20.

[48] Es weht schon durch die Gassen

Der kühle Abendwind,

Und ich bin ein verlassen,

Ein armes Menschenkind.[48]

Ich sah den Mond erscheinen,

Der durch die Wolken bricht,

Und weiß nicht: soll ich weinen,

Oder wein ich lieber nicht.


Gott grüß dich, alte Schenke,

Mit deinem runden Schild;

O gib ein gut Getränke,

Das meinen Kummer stillt;

Daß balde ich versetzet

Ins Land der Träumerein,

Wo sich das Herz ergetzet

An buntem Märchenschein.


Da draußen rauscht die Erle

Und pocht ans Fenster leis,

Hier innen steigt die Perle

Im Glase silberweiß.

Das ist der Wein, der mählich

Das arme Herz beglückt

Und mich so zauberselig

Der Erde ganz entrückt.


Von hohen Linden träum ich,

Die auf den Wiesen stehn,

Die Gipfel blütensäumig

Im Mondenglanze wehn.[49]

Sie werfen ihren Schatten

An Quellen frisch und klar,

Dort tanzt auf grünen Matten

Die leichte Elfenschar.


Es thront die Königinne

In ihres Lagers Rund,

Der zuckt die glühnde Minne

Um Wang und Rosenmund,

Der leuchtet in den Blicken

Ein blaues Sternenlicht,

Und schöne Locken nicken

Hinab in ihr Gesicht.


Die schwebenden Gestalten,

Wie sind sie schlank und zart,

In ihren Händen halten

Sie Blumen seltner Art.

Um nackte Schultern rauschen

Die luft'gen Schleier weit,

Und üpp'ge Glieder lauschen

Aus knappem Seidenkleid.


Sie drehn die kleinen Füße

Nach süßer Melodei

Und winken schnelle Grüße

Und huschen rasch vorbei;[50]

Sie ringen und umschlingen

Sich mit den Armen hold,

Sie küssen sich und schwingen

Das volle Lockengold.


Sie singen wundertönig,

Sie singen hell und rein –

Und ich will euer König,

Ihr Elfenkinder, sein.

An blühenden Lindenbäumen,

In stiller Mondenpracht,

Da will ich lieben, träumen

Mit euch die ganze Nacht.


Ha, wenn auf zarter Lippen

Hellglühndem Purpursamt,

Den süßen Tau zu nippen,

Mein wildes Küssen flammt,

Da sinkst du Königinne

Herab von deinem Thron –

Es siegt mit seiner Minne

Der kühne Erdensohn!


Da wacht' ich auf – es gingen

Die Schenkenlichter aus,

Mit Lachen und mit Singen

Zog jeder Gast nach Haus.[51]

Die Nacht lag auf den Gassen,

Kalt pfiff vorbei der Wind,

Und ich war ein verlassen,

Ein armes Menschenkind.


Quelle:
Georg Weerth: Sämtliche Werke in fünf Bänden. Band 1, Berlin 1956/57, S. 48-52.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Anselm von Canterbury

Warum Gott Mensch geworden

Warum Gott Mensch geworden

Anselm vertritt die Satisfaktionslehre, nach der der Tod Jesu ein nötiges Opfer war, um Gottes Ehrverletzung durch den Sündenfall des Menschen zu sühnen. Nur Gott selbst war groß genug, das Opfer den menschlichen Sündenfall überwiegen zu lassen, daher musste Gott Mensch werden und sündenlos sterben.

86 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon