Fünftes Exempel.

Ein Verstorbener richtet sich nach dem Tod zu dreymahlen in der Todten-Bahr auf.

[154] Als der heilige Bruno, Stifter des Carthäuser-Ordens, zu Paris auf der hohen Schul studirte, soll sich mit einem auf gedachter Schul, so wohl wegen seiner Tugend, als Gelehrtheit berühmten Doctor nach dessen Tod folgendes zugetragen haben. Als man ihme in Beyseyn einer ungemeinen Menge Volcks in der Kirchen bey der Bahr, in welcher der todte Leichnam mit abgedeckten Deckel lage, und also von jedermann konte gesehen werden, die Leich-Besingnuß hielte, und einer aus denen Geistlichen in Ablesung einer Lection der Seel-Mette zu jenen Worten kame: gieb mir Antwort: siehe Wunder! da richtete sich der todte Leichnam in der Bahr auf, und sagte mit kläglicher Stimm: aus gerechtem Urtheil GOttes bin ich angeklagt worden: worauf er sich wiederum in der Bahr nieder gelegt. Was für ein Schröcken unter dem anwesenden Volck über diese unerhörte Begebenheit werde entstanden seyn, wer wird es können mit Worten aussprechen? jedermann schauete einander voller Forcht und Erstaunung an, und konnte Anfangs vor Schröcken kein Wort reden. Wie aber der Schröcken etwas nachgelassen, tratte die anwesende Geistlichkeit zusammen, und hielte Rath unter einander, was in dieser Sach zu thun wäre? und ob [154] man in der angefangenen Seel-Mette fortfahren solte; oder nicht? da waren dann die meiste der Meinung, man solle damit inhalten, und selbige bis auf den folgenden Tag verschieben: vielleicht werde es sich alsdann zeigen, was GOtt durch dieses Wunder andeuten wolle. Und bey diesem Schluß hatte es auch sein Verbleiben. Unterdessen wurde das Wunder in der gantzen Stadt Paris ausgebreitet; also daß sich des anderen Tags eine unbeschreibliche Menge Volcks in der Kirchen eingesunden. Wie nun die Geistliche die Leichbesingnuß wiederum angefangen, und der Leser abermahl zu jenen Worten kommen: gib mir Antwort: da richtete sich der todte Leichnam das andertemahl in der Bahr auf, und sagte mit entsetzlicher Stimm: aus gerechtem Urtheil GOttes bin ich geurtheilet worden. Auf welche Wort er sich wiederum, wie das erstemahl, in der Bahr nieder gelegt. Das war nun ein neuer Schröcken, welcher das Volck in eine ungemeine Erstaunung setzte; indem es nicht errathen konte, ob das Urtheil für, oder wider den Verstorbenen ausgefallen? demnach wurde die Leich-Besingnuß wiederum unterbrochen, und bis auf den dritten Tag verschoben. Wie nun selbige an ermeltem Tag bey Versammlung fast der gantzen Stadt Paris (so überaus volckreich ist,) auf ein neues angefangen worden, und der Leser abermahl zu jenen Worten kommen: gieb mir Antwort: da richtete sich der Leichnam das drittemahl mit grossem Gewalt in der Bahr auf, sperrete die Augen entsetzlich auf, schauete das umstehende Volck starrend an, holte einen tiefen Seufzer, und schrie mit greulicher Stimm: aus gerechtem Urtheil GOttes bin ich verdammt worden. Uber welches das anwesende Volck nicht anderst erschrocken, als wäre es vom Donner getroffen worden. Dann eine machten vor Erstaunung das heilige Creutz; andere schlugen die Händ in einander: andere klopften auf die Brust, andere heulten und weinten, und nahmen, mit unaussprechlicher Forcht über die Strenge des göttlichen Gerichts erfüllet, den Weeg aus der Kirchen wieder nach Haus, wo sie lange Zeit nichts, als von dieser traurigen Begebenheit zu reden wußten. Unter anderen hatte diese niemahl erhörte Begebenheit den dazumahl zu Paris auf der hohen Schul noch studirenden Bruno dergestalten erschröcket, daß er die Welt alsobald beurlaubt; die Würde einer Domherren-Stell zu Rheims in Franckreich verlassen, und sich in eine Einöde begeben: in welcher er Tag und Nacht die Strenge des göttlichen Gerichts betrachtet; seine Sünden mit vielen Zähern beweinet; mit Betten, Fasten, Geißlen, und anderen Buß-Wercken sich abgemergelt, und hernach den strengen Carthäuser-Orden (in welchem alles Fleisch-Essen für die gantze Lebens-Zeit unter schwerer Sünd verbotten ist) eingesetzt. Annal. Carthus. l. 1. c. 1.

Allem nach mußte dieser verstorbene Doctor ein grosser Gleißner geweßt [155] seyn. Seye ihm aber, wie es wolle, so hat man grosse Ursach, sich vor der Strenge des göttlichen Gerichts zu förchten. Dann anderst seynd beschaffen die Urtheil GOttes; anderst die Urtheil der Menschen. O wie bald ist es geschehen, daß wir uns durch die eigne Lieb, durch die Sinnlichkeit; durch die böse Anmuthungen verführen lassen! dies und jenes für gering halten, das etwann vor GOtt ein schwere Sünd ist! darum sollen wir öfters mit dem David zu GOtt ruffen: Durchstiche mein Fleisch mit deiner Forcht: dann ich hab mich vor deinen Rechten geförchtet. Psal. 118.

Quelle:
Wenz, Dominicus: Lehrreiches Exempelbuch [...] ein nutzlicher Zeitvertreib als ein Haus- und Les- Buch. Augsburg 1757, S. 154-156.
Lizenz:
Kategorien: