Dritter Akt


[629] Ein möbliertes Studentenzimmer. Links hinten, vom Zuschauer aus, ein mit Gardinen verhängter Alkoven. Rechts hinten die Eingangstür. – Hetmann sitzt am Schreibtisch in eine Arbeit vertieft. Es klopft; Hetmann hört es nicht. Es klopft wieder, er nickt mit dem Kopf. Es klopft zum drittenmal, worauf er verneinend den Kopf schüttelt. Darauf erhebt er sich und schleicht zur Tür.


HETMANN. Muß doch sehen, ob die Tür verschlossen ist. Ehe er zur Tür gelangt ist, wird geöffnet und Fanny tritt ein, mit einem Fliederstrauß in der Hand. Ei, Fräulein Fanny! Ich danke Ihnen für die schönen Blumen.

FANNY. Ich weiß zwar, daß Sie gerade keine allzugroße Freude daran haben; aber wenn ich sie hier in dies Glas stelle, sind sie Ihnen vielleicht doch nicht im Wege. Sie plaziert die Blumen auf der Kommode.

HETMANN. Ich danke Ihnen. – Mich wundert nur, daß Sie nicht längst verheiratet sind.

FANNY. Warum sind denn Sie nicht verheiratet? – Ihnen haben sich die Frauen zu Hunderten angetragen.

HETMANN. Lassen wir das. Machen Sie sich's in diesem Sessel bequem und erzählen Sie mir etwas Liebes, Gutes, Schönes.

FANNY ohne sich zu setzen. Erinnert Sie dieser Tag an nichts?

HETMANN. Ich habe Gott sei Dank keinen Kalender, und so Gott will, haben Sie mir keinen mitgebracht.

FANNY. Seien Sie unbesorgt; ich rede kein Wort mehr davon.

HETMANN. Welcher Tag konnte denn heute sein?

FANNY. Nein, lassen wir das.

HETMANN. Jetzt möchte ich es aber gerne wissen.

FANNY. Heute ist es ein Jahr, daß Sie aus dem Gefängnis kamen.

HETMANN. Wenn es weiter nichts ist! Das lohnt sich freilich der Worte nicht! – Nachdenklich. Das ist also heute wirklich schon ein ganzes Jahr her?

FANNY. Jetzt sehen Sie aber besser aus als damals.[630]

HETMANN. Das wundert mich. Jedenfalls war mir, als ich vor einem Jahr aus dem Gefängnis kam, wohler zumute. Ich hatte noch keine Ahnung, daß während der kurzen sechs Monate meiner Haft alles bis auf die Wurzeln zugrunde gegangen war, was ich in zwei Jahren gesät und großgezogen hatte.

FANNY. Sie müssen jetzt vorwärts schauen. Es verlohnt sich selten, Verlorenes wiedergewinnen zu wollen.

HETMANN. Gewiß, aber wie war das in so kurzer Zeit nur möglich! Oft frage ich mich, ob der stürmische Beifall, den mein Auftreten erweckte, nicht vielleicht nur in meiner Einbildung bestanden hat. Aber waren nicht auch die maßgebendsten Persönlichkeiten bereit, meine Pläne zu unterstützen?! – Und all das versinkt in sechs Monaten spurlos im Erdboden, und bei meinem Wiedererscheinen will sich kaum ein Mensch mehr meiner erinnern!

FANNY. Glauben Sie mir, Ihr Werk wird wieder aufblühen; vielleicht in anderen Formen. Aber die Gedanken, die Sie aussprachen, werden nicht verlorengehen.

HETMANN. Wenn sich heute jemand auf den Markt stellt und preist dem Volk meine Anschauungen an, dann wird er verlacht, als böte er faule Fische und saures Bier feil! – Ich habe meine Zuflucht in Nach dem Schreibtisch zeigend. dieser Arbeit hier gefunden, bei der ich mich außer von Ihnen von niemandem stören lassen würde. Aber was ist bedrucktes Papier gegen die Machtmittel der öffentlichen Rede! Trotzdem wünsche ich nur noch, diese Arbeit beendigen zu können. Nachher komme ich nicht mehr für mich in Betracht.

FANNY. Ihnen fehlt ein voller Pokal aus dem erfrischenden Quell, den nur das wirkliche Leben spendet.

HETMANN. Einen tiefen Zug möchte ich allerdings noch einmal aus diesem Pokale tun.

FANNY. Sie brauchen keine leidenschaftlichen Frauen, die Sie mit Ihren Gefühlsausbrüchen auf die Folter spannen. Sie brauchen einfältige hübsche Mädchen, und nur nicht eine allein, sondern gleich ein halbes Dutzend, in deren Kreis Sie wieder Leichtfertigkeit und Dummheit und Harmlosigkeit als unsere unentbehrlichsten Freunde schätzenlernen.[631]

HETMANN. Wissen Sie vielleicht einen solchen Kreis?

FANNY. Spräche ich sonst wohl davon?

HETMANN. Als wäre ich je in meinem Leben auf etwas anderes als nur auf den Genuß ausgegangen! Seit ich zu denken begann, kämpfe ich um Erhöhung meines Lebensgenusses! Aber mir scheint, ich bin am Ende. Nicht einmal Unterhaltung bietet die Welt mehr! – – Freilich ließe sie sich vielleicht noch einen letzten, einen höchsten Genuß abtrotzen! Aber das ist ein kitzliches Unternehmen.

FANNY. Welch ein Unternehmen meinen Sie damit?

HETMANN. Ich meine die Arbeit, die ich dort liegen habe. – – Ich gehöre nun einmal nicht zu den Menschen, die sich mit dreißig Jahren von ihren Träumen und Erwartungen verabschieden! Ich bin vierzig und meine Träume sind kindlicher, meine Erwartungen sind anspruchsvoller, meine Hoffnungen sind herrlicher als je vorher!

FANNY. Wie danke ich Gott, daß ich endlich wieder solche Worte von Ihnen höre! Aber nun verlassen Sie auch diese vier Wände! Müssen, Sie die Welt, wie sie geschaffen ist, denn nicht um so genauer im Auge behalten, je höher Sie sich im Geiste darüber stellen wollen?!

HETMANN. Ich behalte sie schon im Auge. – – Mein Werk ist hin. – Ein Mittel gibt es nur! Durch dieses Mittel ließe sich die Saat zu neuem Wachstum, zur Blüte, vielleicht zu unverwüstlichem Gedeihen bringen!

FANNY. Und dieses Mittel?

HETMANN. Hingabe!

FANNY. Was taten Sie in all den Jahren denn anderes, als daß Sie Ihr Leben an Ihr Werk hingaben?!

HETMANN. Das war Zeitvertreib!

FANNY. Haben Sie denn sonst noch etwas hinzugeben?

HETMANN. Ich habe, wie Sie sehen, noch alles. – Natürlich müßte alle Welt erfahren, zu welchem Zweck es geschah.

FANNY. Ich kann Ihre Worte unmöglich ernst nehmen.

HETMANN. Dazu spreche ich auch nicht Ich berausche mich nur zuweilen an derlei Träumereien, des Abends bevor ich die Lampe anzünde.

FANNY. Denken Sie einmal, ein Stanley hätte das Innere Afrikas[632] dadurch erforschen wollen, daß er sich den Hals abschneidet! – Nein, nein! – Ich halte das Mittel, von dem Sie da sprechen, für vollkommen unzeitgemäß.

HETMANN. Selbstverständlich! Das Unternehmen ließe sich auch heute gar nicht mehr leicht ins Werk setzen. Im Kampf mit der Staatsgewalt begegnet einem die Behörde auch im schlimmsten Fall noch mit solcher Förmlichkeit, daß eine Hinrichtung wie eine zu Ehren des Hingerichteten veranstaltete würdevolle Feierlichkeit erscheint.

FANNY. Dann schlagen Sie sich also diese Gedanken aus dem Kopf und gehen Sie wieder unter Menschen!

HETMANN. Das wird wohl das beste sein. – Ich kann mir ja auch kaum mehr verhehlen, daß all meine Überzeugungen auf Irrtümern beruhten. Überall wo Tatkraft und Gesundheit Lebensziele sind, gedeiht die Schönheit ganz von selbst, als die verlockende Blütenpracht, deren schönste Frucht wieder Tatkraft und Gesundheit sind! Ich wollte die Menschen verleiten, Erntefeste zu feiern, ohne daß Ernten eingebracht waren. Ich wollte sie verleiten, Richtfeste zu feiern, ohne daß Häuser gebaut waren ... so wie ich auch darauf ausging, mir mein eigenes Dasein zu einer Reihe von Festtagen zu gestalten. Um sich blickend. Und für diesen Irrtum ist mir nun auch ein so trostloses, so eines jeden Schimmers von Schönheit entblößtes Dasein beschieden, wie es der bescheidenste Tagelöhner kaum ertrüge. Fanny ansehend. Sollte ich nicht wirklich noch einmal den Versuch wagen, eine einfache bürgerliche Betätigung auf mich zu nehmen, in der Zuversicht, daß dadurch wenigstens vielleicht ein kärglicher Schein von Schönheit in mein Leben fiele? – – Da es klopft. Sehen Sie doch mal nach, wer da kommt.


Fanny öffnet die Tür, worauf Berta Launhart eintritt.


FANNY. Ach, du bist es, Berta!

BERTA faßt die Anwesenden scharf ins Auge. Ich sehe euch beiden an, wie unwillkommen ich mich hier einfinde. Aber ich bringe Neuigkeiten, die vor allem Herrn Hetmann nicht gleichgültig lassen werden.

FANNY. Wie könntest du für mich hier unwillkommen sein! Aber[633] deine Neuigkeiten sind hoffentlich derart, daß man sich darüber freuen muß!

BERTA. Gewiß muß man sich darüber freuen! Ich wenigstens habe mich von Herzen darüber gefreut! Ist es nicht eine Lust mit anzusehen, wie die Gemeinheit überall in der Welt zum Siege gelangt, während das Große, das Gute, wie es hier in diesen vier Wänden geschieht, elend verkümmert?!

HETMANN. Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches, mein Fräulein?

BERTA zu Fanny. Willst du auch jetzt noch behaupten, daß ich mich hier nicht unwillkommen einfinde?! – So will ich mich denn an die Tatsachen halten! Mein Bruder hat sich in Paris eine Wohnung für fünf zehntausend Francs gemietet. Die Abonnentenzahl unseres Blattes ist durch den vorjährigen Prozeß, in dem Sie, Herr Hetmann, verurteilt wurden, auf achtzigtausend gestiegen. Das sichert meinem Bruder ein Einkommen von zweimalhunderttausend Mark im Jahr. Jetzt läßt er durch seinen Schwiegervater alle erdenklichen Notabilitäten bearbeiten, um seines Preßvergehens wegen begnadigt zu werden. – Aber das ist noch nicht das schönste! Pietro Alessandro Morosini, Ihr Großmeister unwiderstehlichen Angedenkens, wenn Sie sich seiner noch erinnern, Herr Hetmann, der führt seit dem Tage Ihrer Verhaftung ein Freudenleben wie der große Mohammed in seinem Paradies. Alles was ihm an holder Weiblichkeit aus den Trümmern des Vereins zur Züchtung von Rassemenschen in den Sprung läuft, muß seiner Großmeisterschaft den schuldigen Tribut zollen. Dabei weiß er das Glück nicht hoch genug zu preisen, daß ihn kein knausriger Vereinssekretär mehr veranlaßt, seine Würde zu wahren. Er rühmt sich, daß ihm sein Amt als Großmeister jetzt höhere Summen Geldes abwirft, als er jemals in seinem Leben mit seinem Baßbariton hätte verdienen können!

HETMANN. Gedachten Sie mir durch diese Neuigkeiten ein Vergnügen zu bereiten?

BERTA. Schmeicheleien verstehe ich allerdings nicht auszuspielen. Dazu ist mir das Leben zu ernst. Vielleicht lernen Sie[634] aber doch noch die Galgenbrut, die nur daran denkt, Ihre Person in Gold auszumünzen, von den wenigen unterscheiden, die es wirklich ehrlich mit Ihnen meinen!

HETMANN. Ich danke Ihnen von Herzen, mein Fräulein, aber ich glaube Ihrer Ratschläge nicht zu bedürfen.

FANNY. – Wir könnten doch vielleicht über gleichgültigere Dinge reden, liebe Berta. Herr Hetmann scheint mir heute nicht zur Erörterung von Fragen aufgelegt, die eine so große Bedeutung für ihn haben.

BERTA. Aus deinen Worten, liebe Fanny, spricht die unverhüllte Eifersucht! Trägst du Herrn Hetmann gleichgültige Dinge vor, wenn du mit ihm allein bist?! – Du hast mir bei allem, was dir heilig, geschworen, daß meine Vermutungen damals unbegründet waren. Ich sage es dir hier ins Gesicht: du hast mich belogen!

HETMANN zu Berta. Mein Fräulein, wollen Sie mich bitte allein lassen.

BERTA. Auf diesen Peitschenhieb von Ihnen habe ich gewartet! Wie wohl der tut! Ich kann mir freilich nur einen schwachen Begriff davon machen, wie süß es ist, von Ihnen geliebt zu werden. Wie wonnig es ist, Peitschenhiebe von Ihnen zu erhalten, davon machen Sie sich keinen Begriff! Aber Sie haben mich diesen Genuß gelehrt und deshalb gehe ich jetzt auch noch nicht! Dazu ist mir der günstige Augenblick in seiner Unwiederbringlichkeit zu teuer!


Es klopft.


HETMANN. Herein!


Walo von Brühl tritt ein. Er trägt eine goldene Brille. Sein Benehmen ist um vieles gemessener als im zweiten Akt.


BERTA. Gott sei Dank, daß Sie kommen, Herr von Brühl! Vielleicht gelingt es Ihrem noch unverbrauchten Geiste, diese brodelnde Gärung überreifer Kulturprodukte etwas zu klären.

VON BRÜHL. Herr Hetmann, ich komme heute zu Ihnen, um über eine für mich sehr wichtige Angelegenheit mit Ihnen zu sprechen.[635]

HETMANN. Wie kann ich in meiner Weltabgeschlossenheit für Sie noch in Betracht kommen!


Die Herren nehmen Platz, die Damen hören stehend zu.


VON BRÜHL. Um es kurz zu sagen, Herr Hetmann, ich stehe im Begriff, meine Doktorarbeit zu schreiben. Von meinen Professoren wurden mir verschiedene philosophische Streitfragen für meine Arbeit empfohlen. Ich will meine Doktorarbeit aber über Ihre Lehre schreiben und über die philosophischen Voraussetzungen, durch die Ihre Lehren entstanden sind.

HETMANN. Die Sache hat ausgespielt. Mit gutem Gewissen kann ich Ihnen nur davon abraten.

VON BRÜHL. Das tun meine Professoren natürlich erst recht. Erlauben Sie mir, Herr Hetmann, daß mir hierin nur meine Überzeugung maßgebend ist. Aber Sie erinnern sich vielleicht, daß Sie in Ihren Gesprächen unsere bisherige Moral als willkürlich begrenzt bezeichneten, insofern als sie nur das Wohl und Weh der gesamten Menschheit ins Auge faßt, während der Kultus der Schönheit auf Gefahr der eigenen Wohlfahrt hoch dar überstände. – Und dann sprachen Sie oft von drei barbarischen Lebensformen, die sich aus dem Altertum in unsere Kultur hinüber verpflanzt hätten. – Der Zusammenhang, in den Sie diese beiden Tatsachen zueinander brachten, ist mir nicht mehr klar in Erinnerung. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich mit einigen Worten auf die richtige Fährte führen wollten.

HETMANN spricht zu Anfang fast gleichgültig, geht dann aber bald in leidenschaftlich rasches Tempo über. Ich nenne die alte Moral begrenzt, weil sie für den Armen erdacht ist und mit unzweideutiger Klarheit den Reichen ausschließt. Unzweifelhaft bedarf der Reiche, bei Wahrung seiner Güter, anspruchsvollerer Gesetze als der Arme. Durch dieses Axiom hoffte ich den Stolz der begüterten Menschheit zu entflammen und zum Kampfgenossen zu gewinnen. Jeder, so glaubte ich, dem sein Glück es vergönnt, wird das Wagnis, sich einer neuen Denkungsart anzuvertrauen, dem Bewußtsein[636] eines gesicherten Besitzes vorziehen. Die Rechnung war falsch. Der Reiche hat die für den Armen erdachte Moral usurpiert und zieht größeren Vorteil daraus als der Arme, für den sie erdacht wurde. Der Reiche setzt eher sein Leben für seinen Reichtum als seinen Reichtum für sein Leben aufs Spiel.

VON BRÜHL. Und die drei barbarischen Lebensformen, von denen Sie sprachen? – Ich bitte Sie, verdenken Sie es Ihrem Schüler nicht, wenn er aus Verehrung für die Lehre vielleicht die Ehrfurcht vor dem Meister zu verletzen scheint.

HETMANN. Der nächste Freiheitskampf der Menschheit wird gegen den Feudalismus der Liebe gerichtet sein! Die Scheu, die der Mensch seinen eigenen Gefühlen gegenüber hegt, gehört in die Zeit der Hexenprozesse und der Alchimie. Ist eine Menschheit nicht lächerlich, die Geheimnisse vor sich selber hat?! Oder glauben Sie vielleicht an den Pöbelwahn, das Liebesleben werde verschleiert, weil es häßlich sei?! – Im Gegenteil, der Mensch wagt ihm nicht in die Augen zu sehen, so wie er vor seinem Fürsten, vor seiner Gottheit den Blick nicht zu heben wagt! Wünschen Sie einen Beweis? Was bei der Gottheit der Fluch, das ist bei der Liebe die Zote! Jahrtausende alter Aberglaube aus den Zeiten tiefster Barbarei hält die Vernunft im Bann. Auf diesem Aberglauben aber beruhen die drei barbarischen Lebensformen, von denen ich sprach: Die wie ein wildes Tier aus der menschlichen Gemeinschaft hinausgehetzte Dirne; das zu körperlicher und geistiger Krüppelhaftigkeit verurteilte, um sein ganzes Liebesleben betrogene alte Mädchen; und die zum Zweck einer möglichst günstigen Verheiratung gewahrte Unberührtheit des jungen Weibes. Durch dieses Axiom hoffte ich den Stolz des Weibes zu entflammen und zum Kampfgenossen zu gewinnen. Denn von Frauen solcher Erkenntnis erhoffte ich, da mit Wohlleben und Sorglosigkeit einmal abgerechnet war, eine frenetische Begeisterung für mein Reich der Schönheit. – Die Rechnung war falsch! Das Weib steht sittlich so tief, daß Schönheit[637] bei ihm immer nur als Mittel zum Zweck in Betracht kommt. Schönheit um ihrer selbst willen ist dem Weib ein Greuel. – – Vor allem aber hoffte ich die heranwachsende Jugend derart zu fanatisieren, daß schon die nächste Generation die Häßlichkeit so verabscheuen müßte, wie sich die gegenwärtige vor der Armut fürchtet. Die Rechnung war falsch. Die Jugend kennt kein erhabneres Ziel, als vor alle dem, was die Wogen des Lebens aus unergründlichen Tiefen aufwerfen, möglichst rasch in sicherer Behausung geborgen zu sein. – – Von jetzt an langsamer und gelassen. Mein Geschick klage ich deshalb nicht an, weil mir nicht gelang, was auch sonst keinem gelingt. Aber indem sich ergibt, daß alles in dieser Welt gar nicht anders sein kann als so, wie es einmal ist, wächst ins Gigantische die Langeweile. – Kinder ergötzt es, Seeräuber und Gefangene zu spielen, weil ihnen das Treiben der Erwachsenen Achtung abnötigt. Aber uns, die wir erwachsen sind, was nötigt uns noch Achtung ab? – – – Was sollen wir spielen?

VON BRÜHL. Der Schmerz, der aus Ihren Worten spricht, ist so beklemmend, daß ich einen Versuch, Sie zu trösten, nicht wagen könnte.

BERTA. Höre mich an, Fanny! Er ist ein Mensch, dem das Bewußtsein, geliebt zu werden, die furchtbarsten Qualen bereitet! Trotz meiner Häßlichkeit spreche ich diese Erleuchtung, die mir heute aufgegangen, mit ruhigen Worten aus. Wer ihm ein Geschenk bringt, wird ihm zum Abscheu. Dich schützte bis jetzt deine Schönheit vor dieser Entdeckung, aber sie bleibt dir so wenig erspart wie mir!

VON BRÜHL. Herr Hetmann – ich gedachte Sie noch über verschiedene andere Dinge zu fragen. Aber mir scheint, ich habe die Stunde nicht gerade günstig gewählt.

HETMANN durch die Zähne. Wie lange soll ich noch widerstandslos der Willkür alles erdenklichen Menschengelichters preisgegeben sein!

BERTA. Für uns beide, Herr von Brühl, halte ich es für das Richtige, wenn wir jetzt gehen.

VON BRÜHL. Erlauben Sie mir, gnädiges Fräulein, Sie zu begleiten?[638] Sie kennen Herrn Hetmann länger als ich; Sie können mir manchen wertvollen Aufschluß geben.

BERTA. Das bliebe also meine Entschädigung! – Kommen Sie in Gottes Namen! – Herr Hetmann entsetzt sich vor Frauen, die ihn lieben. Er sehnt sich nach Dirnen, die ihn mißhandeln! Darauf beruht seine ganze Philosophie! Meine Freundin Fanny wird das noch früh genug erfahren!


Berta und von Brühl verlassen das Zimmer.


HETMANN. Fräulein Fanny – – ich glaube, ich werde das Mittel anwenden.

FANNY. Wie meinen Sie das?

HETMANN. Sie fragen natürlich, warum ich Ihnen das mitteile. Solche Entschlüsse, finden Sie, behält man für sich.

FANNY. Von welchem Entschluß sprechen Sie?

HETMANN. Aber ich muß sicher sein, daß mir die Nächststehenden im entscheidenden Augenblick nicht in die Arme fallen. Wenn das Mittel nicht wirkungslos bleiben soll, muß es das Ansehen unerläßlicher Notwendigkeit wahren. Es darf nicht als ein klägliches alltägliches Mißgeschick erscheinen.

FANNY. Um Gottes Barmherzigkeit, welche Ungeheuerlichkeiten brüten Sie aus!

HETMANN. Um solcher Aufregung willen vertraue ich mich Ihnen allerdings nicht an! Sie können ruhig bleiben; deshalb spreche ich mit Ihnen. Ich kenne sonst niemanden, der eine so robuste Seele hat wie Sie. – Ich brauche Umgebung, wenn ich das Vorhaben ausführe, erstens um nicht daran gehindert zu werden und zweitens, damit ich nicht wie ein Regentropfen im Weltmeer verschwinde und mich nachher kein Mensch gesehen haben will. Verstehen Sie mich wohl! Ich brauche eine Schranke, die mich, bis es zum Abschluß kommt, von der Menge trennt. Diese Schranke sollen Sie mir schaffen.

FANNY empört. Kein Mensch krümmt Ihnen ein Haar, solang ich lebe!

HETMANN. So sprechen Sie jetzt. Ich rechne damit, daß Ihnen kein Opfer zu groß ist. Sie werden dazu kommen, mit noch höherer Selbstverleugnung das Gegenteil zu beteuern.[639] Sie werden sich vollkommen darüber klar sein, daß Sie selbst den ungestörten Verlauf der Begebenheit zu überwachen haben.

FANNY. Das gelingt Ihnen nie! Dazu bringt mich all Ihre Überredung nicht! Behüte Sie der Himmel davor, daß Sie sich von Ihren Gedanken ins Verderben treiben lassen! Sie wären schon der Mensch, der sich achtlos wegwirft! Sinkt vor ihm in die Knie. Wie befreie ich Sie aus diesem Labyrinth! Ich flehe Sie an, lassen Sie diesmal Ihre allergewöhnlichste Vernunft Herrin sein! Ihre Gedanken sind herrlich! Was sind wir Augenblicksgeschöpfe dagegen, an die Sie in Ihren Plänen denken! Die Klugen verspotten Sie als Dummkopf; die Dummköpfe bejammern Sie als Unglücksmenschen! Ich beschwöre Sie – bei dem Werk, das Sie zu vollenden haben – lassen Sie sich nicht in dieses entsetzliche Netz verstricken!

HETMANN sucht sie aufzurichten. Fanny – soll ich statt Ihrer jemand anders damit beauftragen?!

FANNY. Oh, ich kenne Ihre Starrköpfigkeit! Wählen Sie niemand anders dafür!

HETMANN. Ihre Gefühlsausbrüche sind kindisch! Stehen Sie auf! Er hebt sie empor. Achten Sie auf mich! – Hörten Sie gerne sagen: Der Geck wußte nicht zur rechten Zeit abzuschließen! Der Hanswurst nahm des schönsten Abganges, der sich ihm bot, nicht wahr! Der Schwächling war der Größe seiner Bestimmung nicht gewachsen!

FANNY. Suchen Sie sich neue, größere Aufgaben! Es muß deren welche geben! Wenn es Ihnen nur ernst darum ist, sie zu finden!

HETMANN. Vielleicht sehen Sie sich statt meiner um; und haben Sie etwas Geeignetes gefunden, dann teilen Sie es mir mit. – – Mein Lebenstrieb ließ sich von jeher nur durch die außerordentlichsten Reizmittel wach erhalten; und so bin ich nun folgerichtig bei dem alleräußersten angelangt. Wie soll ich mich über Selbstverständliches wundern: – der Tod wird zur unerläßlichsten Lebensbedingung.

FANNY. Aber wie stellt sich denn das Entsetzliche in Ihrem Kopfe dar? Sie selber sagen: Im Kampf gegen Staatsgewalten[640] läßt sich das Leben nicht preiswürdig einsetzen. Wollen Sie sich denn noch einmal der lächerlichen Quälerei ausliefern, der Sie heute vor einem Jahr glücklich entronnen sind?!

HETMANN. Für die Ware, die ich zu Markte treibe, gibt es außer dem Staate noch einen dankbareren, einen hungrigeren Abnehmer; einen Abnehmer, mit dem man im Handumdrehen handelseinig wird. Das ist der Straßenpöbel! – Solange Sie inmitten dieses Pöbels Ihre Ruhe wahren, wagt es keiner unserer Bekannten, eine Hand zu meinem Schutz zu erheben. Der Straßenpöbel ist leicht zu reizen und fürchtet keine Verantwortlichkeit! Der Straßenpöbel ist schlagfertig! – Anderntags hat dann jeder, im Bewußtsein, daß ihm unversehens etwas zum Opfer fiel, das Gefühl einer seltsamen Weihe, das ihn zeit seines Lebens nicht verläßt.

FANNY. Und mich haben Sie dazu ausersehn! Mich halten Sie für das grauenvolle Ungeheuer, das eine Ermordung kalten Blutes miterlebt?!

HETMANN. Dafür halte ich Sie! Sie fühlen auch jetzt schon, daß ich mich in Ihnen nicht täusche! Höhnisch. Zum Tränenvergießen sind Sie doch wohl kein so schönes Weib! Ich habe, seit ich auf dieser Welt bin, nie mit unbelastetem, freiem Herzen ein Fest gefeiert. Einmal in meinem Leben soll mir das aber noch vergönnt sein!

Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 1969, S. 629-641.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Lohenstein, Daniel Casper von

Sophonisbe. Trauerspiel

Sophonisbe. Trauerspiel

Im zweiten Punischen Krieg gerät Syphax, der König von Numidien, in Gefangenschaft. Sophonisbe, seine Frau, ist bereit sein Leben für das Reich zu opfern und bietet den heidnischen Göttern sogar ihre Söhne als Blutopfer an.

178 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon