Dritte Szene

[28] Franziska, später Veit Kunz.


FRANZISKA allein. Gewissensbisse?! – Er fühlt sie wegen seiner Handlungen, ich meiner Natur wegen. Sie setzt sich in einen Lehnstuhl und nimmt den Kopf zwischen beide Hände. Diese Überrumplung! Wie konnte ich mir einen Augenblick einbilden, darüber hinaus zu sein! Die Gedanken wallen empor, die Fluten steigen, branden. Mir selber erscheinen die Hirngespinste lächerlich. Aber was hilft das! Ich finde nirgends einen Anhaltspunkt. Gestern abend! Meine Erregung nahm so überhand, daß ich mir Nadeln in die Arme bohrte. Wenn du das wüßtest, Hermann! Deine Umarmung, dachte ich, verscheucht die Gespenster. Unsinn! Sie gab ihnen Greifbarkeit. Jetzt sind's erst Menschen. – – Ich werde aufschreiben, was sie tun. Aber erst, wenn mein Blut ruhiger fließt. – Wie wohl ich mich unter dem Gelichter fühle! Ich lebe in einer anderen Welt. Die Einrichtungen sind andere. Die Freuden sind andere. Das Unheil ist ein anderes. – Ich verschließe es nicht mehr in mir. Ich brauche mir den Hexentanz nur diktieren zu lassen. Vielleicht bringt das Erleichterung. Sie nimmt am Schreibtisch Platz und setzt die Feder an. Aufhorchend. Da klopft jemand an den Fensterladen. [28] Sich erhebend. Gott sei Dank, endlich Wirklichkeit! Sie öffnet im Hintergrund des Zimmers ein Fenster und spricht gedämpft an den geschlossenen Laden hin. Wer klopft da draußen?

EINE TIEFE MÄNNERSTIMME. Ich bin's! Mach' auf!

FRANZISKA. So, du bist's. Das klingt gewöhnlich. Wer bist du denn? Ich halte eine geladene Pistole in der Hand.

DIE MÄNNERSTIMME. Sie trifft nichts. Ich bin dein Freund. Mach' auf!

FRANZISKA. Sprich nicht so laut, die Mutter schläft nebenan.

DIE MÄNNERSTIMME. Dann schließ doch endlich auf!

FRANZISKA. Gleich, gleich! Sie stößt den Laden nach außen auf und beugt sich hinaus. Nun? – Ist denn niemand hier? – Wo bist du denn?

VEIT KUNZ über die Brüstung ins Zimmer steigend. Hier bin ich schon.

FRANZISKA. Wo kommen Sie denn her?

VEIT KUNZ. Von Berlin. Ich möchte Sie gerne für ein künstlerisches Unternehmen gewinnen.[29]

FRANZISKA. Für ein künstlerisches Unternehmen? Dann sind Sie zu bedauern. Ich besitze nicht die allergeringste künstlerische Veranlagung.

VEIT KUNZ. Darauf verstehe ich mich besser als Sie. Ich werde Sie zur Sängerin ausbilden.

FRANZISKA. Ich habe gar kein Musikgehör.

VEIT KUNZ. Sie haben unendlich mehr. Sie sind so ebenmäßig gewachsen, wie sich das unter tausend Sängerinnen nicht zweimal findet.

FRANZISKA. Woher wissen Sie denn das so genau!

VEIT KUNZ. Ich sah Sie flüchtig in München in einer Versicherungskanzlei. Ich studierte aus Ihren Bewegungen die Linien Ihres Körpers.

FRANZISKA. Das war lieb von Ihnen. Waren Sie mir bis in die Kanzlei hinauf nachgelaufen?

VEIT KUNZ. Gott bewahre! Ich war wegen meiner Haftpflichtversicherung dort. Bei meinem Beruf weiß man nie, wofür man schließlich von seinen eigenen Geschöpfen verantwortlich gemacht wird.[30]

FRANZISKA. Was sind Sie denn eigentlich?

VEIT KUNZ. Ich bin Sternenlenker.

FRANZISKA. Sternenlenker? Was bedeutet das?

VEIT KUNZ. Ich mache aus einem ganz beliebigen Menschenkind, in diesem Falle aus Ihnen, einen Stern allererster Größe und lenke ihn dann durch die fünf Weltteile, wo er mit seinem Glanz alle übrigen Sterne überstrahlt. Nennen Sie Ihre Forderungen!

FRANZISKA. Kann ich fordern?

VEIT KUNZ. Was Sie wollen. Ich muß es nur vorher wissen, damit wir durch keine Mißverständnisse entzweit werden.

FRANZISKA. Dann fordere ich – Freiheit – Lebensgenuß –

VEIT KUNZ. Beides verschaffe ich Ihnen, soweit ein Weib jemals daran Gefallen fand.

FRANZISKA. Das haben Millionen Weiber. Ich werde vor Langweile dabei verrückt.[31]

VEIT KUNZ. Sie fordern mehr, als was ein Weib an Freuden erleben kann.

FRANZISKA. Ich bin von unbekannten Gewalten dazu gezwungen.

VEIT KUNZ. Sind Sie denn etwa so unvernünftig, ein Mann sein zu wollen?

FRANZISKA. Wenn es mir dabei möglich wäre, nichts zu verlieren, sondern nur zu gewinnen ... Genußfähigkeit, Bewegungsfreiheit ...

VEIT KUNZ. Sie verlieren Ihre Gewalt über Männer.

FRANZISKA. Dafür gewinne ich den Wettkampf mit Männern.

VEIT KUNZ. Dann erlauben Sie, daß ich Ihnen die Hand auf den Bauch lege. Er tut es.

FRANZISKA ohne sich zu wehren. Wozu das?

VEIT KUNZ. Um Ihre Atmung zu prüfen. Gerade für Ihre Ziele finden Sie keinen glatteren Weg als eine künstlerische Laufbahn. Die Kunst, wissen Sie, überspringt jeden Abgrund. Dazu ist sie Kunst. Sonst[32] wäre sie Blödsinn. Was die Beine betrifft, so können Sie es ohnehin mit dem schlanksten Jüngling aufnehmen. Deshalb bin ich Ihnen nämlich nachgereist.

FRANZISKA. Meiner Beine wegen?

VEIT KUNZ. Im vorigen Jahrhundert schätzte man am Weib einen schönen Hals, schöne Schultern, schöne Arme. Ich habe die untrüglichsten Anzeichen, daß der Geschmack ins Gegenteil umschlägt. Unsereiner muß den Wechsel der Mode immer vorauswittern.

FRANZISKA. Antworten Sie mir, ob Sie meine Bedingungen annehmen.

VEIT KUNZ. Vier Bedingungen sind es, die der Kunstgesang erfordert.

FRANZISKA. Sie treiben Schindluder mit mir.

VEIT KUNZ. Erstens gähnende Rachenstellung.

FRANZISKA. Ich schlafe mit Begeisterung und langweile mich nach Noten.

VEIT KUNZ. Zweitens bewegliche Ohren.[33]

FRANZISKA. Meine Zunge falte ich zu einem dreiblättrigen Kleeblatt zusammen.

VEIT KUNZ. Dann sind auch die Ohren beweglich. Drittens im Kopf ein gleichschenkliges Dreieck, bestehend aus Mundöffnung, Nasenwurzel und weichem Gaumen.

FRANZISKA. Das verstehe ich nicht.

VEIT KUNZ. Danken Sie ihrem Schöpfer. Viertens aber dürfen Sie beileibe nicht glauben, Sie hätten die Nase mitten im Gesicht. Sie müssen felsenfest davon überzeugt sein, daß sich Ihr Mund oberhalb der Nase befindet. Singen Sie!

FRANZISKA stößt einen krächzenden Ton aus.

VEIT KUNZ. In drei Monaten machen Sie eine Tournée durch Amerika.

FRANZISKA. Nehmen Sie nicht endlich die Hand weg?

VEIT KUNZ. Ausgeschlossen! Solange ich Ihre Stimme ausbilde, liegt meine Hand hier. Sie spüren das gar nicht mehr, wenn Sie meine Geliebte sind.[34]

FRANZISKA. Ihre Geliebte? – Ich denke, Sie machen einen Mann aus mir?

VEIT KUNZ. Sobald Sie singen können. Der Gesangsunterricht notzüchtigt Lehrer und Schülerin. Wir sind Märtyrer. Sie fühlen sich mißhandelt und lechzen nach Ihrem Peiniger. Mich peitscht die Nervenanspannung auf, die ich in Ihnen hervorrufen muß. Jede Übungsstunde endet mit einem Liebesfest.

FRANZISKA. Ließe sich das nicht umgehen? – Wenn Sie mich unmusikalisches Ding zur Sängerin ausbilden wollen, dann können Sie mich sicherlich ebenso rasch gleich zum Sänger ausbilden.

VEIT KUNZ. Ihr Wunsch ist mir Befehl. Aber es kommt Sie heillos teuer zu stehen.

FRANZISKA. Mehr als ich jetzt bin, kann mich die Verwandlung unmöglich kosten.

VEIT KUNZ. Überlegen Sie sich's, mein Kind. Ich lasse Sie zwei Jahre hindurch das Leben eines Mannes führen, mit aller Genußfähigkeit, aller Bewegungsfreiheit des Mannes ...[35]

FRANZISKA. Gott sei Dank!

VEIT KUNZ. Dafür sind Sie nach Ablauf der zwei Jahre bis an Ihr seliges Ende mein Weib, meine Leibeigene, meine Sklavin.

FRANZISKA. Wenn ich will!

VEIT KUNZ. So befiehlt das Naturgesetz. Ich kann's nicht ändern. Sie brauchen das Abenteuer nicht zu wagen.

FRANZISKA. Ich kann Sie töten, bevor meine Männlichkeit endet.

VEIT KUNZ. Mich. Aber nicht das Gesetz.

FRANZISKA. Gesetze sind Männerwerk.

VEIT KUNZ. Nicht alle. Der Herzog von Rotenburg traf ein ähnliches Abkommen mit mir. Ich habe ihm unseren Vertrag nicht aufgenötigt.

FRANZISKA. Dann werde ich also ein wirklicher Mann? Genau so, als hätte mich Gott als Mann geschaffen?

VEIT KUNZ. Genau so. Auf zwei Jahre. Nicht eine Sekunde länger.[36]

FRANZISKA. Und Ihre Geliebte brauche ich nicht zu sein?

VEIT KUNZ. Wozu die Frage? Wir sind beschränkte Menschen. Vorderhand begnüge ich mich vollkommen mit Ihrem Tribut.

FRANZISKA. Tribut? Tribut? Das scheint mir eine Falle zu sein. Was bedeutet Tribut?

VEIT KUNZ. Ihren Tribut, mein Kind, entrichten mir sämtliche Künstler, denen ich zu Weltruhm, zu Unsterblichkeit verhelfe. Auch ein Sternenlenker hat schließlich Einkünfte nötig. Davon merken Sie nichts. Meine Prozente erhalte ich von den Direktoren, die das Heiligste meiner Kreaturen dem Raubtier Publikum zum Fraße vorwerfen.

FRANZISKA. Ob sich dabei mein Trübsinn in Lustigkeit verwandelt?

VEIT KUNZ. Familienelend! Nichts weiter! Wir platzen vor Lachen. Sagen Sie mir jetzt, was es außer Ihnen in diesem entsetzlichen Nest sonst noch an Sehenswürdigkeiten gibt.

FRANZISKA. Machen wir vielleicht zusammen einen Mondscheinspaziergang um die verfallene Ringmauer des Städtchens?[37]


Quelle:
Wedekind, Frank: Franziska. Ein modernes Mysterium in fünf Akten, München 1912, S. 28-38.
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