1. An seine wertheste Dulcimene, als er dieselbe vor seinem Abschiede küssen dürffte

[74] 1.

Dulcimene soll ich küssen,

Oder bin ich viel zu schlecht

Reiner Lippen Art zu wissen?

Gib mir doch vor dißmahl recht:

Ein subtiler Kuß, mein Liecht,

Nimmt dir deine Farbe nicht.


2.

Rosen bleiben dennoch Rosen,

Ob der Biene gleich beliebt

Ihren Blättern Liebzukosen:

Drum sey du auch unbetrübt,

Denn du solst mein Rosen-Schein,

Ich die fromme Biene seyn.


3.

Dulcimene bist du böse,

Daß ich endlich meinen Sinn

Von der blöden Furcht erlöse,

Und ein bißgen kühner bin?

Ach nimm doch den freyen Lauff

Meiner Lust nicht übel auff.


4.

Laß mich nur, wer weiß wie lange

Du und ich einander sehn.

Meinem Hertzen ist schon bange

Denn es kan gar bald geschehn,

Daß mein ungewisser Fuß

Frembder Leitung folgen muß.


5.

Itzt bin ich noch bey den Linden,

Doch es ist des Glückes-Spiel,

Welches mich von dir entbinden

Nicht mit Macht entreissen wil,

Und so schick ich mit Bedacht

Mich zur letzten guten Nacht.


6.

Was ich unterdessen lebe

Leb ich dir und meiner Lust,[74]

Biß ich mich darein ergebe

Daß du mich gesegnen must,

Und wer weiß ob morgen nicht

Mir mein Abschieds Urtheil spriecht.


7.

Nun dieweil mir stäts beysammen

In ergebner Treu gelebt,

Und ingleichen Freundschaffts-Flammen

Nach Ergetzlichkeit gestrebt,

So gedencke daß ein Kuß

Unsern Spaß versieglen muß.


8.

Halt mein Liebgen halte stille,

Dieses ist mein erstes mal

Daß ich meinen Wunsch erfülle,

Und vielleicht die letzte Zahl,

Von der angenehmen Last

Die du mir bereitet hast.


9.

Bleib mir nur dabey gewogen,

Und gleich wie der Freundschaffts-Bund

Dich noch niemals hat betrogen,

Also gläube daß mein Mund,

Welcher dich so furchtsam küst,

Blöde, doch beständig ist.


10.

Wilst du meiner bald vergessen

So vergiß mich immerhin,

Denn weil ich am Leib entsessen

An der Seele bey dir bin,

Denck ich doppelt, halb vor mich,

Und, mein Leben, halb vor dich.

Quelle:
Christian Weise: Der grünenden Jugend überflüssige Gedanken, Halle a.d.S. 1914, S. 74-75.
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