[152] Ein Schlafgemach. – Frau Bergmann, Ina Müller und Medizinalrat Dr. v. Brausepulver. – Wendla im Bett.
DR. VON BRAUSEPULVER. Wie alt sind Sie denn eigentlich?
WENDLA. Vierzehn ein halb.
DR. VON BRAUSEPULVER. Ich verordne die Blaudschen Pillen seit fünfzehn Jahren und habe in einer großen Anzahl von Fällen die eklatantesten Erfolge beobachtet. Ich ziehe sie dem Lebertran und den Stahlweinen vor. Beginnen Sie mit drei bis vier Pillen pro Tag und steigern Sie so rasch Sie es eben vertragen. Dem Fräulein Elfriede Baronesse von Witzleben hatte ich verordnet, jeden dritten Tag um eine Pille zu steigern. Die Baronesse[152] hatte mich mißverstanden und steigerte jeden Tag um drei Pillen. Nach kaum drei Wochen schon konnte sich die Baronesse mit ihrer Frau Mama zur Nachkur nach Pyrmont begeben. – Von ermüdenden Spaziergängen und Extramahlzeiten dispensiere ich Sie. Dafür versprechen Sie mir, liebes Kind, sich um so fleißiger Bewegung machen zu wollen und ungeniert Nahrung zu fordern, sobald sich die Lust dazu wieder einstellt. Dann werden diese Herzbeklemmungen bald nachlassen – und der Kopfschmerz, das Frösteln, der Schwindel – und unsere schrecklichen Verdauungsstörungen. Fräulein Elfriede Baronesse von Witzleben genoß schon acht Tage nach begonnener Kur ein ganzes Brathühnchen mit jungen Pellkartoffeln zum Frühstück.
FRAU BERGMANN. Darf ich Ihnen ein Glas Wein anbieten, Herr Medizinalrat?
DR. VON BRAUSEPULVER. Ich danke Ihnen, liebe Frau Bergmann. Mein Wagen wartet. Lassen Sie sich's nicht so zu Herzen gehen. In wenigen Wochen ist unsere liebe kleine Patientin wieder frisch und munter wie eine Gazelle. Seien Sie getrost. – Guten Tag, Frau Bergmann. Guten Tag, liebes Kind. Guten Tag, meine Damen. Guten Tag.
Frau Bergmann geleitet ihn vor die Tür.
INA am Fenster. – Nun färbt sich eure Platane schon wieder bunt. – Siehst du's vom Bett aus? – Eine kurze Pracht, kaum recht der Freude wert, wie man sie so kommen und gehen sieht. – Ich muß nun auch bald gehen. Müller erwartet mich vor der Post und ich muß zuvor noch zur Schneiderin. Mucki bekommt seine ersten Höschen, und Karl soll einen neuen Trikotanzug auf den Winter haben.
WENDLA. Manchmal wird mir so selig – alles Freude und Sonnenglanz. Hätt ich geahnt, daß es einem so wohl ums Herz werden kann! Ich möchte hinaus, im Abendschein über die Wiesen gehn, Himmelsschlüssel suchen den Fluß entlang und mich ans Ufer setzen und träumen ... Und dann kommt das Zahnweh, und ich meine, daß ich morgen am Tag sterben muß; mir wird heiß und kalt, vor den Augen verdunkelt sich's, und dann[153] flattert das Untier herein – – – Sooft ich aufwache, seh ich Mutter weinen. Oh, das tut mir so weh – ich kann's dir nicht sagen, Ina!
INA. – Soll ich dir nicht das Kopfkissen höher legen?
FRAU BERGMANN kommt zurück. Er meint, das Erbrechen werde sich auch geben; und du sollst dann nur ruhig wieder aufstehn ... Ich glaube auch, es ist besser, wenn du bald wieder aufstehst, Wendla.
INA. Bis ich das nächste Mal vorspreche, springst du vielleicht schon wieder im Haus herum. – Leb wohl, Mutter. Ich muß durchaus noch zur Schneiderin. Behüt dich Gott, liebe Wendla. Küßt sie. Recht, recht baldige Besserung!
WENDLA. Leb wohl, Ina. – Bring mir Himmelschlüssel mit, wenn du wiederkommst. Adieu. Grüße deine Jungens von mir.
Ina ab.
WENDLA. Was hat er noch gesagt, Mutter, als er draußen war?
FRAU BERGMANN. Er hat nichts gesagt. – Er sagte, Fräulein von Witzleben habe auch zu Ohnmachten geneigt. Es sei das fast immer so bei der Bleichsucht.
WENDLA. Hat er gesagt, Mutter, daß ich die Bleichsucht habe?
FRAU BERGMANN. Du sollest Milch trinken und Fleisch und Gemüse essen, wenn der Appetit zurückgekehrt sei.
WENDLA. O Mutter, Mutter, ich glaube, ich habe nicht die Bleichsucht ...
FRAU BERGMANN. Du hast die Bleichsucht, Kind. Sei ruhig, Wendla, sei ruhig; du hast die Bleichsucht.
WENDLA. Nein, Mutter, nein! Ich weiß es. Ich fühl es. Ich habe nicht die Bleichsucht. Ich habe die Wassersucht ...
FRAU BERGMANN. Du hast die Bleichsucht. Er hat es ja gesagt, daß du die Bleichsucht hast. Beruhige dich, Mädchen. Es wird besser werden.
WENDLA. Es wird nicht besser werden. Ich habe die Wassersucht. Ich muß sterben, Mutter. – O Mutter, ich muß sterben!
FRAU BERGMANN. Du mußt nicht sterben, Kind! Du mußt nicht sterben ... Barmherziger Himmel, du mußt nicht sterben!
WENDLA. Aber warum weinst du dann so jammervoll?[154]
FRAU BERGMANN. Du mußt nicht sterben – Kind! Du hast nicht die Wassersucht. Du hast ein Kind, Mädchen! Du hast ein Kind! – Oh, warum hast du mir das getan!
WENDLA. – Ich habe dir nichts getan –
FRAU BERGMANN. O leugne nicht noch, Wendla! – Ich weiß alles. Sieh, ich hätt es nicht vermocht, dir ein Wort zu sagen. – Wendla, meine Wendla ...!
WENDLA. Aber das ist ja nicht möglich, Mutter. Ich bin ja doch nicht verheiratet ...!
FRAU BERGMANN. Großer, gewaltiger Gott –, das ist's ja, daß du nicht verheiratet bist! Das ist ja das Fürchterliche! – Wendla, Wendla, Wendla, was hast du getan!!
WENDLA. Ich weiß es, weiß Gott, nicht mehr! Wir lagen im Heu ... Ich habe keinen Menschen auf dieser Welt geliebt als nur dich, dich, Mutter.
FRAU BERGMANN. Mein Herzblatt –
WENDLA. O Mutter, warum hast du mir nicht alles gesagt!
FRAU BERGMANN. Kind, Kind, laß uns einander das Herz nicht noch schwerer machen! Fasse dich! Verzweifle mir nicht, mein Kind! Einem vierzehnjährigen Mädchen das sagen! Sieh, ich wäre eher darauf gefaßt gewesen, daß die Sonne erlischt. Ich habe an dir nicht anders getan, als meine liebe gute Mutter an mir getan hat. – O laß uns auf den lieben Gott vertrauen, Wendla; laß uns auf Barmherzigkeit hoffen und das Unsrige tun! Sieh, noch ist ja nichts geschehen, Kind. Und wenn nur wir jetzt nicht kleinmütig werden, dann wird uns auch der liebe Gott nicht verlassen. – Sei mutig, Wendla, sei mutig! – – So sitzt man einmal am Fenster und legt die Hände in den Schoß, weil sich doch noch alles zum Guten gewandt, und da bricht's dann herein, daß einem gleich das Herz bersten möchte ... Wa – was zitterst du?
WENDLA. Es hat jemand geklopft.
FRAU BERGMANN. Ich habe nichts gehört, liebes Herz. –
Geht an die Tür und öffnet.
WENDLA. Ach, ich hörte es ganz deutlich. – – Wer ist draußen?
FRAU BERGMANN. – Niemand – – Schmidts Mutter aus der Gartenstraße. – – – Sie kommen eben recht, Mutter Schmidtin.[155]
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