Vierter Akt


[641] Ein in einem großen Etablissement gelegenes Gastzimmer, das für gewöhnlich nicht gebraucht wird. Drei Wirtstische, von denen der mittlere etwas zurücksteht. Kleiderrechen und Garderobestücke. Neben der Tür befindet sich ein Büfett mit Wasserhähnen, eine Schale, ein Handtuch usw. – An dem Tisch rechts vorn, vom Zuschauer aus, sitzt Hetmann. Am mittleren Tisch sitzt Morosini zwischen, vom Zuschauer aus links, der Fürstin Sonnenburg und, rechts, Mrs. Grant. An dem Tisch zur Linken sitzen Walo von Brühl und Berta Launhart. Diese Personen verlassen ihre Plätze nicht eher, als es ausdrücklich vorgeschrieben ist. Gellinghausen geht im Hintergrund auf und nieder. – Rudolf Launhart tritt mit hastigen Schritten ein; Fritz folgt ihm und bleibt neben der Türe stehen.


LAUNHART. Der Saal ist schon – Nach der Uhr sehend. – wir haben gerade noch zehn Minuten Zeit – bis auf den letzten Platz besetzt. Es werden fortwährend noch Stühle hereingetragen. Die Feuerpolizei hat schon sämtliche Notausgänge öffnen lassen. Soll ich Ihnen eine Flasche Sekt bestellen, Herr Hetmann? Bismarck trank vor großen Debatten immer Sekt. Zurückrufend. Fritz, eine Flasche Schaumwein!

FRITZ. Sofort, Herr Launhart. Rasch ab.

HETMANN. Ich trinke keinen Alkohol, wie Sie wissen. Glücklicherweise hat sich das Publikum zahlreicher eingefunden als vor acht Tagen!

LAUNHART. Der Saal ist dreimal größer als der Kasinosaal, in dem Sie vor acht Tagen sprachen; trotzdem fällt kein Apfel mehr zur Erde. Ich verstehe noch immer nicht, Herr Hetmann, wie Sie diese zwei Jahre so sündhaft verbummeln konnten! Ihre Popularität ist fast so groß wie die meines Schwiegervaters; und wenn man mich unseres Preßvergehens wegen nicht zufällig begnadigt hätte, dann wäre Ihre Popularität einfach als totes Kapital[642] verschimmelt! – Wollen Sie uns übrigens nicht mitteilen, worüber Sie heute abend sprechen werden?

HETMANN. Das werden Sie ja noch früh genug hören.

LAUNHART. Ich bin aufs äußerste gespannt, wie Sie die Herausforderungen noch überbieten wollen, die Sie der Versammlung im Kasinosaal ins Gesicht schleuderten. Eine empörendere Beleidigung läßt sich doch eigentlich schon nicht mehr ausdenken als der Hohn, mit dem Sie die triefäugigen Bürgersleute ihrer Häßlichkeit wegen überschütteten; vor allem der unverfrorenen Schamlosigkeit wegen, mit der sie ihre Häßlichkeit zur Schau tragen! Jedenfalls hat man Ihren Angriff nur deshalb nicht ernst genommen, weil Sie selber nicht gerade schön sind. Hoffentlich gelingt es Ihnen heute abend, ernst genommen zu werden!

HETMANN. Was ich heute sage, hat seit Bestehen der Welt noch niemand ausgesprochen. Und das Wort braucht nur ausgesprochen zu werden, um in den Ohren der Menschen nicht mehr zu verstummen.

LAUNHART. Sie müssen die Versammlung vor allem in einem Punkte aufs Korn nehmen, in dem Sie selber vollkommen unantastbar sind. Die ganze letzte Nummer unseres Blattes besteht aus Notizen über Ihr Wiederauftreten! In achtzigtausend Exemplaren ist dem Publikum Ihre Berühmtheit wieder vor Augen geführt. Den prompten Erfolg dieser Reklame sehen Sie in der tausendköpfigen Menge, die heute kampfbereit auf Ihre Angriffe wartet.

HETMANN. Kann man sich dieses Publikum nicht vorher einen Augenblick ansehen, ohne selber bemerkt zu werden?

LAUNHART. Selbstverständlich! Kommen Sie! Ihren Sekt trinken Sie nachher! Oben rechts ist eine vergitterte Loge, aus der man einen herrlichen Überblick über den Saal hat!


Launhart und Hetmann ab.


MOROSINI. Ich, meine Damen und Herren, sehe mit dem besten Willen nicht ein, wie solch lebensgefährliche Veranstaltungen dem Verein zur Züchtung von Rassemenschen zu neuem Leben verhelfen sollen![643]

MRS. GRAUT. Ich denke, daß Verein hat erreicht alles, was Verein hat gewollt erreichen. Aber wo sind Früchte von die Verein? Endlich wir wollen haben Früchte von die Verein!

DIE FÜRSTIN. Ich finde, der Verein hat seit seiner Gründung die reichlichsten Früchte getragen! Schützen wir ihn vor abenteuerlichen Experimenten, die sein Fortbestehen unmöglich machen!

GELLINGHAUSEN. Ich bin beauftragt, meine Damen und Herren, Sie vor Eröffnung der Versammlung noch einmal daran zu erinnern, daß wir uns durch unser Wort verpflichtet haben, nur darüber zu wachen, daß Herr Hetmann seinen Vortrag ungehindert zu Ende führen kann, uns aber jeder Parteinahme für Herrn Hetmann nach Beendigung seines Vertrages zu enthalten.

MOROSINI. Fräulein Fanny Kettler muß gewaltig viel von unserem persönlichen Mut halten, daß sie Ihnen noch extra diesen Auftrag erteilt hat!

BERTA. Wir haben uns verpflichtet, uns jeder Parteinahme für Hetmann zu enthalten in der Voraussicht, daß wir ihm dadurch erst recht zum Siege verhelfen! Schlechterdings handelt es sich heute aber wieder einmal darum, einer großangelegten internationalen Geldspekulation auf die Beine zu helfen!

GELLINGHAUSEN. Ich finde es unverantwortlich von Ihnen, Fräulein Launhart, daß Sie sich in diesem Augenblick einer so gehässigen Bemerkung nicht enthalten können!

VON BRÜHL. Darf ich Sie ersuchen, Herr Gellinghausen, meine Braut nicht zu beleidigen!

BERTA zu Gellinghausen. Mein Bräutigam und ich sind zum wenigsten ebenso treue Freunde Karl Hetmanns wie Sie, der Sie mit Ihrem ganzen Vermögen an den Spekulationen meines Bruders teilnehmen! Mein Bräutigam hat seine Doktorarbeit über die Hetmannsche Lehre geschrieben und ist heute trotz der rasendsten Angriffe, die ihm seine Überzeugung eintrug, Privatdozent an der Universität ...!

VON BRÜHL Berta liebkosend. Reg dich nicht unnötig auf, mein süßes Herz. Es gibt heute noch Aufregung genug!

BERTA. Ich finde es nur höchst sonderbar, daß dieser Herr, der[644] seinerzeit das Hetmannsche Manuskript der Polizei in die Hände gespielt hat, sich hier noch als Hetmanns Beschützer hinstellen will!

GELLINGHAUSEN wütend. Ich habe sechs Monate im Gefängnis gesessen! Ich habe der Hetmannschen Lehre außer meiner Arbeit und meinem Vermögen meine Freiheit geopfert! Nennen Sie mich einen noch nie dagewesenen Dummkopf, dann haben Sie recht! Ihre Verdächtigungen meines Charakters aber weise ich auf das allerentschiedenste zurück!

MOROSINI. Auf jeden Fall, Fräulein Berta, hat sich Ihr Bruder durch seine unverhoffte Begnadigung als ein Glückskind erwiesen, wie es kein zweites unter der Sonne gibt! Ohne Besinnen hätte ich jeden Moment zehn Flaschen Pommery gewettet, daß Herr Launhart nie wieder unter uns auftauchen würde!

DIE FÜRSTIN zu Berta und von Brühl gewendet. Herr Launhart wandte sich auch an mich mit der Bitte, an allerhöchster Stelle ein Wort zugunsten seiner Begnadigung einzulegen. Er vergaß dabei, daß man mir meiner geschiedenen Ehe wegen an allerhöchster Stelle nicht gerade das größte Vertrauen entgegenbringt.

MRS. GRANT nach der andern Seite, zu Gellinghausen gewandt. An mich hat sich gewandt Mister Launhart mit gleiche Bitte. Ich ihm schrieb ganz kurz: Herkommen! Strafe in Gefängnis absitzen!

GELLINGHAUSEN. Das glaubte Herr Launhart nicht wagen zu dürfen, weil die Gesundheit seiner Frau durch seine Gefängnishaft hätte gefährdet werden können.

BERTA. Mein Bruder meinte, Ihnen und Karl Hetmann käme es als unverheirateten Männern nicht so genau darauf an, im Gefängnis zu sitzen!

MOROSINI. Aber ist es denn nicht geradezu staunenerregend, meine Damen und Herren, wie das Wiedererscheinen Rudolf Launharts sofort einen frischen Zug in die Ereignisse bringt?! Was leistet Hetmann dagegen! Im Kasinosaal vor acht Tagen wäre er zu Brei zerstampft worden, wenn ich ihn nicht vom Podium gerissen hätte! Worauf geht dieser Schwärmer eigentlich aus! Sollen denn mit Gewalt alle übrigen Menschen auch schön sein?!


[645] Fritz ist mit einer Flasche Sekt und einem Glas eingetreten, hat beides auf den Tisch gestellt, an dem Hetmann saß, und entkorkt die Flasche.


FRITZ. Hier ist der deutsche Schaumwein! Ab.

MOROSINI. Ich danke sehr! – Ich behaupte und sage: Das einzige Unheil, das uns droht, sind die Hirngespinste dieses Schwärmers, der um alle Schätze Europas nicht begreifen will, daß sich seine Weltanschauung auch auf friedlichem Wege verbreiten läßt!


Launhart tritt rasch ein; Hetmann folgt ihm.


LAUNHART. Wir sind erkannt worden! Hetmann wurde sofort erkannt, und man versuchte, ihm von unten einen Streichholzständer an den Kopf zu werfen. – Wollen Sie mir denn nicht doch vielleicht noch in letzter Minute verraten, Herr Hetmann, womit Sie die erregte Menge jetzt zur Gewalttätigkeit reizen werden? Herr Gellinghausen läßt dann an die Zeitungen, die morgen früh erscheinen, rasch noch eine kurze Notiz über den voraussichtlichen Verlauf des Abends abgehen.

HETMANN. Ich bitte Sie, jetzt keinerlei Auseinandersetzungen mehr von mir erwarten zu wollen, bis mein Vortrag zu Ende ist.

LAUNHART. Selbstverständlich! Ihr Bedürfnis nach Sammlung empfinde ich Ihnen lebhaft nach. Mein Schwiegervater sagte gestern, daß Sie in Ihrem ganzen Leben keinen genialeren Gedanken gefaßt hätten als diesen Kunstkniff – entschuldigen Sie, es fällt mir augenblicklich kein höflicherer Ausdruck ein – mit dem Sie Ihrer öffentlichen Wirksamkeit einen würdigen Abschluß geben wollen. Ich gestehe Ihnen auch offen, daß ich während all der Jahre gezittert habe, Sie könnten noch durch irgendeine fürchterliche Dummheit den ganzen Erfolg Ihrer Lehren in Frage stellen. Gelingt es Ihnen aber heute, diesen genialsten Einfall Ihres Lebens, wie ihn mein Schwiegervater einschätzt, zu verwirklichen, dann werden ja meine Befürchtungen vollkommen hinfällig!

HETMANN. Es kommt einzig darauf an, ob mein Vorgehen innere Notwendigkeit hat oder nicht.[646]

LAUNHART. Ja, ja, ich weiß schon, was Sie sagen wollen. Der Tod wird zur unerläßlichsten Lebensbedingung. Wissen Sie, was ich schon längst gern mal möchte? Ich möchte ein Eisenbahnunglück mitmachen, bei dem zwanzig Personen zu Krüppeln zerdrückt würden, während ich mit heiler Haut davonkäme. Das wäre eine Riesenreklame für mich. Die Menschen würden sagen: Gott hält seine schützende Hand über Launhart. – Was ich noch sagen wollte, wo in aller Welt ist denn Fräulein Fanny heute hingekommen? Ich habe sie noch den ganzen Abend nicht gesehen!

GELLINGHAUSEN. Fräulein Fanny hält sich, seit der Saal geöffnet wurde, im Publikum auf, um Leute, die gleich zu Anfang Skandal machen wollen, möglichst im Zaume zu halten.

LAUNHART. Wie kommt sie denn dazu? Wer hat sie dazu beauftragt?


Fanny Kettler erscheint in der Tür.


FANNY. Es ist acht Uhr. Herr Hetmann muß mit seinem Vortrag beginnen. Sie bleibt in der geöffneten Tür stehen, bis die andern ihr folgen.

HETMANN. Endlich! Endlich! – Das letztemal! Er wendet sich rasch zum Ausgang.

LAUNHART ihn aufhaltend. Jetzt stürzen Sie rasch noch einige Gläser Sekt hinunter! Das tut jeder Verbrecher!

VON BRÜHL Launhart entgegentretend. Ihre Ausdrucksweise, Herr Launhart, ist eine unerhörte Blasphemie!

LAUNHART. Gehen Sie zum Teufel! Haben Sie Ihr Geld für die Hetmannsche Weltanschauung aufs Spiel gesetzt?!


Fanny, Hetmann, Launhart, von Brühl, Berta und Gellinghausen ab.


MOROSINI. – Sie halten es doch auch für vernünftig, meine Damen, wenn wir hier in Ruhe abwarten, welche neue Gestaltung der Verein zur Erziehung von Rassemenschen dort drüben annehmen wird?

DIE FÜRSTIN. Wenn Sie jetzt ein Viertelgramm Gehirn unter Ihrem prachtvollen Lockenhaar haben, dann lassen Sie alle Rassemenschen Rassemenschen sein und heiraten mich![647]

MRS. GRANT. Ich habe Kenntnis von Fürstin, daß ich halte für viel mehr praktisch, nicht heiraten Fürstin, aber heiraten mir!

MOROSINI zur Fürstin. Haben Durchlaucht noch Worte?!

DIE FÜRSTIN. Lieber Morosini, es kommt doch wohl mehr auf Formen an als auf Worte.

MRS. GRANT aufspringend. A-oh, ich nicht lasse gefallen Beleidigung! Fürstin sagt, daß Verein hat gegeben Früchte! Ich nichts weiß Früchte, was Verein hat gegeben!

DIE FÜRSTIN. Wollen Sie mir nicht erklären, wie Ihnen meine Bemerkung als Beleidigung erscheinen konnte?

MRS. GRANT. Das will ich sagen, Fürstin! Weil du haben Verhältnis mit Mister Morosini!

DIE FÜRSTIN aufspringend. Wie können Sie sich in meine Privatangelegenheiten mischen!

MOROSINI stellt einen Sessel auf den mittleren Tisch. Den Kampf muß ich von der Tribüne aus ansehen! Wo ist der Sekt? Er füllt das bereitstehende Glas, steigt auf den Mitteltisch und nimmt auf dem Sessel Platz. Das Wohl der Siegerin! Er trinkt. Schaumwein! Brrr! – Hier mein Taschentuch! Er wirft sein Taschentuch vor sich zur Erde.

MRS. GRANT zur Fürstin. Mich fragen, warum ich mische in Privatangelegenheiten?! Weil du nehmen Geld für Privatangelegenheiten, wo ist kein Geld! Weil du sind Bettlerin! Bettlerin!

DIE FÜRSTIN. Kommen Sie einen Moment herunter, Morosini.

MOROSINI. Wenn Durchlaucht auf diesen Stuhl steigen wollen!

DIE FÜRSTIN. Wenn der Stuhl nur nicht zusammenbricht! Sie steigt auf den Sessel neben dem Tisch und flüstert Morosini zu. Reich mir deinen Arm und führ mich aus dem Saal, dann hast du meine Hand!

MRS. GRANT steigt auf den Sessel, auf dem sie vorher saß, und flüstert Morosini zu. Ich liebe Sie mit ganzer Seele, Morosini. Ich will zeigen Papiere von Einkünfte, daß ich habe zwanzigtausend Dollar in jede Jahr, das ist mein!

MOROSINI zu Mrs. Grant. Ich komme herunter.

DIE FÜRSTIN. Dann – leb wohl! Zu Mrs. Grant. Leben Sie wohl – gnädige Frau! Sie steigt vom Sessel und geht ab.[648]

MOROSINI steigt vom Tisch und kommt mit Mrs. Grant nach vorn. Sie möchten mich also effektiv heiraten?

MRS. GRANT nimmt das Taschentuch auf. Ich nehme Taschentuch als Pfand von Verlobung.

MOROSINI küßt sie. Beneidenswerter Engel! Von jetzt an in steigender Erregung. Aber welchen Zweck hat jetzt noch ein Opfer, das der Hetmannschen Lehre gebracht wird! Wozu heiraten wir uns, wenn die Gesetze der bürgerlichen Gesellschaft aufgelöst werden sollen! – Da kommt mir eine Erleuchtung! Der Mensch ist ja wahnsinnig! Der Verein zur Erziehung von Rassemenschen war das Werk eines Wahnsinnigen! Und wir arglose Kinder ließen uns widerstandslos in den Abgrund reißen! Aber vor der wahnsinnigen Ausgeburt seines Wahnsinns werde ich die Menschheit retten! Sich für seine wahnsinnige Moral totschlagen zu lassen, das soll ihm nicht gelingen! – Oh, ich fürchte mich nicht vor einer tobenden Volksmenge! Solange die Bogenlampen brennen, tut mir niemand ein Leid! Ich stelle mich mitten in den Saal und rufe: Der Mensch ist wahnsinnig! Der Mensch ist wahnsinnig! Er eilt hinaus, die Tür hinter sich offen lassend.

MRS. GRANT nähert sich sehr langsam der Tür. – – Soll ich nicht auch gehen in die Saal? – – No! Ich nicht liebe verrückte Volk! – – Jetzt – ich höre Stimme von Morosini! – Ich nicht verstehe. – Sich die Ohren zuhaltend. A-oh! Geschrei! Geschrei! Was ist los?!


Für einen Augenblick ertönt aus der Entfernung dumpfes Brüllen und Toben. Nachdem es verstummt ist, tritt Launhart hastig ein. Gellinghausen folgt ihm. Launhart nimmt Hut, Schirm und Überrock

vom Kleiderrechen und zieht sich an.


LAUNHART. Hätte ich geahnt, daß sich Hetmann im entscheidenden Augenblick für wahnsinnig erklären läßt, dann hätte ich die Versammlung vielleicht gar nicht veranstaltet! Kommen Sie doch nachher noch ins Café und erzählen Sie mir, was die Versammlung für ein Ende genommen hat![649]

GELLINGHAUSEN. Ich bleibe nur so lange hier, bis Hetmann, wenn er mit dem Leben davon kommt, vor dem rasenden Pöbel in Sicherheit gebracht ist.

LAUNHART. Der kommt schon davon! Also nicht wahr, Sie kommen dann? Meine Frau ist auch im Café! Rasch ab.

MRS. GRANT. Haben Sie nicht gehört, was hat gesagt Mister Morosini?

GELLINGHAUSEN. Sein Erscheinen wirkte, wie wenn ein Kamel in einen Ameisenhaufen tritt. Die Prügelei war schon im Gang. Hetmann lag am Boden. Aber Morosinis Gebrüll verschlang das tausendstimmige Chaos, wie ein Hund eine Fliege verschluckt. Man ließ Hetmann liegen und jauchzte Morosini zu. – Ich bin heute abend der einzige, der sich an das feierlich von ihm gegebene Versprechen gehalten hat; und ich bin vollkommen sicher, daß man mich deshalb wieder der niederträchtigsten Verräterei bezichtigen wird! Was soll ich tun?! – Gott sei Dank, da kommt jemand!


Von Brühl tritt ein.


VON BRÜHL zu Gellinghausen. Gehen Sie doch rasch in den Saal. Fräulein Fanny hat eben einen Schlag mit einem Stuhlbein über den Kopf bekommen. Wir bringen derweil Hetmann hierher. Es ist schon ein Arzt bei ihr; aber sorgen Sie doch dafür, daß sie nach Hause gebracht wird.

GELLINGHAUSEN. Selbstverständlich! Wenn ich nur nicht schon zu spät komme! Ab.


Von Brühl hält die Tür geöffnet. Zwei Schutzleute führen Hetmann, den sie vorn am Rockärmel gepackt halten, mit Gewalt herein. Sein Gesicht ist blutbefleckt; er sucht sich mit aller Gewalt loszureißen. Ihnen folgt ein Polizeileutnant, der sich mit dem Rücken gegen die geschlossene Tür stellt. Berta, von Brühl.


HETMANN. Lassen Sie mich zurück! Lassen Sie mich zurück! Eben sah ich vor mir ein anderes Menschenkind um meinetwillen halbtot zusammenbrechen!

DER POLIZEILEUTNANT möglichst höflich. Geben Sie doch endlich den Widerstand gegen die Staatsgewalt auf, mein Herr.[650]

VON BRÜHL. Fräulein Fanny wird nach Hause gebracht.

BERTA. Lassen Sie sich nur das Blut abwaschen.

DER POLIZEILEUTNANT. Jetzt freilassen!


Die Schutzleute haben Hetmann zu einem Stuhl links vorn geführt und ziehen sich zurück, von Brühl holt Wasser am Büfett; Berta reinigt Hetmanns Gesicht. Morosini tritt ein, noch in derselben Aufregung wie vorher.


MOROSINI zum Polizeileutnant. Haben Sie ihn in Sicherheit?

DER POLIZEILEUTNANT. Dem Herrn geschieht nichts mehr!

MOROSINI nach vorn kommend. Dieser Zwergriese! Eine neue Moral will er gründen und ist zu zart, einen Rippenstoß zu erwidern! Zum Polizeileutnant. Ich frage Sie, hätte der Mensch nicht wirklich verdient, totgeschlagen zu werden?! Das eherne Fundament, die Familie, macht er zum Gegenstand seines Spottes! Nein, nicht die Familie! Die Unberührtheit des jungen Weibes! Die nennt der Zwergriese eine schmachvolle Spekulation! Die nennt er ein jeder sittlichen Bewertung unwürdiges Sklavenmerkmal! Die nennt er die Vergötterung der Selbstverachtung! Das war das seit Erschaffung der Welt noch nicht Dagewesene! Damit wollte er die heutige Versammlung zum Totschlag reizen! Das war das Wort, das, einmal ausgesprochen, in den Ohren der Menschen nicht mehr verstummen sollte!

HETMANN. Oh, wo finde ich ein Mittel gegen die Höllenqualen in meiner Seele!

MOROSINI. Schweigen Sie! Sie haben genug geredet! Jetzt rede ich! Ich, Pietro Alessandro Morosini, werde dafür sorgen, daß nicht ein Hauch von Ihrer Wahnsinnsmoral bestehen bleibt! Ihnen sollte die ganze Schöpfungspracht dafür büßen, daß Sie als Krüppel geboren sind! Weil Sie zu schlecht sind für andere Menschen, sollten andere Menschen so schlecht werden wie Sie! Oh, wie schlau haben Sie Ihre Moral ausgeklügelt! Zu schwächlich, um mit anderen Männern ehrlich um ein Weib zu kämpfen, zu eingebildet, um sich selbst um ein Weib zu bemühen, wollten Sie Ihre Person so hoch postieren, daß sämtliche[651] Weiber kniefällig vor Ihnen nach Liebe jammern und jede sich selig preist, wenn Sie Zwergriese sich Ihrer erbarmen!

VON BRÜHL empört. Ihr widersinniges Geschwätz erklärt sich aus Ihrem absoluten Mangel an Bildung; aber Ihr Mangel an Schamgefühl nimmt mir den letzten Rest von Achtung, den ich vielleicht noch für Sie hegte!

MOROSINI. Nehmen Sie, milchbärtiger Knabe, Ihre Brille herunter, wenn Sie den Zwergriesen kennenlernen wollen, über den Sie zeitlebens Bücher zu schreiben gedenken! Dann sehen Sie hinter diesem Jammergesicht das giftige, grinsende, teuflische Hohnlächeln des Wahnsinnigen, der nur darauf lauert, sich über die gläubigen Opfer lustig zu machen, die seinen Wahnsinn als Offenbarung verherrlichen! Für dieses Hohnlächeln ist ihm freilich kein Preis zu hoch! Ich aber sage und behaupte – ich, Pietro Alessandro Morosini –: Wäre dieser Zwergriese heute wirklich ums Leben gekommen, es wäre trotzdem nur aus Trug und Verstellung geschehen! Um das Leben so tief zu verachten, muß man freilich so verworfen sein wie dieser Zwergriese! Zu von Brühl. Sie hätten ihn dann natürlich als größten Weltbeglücker gepriesen und vielleicht hätten es Ihnen Tausende geglaubt. Aber Sich zu Mrs. Grant wendend. vor diesem Unglück habe ich die Menschheit heute gerettet!

MRS. GRANT. Go on Darling! Sie trocknet ihm den Schweiß von der Stirn.

DER POLIZEILEUTNANT kommt nach vorn und sagt in sehr ruhigem höflichen Ton. Sollte Herr Hetmann jetzt nicht vielleicht transportfähig sein?

VON BRÜHL. Wieso? – Was haben Sie vor?

DER POLIZEILEUTNANT. Ich bin dafür haftbar, daß der Herr nicht noch einmal überfallen wird. Der Überführung dürften wohl keine Schwierigkeiten mehr entgegenstehen.

VON BRÜHL erschrocken. Wo wollen Sie ihn denn hinbringen?!

DER POLIZEILEUTNANT. Vorderhand nur zum Polizeipräsidium. So, wie ich die Sache ansehe, steht für den Herrn durchaus nichts zu befürchten. Voraussichtlich wird man ihn zur[652] Beobachtung seines geistigen Zustandes auf einige Zeit in einer Anstalt internieren ...

HETMANN wie aus einer Betäubung erwachend. Zur Beobachtung meines geistigen Zustandes?! – Ist ein Mensch wahnsinnig, der ausspricht, was mit aller Bestimmtheit doch endlich einmal von einem Menschen gesagt wird?!

DER POLIZEILEUTNANT trocken. Es tut mir leid; ich habe meine Instruktion zu befolgen.

MOROSINI. Wenn der Mensch bei Vernunft wäre, müßte er doch selber einsehen, daß er wahnsinnig ist!

BERTA. Verzweifeln Sie nicht, Herr Hetmann! Wir bleiben bei Ihnen.

Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 1969, S. 641-653.
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