich muß Ew. Hochwürden aufs demütigste um Nachsicht bitten. Durch zwei Worte, die Sie mir gütigst gestatten wollen, ist die unvorhergesehene Störung unseres Gespräches aufgeklärt.

KADIDJA. Soll ich die Herren allein lassen?

DR. PRANTL. Bleiben Sie nur, mein Kind. Zu Buridan. Eine unvorhergesehene Störung nennen Sie das? – Geben Sie Ihre wirkungslosen Verstellungskünste doch endlich auf. Diese zauberhafte Märchenerscheinung legte ihre weißen Hände in demselben Augenblick auf meine Schultern, als ich aus Ihrem Buche die von Ihnen dazu verfaßte Beschwörungsformel abgelesen hatte! Kadidja musternd. Zu dieser Gegenüberstellung also locken Sie mich in Ihr Haus! Den Kopf schüttelnd. Nein! Ich eigne mich zur Verwirklichung Ihrer Pläne ganz und gar nicht.

BURIDAN. Ich muß Ihren Spott geduldig über mich ergehen lassen.

DR. PRANTL bis zum Schluß ruhig bleibend. Es fällt mir so wenig ein, Ihrer zu spotten, wie ich mich je dazu verleiten lassen werde, Sie ernst zu nehmen. Sie spotten eines jeden, der Sie ernst nimmt. Und dem ersten, der Ihrer spottet, zerschmettern Sie wenn möglich die Schläfen. Vielleicht ist Ihnen aber doch das Gebot bekannt: »Du sollst Gott nicht versuchen!« Sie werden sich wohl noch einmal davon überzeugen, daß kein Sterblicher, und stehe er noch so selbstherrlich in der Welt, ungestraft die ewige Allmacht versucht. Ab.


Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 1969, S. 71-84.
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