Der Dichter
Eine Legende

[125] Es war einmal ein junger Mann, der fühlte in sich die Kraft, ein großer und göttlicher Dichter zu werden. Er war sehr glücklich über dieses Bewußtsein und pflegte und hütete es wie einen Schatz. Wie hat mich Gott gesegnet, dachte er; meine Eltern haben in Armut und Sorge für das Tägliche um meinetwillen ihr Leben verbracht. Wie will ich ihren Abend verschönern mit dem Glanz meiner Lieder und der tieferen Weisheit dessen, was Gott mir zu sagen gebieten wird, wenn es Zeit ist. – Aber die Zeit verging und Gott gebot nicht. Die Eltern starben in Armut und Dunkel, wie sie gelebt hatten.

Der junge Mann, der Dichter, – aber eigentlich war er nun nicht mehr ganz jung und eigentlich noch kein Dichter – begegnete einem Mädchen, in das er sich verliebte. Er fand es schöner als alle andern Geschöpfe dieser Welt. Er liebte noch den Schatten, den ihre langen Wimpern über die Blässe ihrer Wange warfen, und küßte den Abdruck ihrer Zehen im Sande. Wie hat mich Gott gesegnet, dachte er, daß ich dem Mädchen sagen darf, was für ein Wunder an Schönheit die kleine Muschel seines Ohres ist. Ich werde reicher sein als alle Liebenden, wenn Gott mir nur erlauben wird, meine ganze Liebe zu sagen. – Aber Gott erlaubte es nicht. Das schöne Mädchen wurde seiner überdrüssig und nahm einen andern Freund, der viele Frauen hatte.[125]

Der Mann, der nicht mehr jung und auch kein Dichter war, geriet im Kampfe in Gefangenschaft und ihn erwartete ein qualenvoller Tod. Ein Mitgefangener, ein Spielgefährte seiner frühsten Jugend, war entronnen. Er kehrte nachts zurück, ermordete die Wächter und floh mit ihm. Der Mann war seines Lebens müde und vor den Anstrengungen des Weges graute ihn. Aber der Freund nahm ihn auf seine Schultern und schleppte ihn. Er pflegte ihn, als er erkrankte, und schließlich, als kurz vor der Heimkehr ein Überfall auf sie geschah, starb er für ihn. Der Mann verfiel in lange Schwermut und tiefe Trauer; als er sie überwunden hatte, dachte er: wie glücklich bin ich doch trotz alledem, daß ich das Opfer, das mein Freund mit seinem Leben für mich brachte, unvergänglich machen darf. Ich werde ihm einen Bruchteil seiner Güte vergelten können, wenn Gott es mir gestatten wird, den Edelmut und die Treue seines Lebens zu besingen. – Aber Gott gestattete es nicht und die Menschen vergaßen die Tat des Freundes.

Der Mann besaß auch einen Sohn, den er liebte. Bei seiner Rückkehr fand er von ihm sein Gut verschleudert und seinen Namen entehrt. Ihn selbst traf er im Kreise von Verbrechern und Dirnen, als er gegangen war, um ihn zur Rede zu stellen. Der Sohn verhöhnte ihn vor den Augen seiner Kumpane und als der Vater ihm fluchte, schlug er mit einem Schemel ihn zu Boden. Der Mann, der nun ein Krüppel war, denn der Schlag hatte ihn eines Armes beraubt, dachte, als er vom langen Lager mühsam sich erhob: wie glücklich bin ich doch trotz alledem, daß mir gegeben sein wird, diese ruchlose Tat vor aller Menschen[126] Angesicht zu stellen. Ich werde sie zum ewigen Abscheu erhöhen, daß sie ein Gleichnis werde für alle Sünden und allen Undank, die an Vätern geschehen; wenn Gott mir nur die Stimme geben will, die Stimme um diese Tat zu sagen. – Aber Gott gab sie ihm nicht. Der Sohn hatte Glück im Spiel, gewann eine reiche Frau; er kaufte sich ein Haus, trieb Handel; er wurde reich und geehrt und man vergaß seine Verbrechen.

Der Mann geriet in die Gefahr, seiner unsterblichen Seele verlustig zu gehen. Er stand im Begriff, sich von dem Pfade der Wanderung in den ewigen Abgrund des Ungestalteten zu stürzen, da ließ Gott ein Wunder geschehen um ihn zu retten. Er stand und sprach ein Dankgebet: wie glücklich bin ich, daß ich Gott werde danken können für dieses Wunder, das er an mir getan hat. Ich werde seine unendliche Güte preisen mit Worten, daß die Menschen voll Reue zu ihm zurückkehren. Mit der Dankbarkeit meiner geretteten Seele will ich, solang ich lebe, sein Verkünder sein, wenn Gott mir nur zu sagen erlaubt, welch großes Wunder er an mir getan hat. – Aber Gott erlaubte es nicht.

Der Mann war ein alter Mann geworden, der keinen mehr und den keiner mehr kannte; stumm wohnte ihm der Mund hinter dem weißen Bart. Er dachte nicht mehr an die Hoffnung seiner frühern Jahre; er wußte nicht, warum er noch ein Lied hätte dichten sollen, da niemand mehr war, dem zu Lust oder Leid es hätte geschehen können. An einem Abend aber überkam ihn die Erinnerung: er dachte an seine Eltern, das harte Leben, von dem sie ausruhten in ihrem Grab. Er dachte an das Mädchen, wie[127] zart das Blut die kleine Muschel seines Ohrs durchschimmert hatte. Er dachte auch an seinen Freund, wie er in einem Kampf voll Heldentum für ihn gefallen war. Er dachte noch an seinen Sohn, der lebte, irgendwo, reich war und Handel trieb; er dachte auch an Gott, der seine Seele gerettet hatte. Doch es erschien ihm alles seltsam fremd, nicht wie sein eignes Leben, wie vieler Fern-Gekannter Leben erschien es ihm. Wie vieler Fern-Gekannter stummes Leben, das nach ihm griff, das ihn erfüllte, dunkel aus ihm brach:

Er sang. Sang sinnlos namenloses Schicksal, seines einst, doch nun verloren, abgelegt wie ein vertragnes Kleid. Menschen hörten ihn singen, blieben stehn, erschracken: »Unser Schicksal,« flüsterten sie; »unser Schicksal, von dem er singt...«

Er sang. Und die ihn hörten, bewahrten sein Lied, trugen hin in die Weite sein Lied, sein unsterbliches Lied. Er wußte es nicht. Er kannte es nicht einmal mehr, als es ihm wiederkehrte, gesungen irgendwo. Er saß, den Kopf in seine Hand gestützt, erschüttert, der Wünsche seiner Jugend einmal noch demütig und entsagend eingedenk.

Quelle:
Maria Luise Weissmann: Gesammelte Dichtungen, Pasing 1932.
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