Vier und fünftzigstes Exempel.

Die Seel eines verstorbenen Vatters erscheint dem Sohn erst nach vil Jahren, und begehrt Hülf von ihm.

[299] Als im Jahr Christi 874. des Kaysers Ludwigs, bey genannt des Frommen Sohn zur Fasten-Zeit dem Heil. Gebett, und anderen Tugend- [299] Wercken eyfriger, als sonsten oblage, hat es sich zugetragen, daß ihm bey nächtlicher Weil, da er schlaflos im Beth lage, sein verstorbener Herr Vatter erschiene; aber mit bleichem Angesicht, und erbärmlich seuftzend. Indem nun der Geist ein Weil vor der Bethstatt gestanden, brache er endlich gegen dem Sohn in diese Wort aus: Sohn! ich beschwöre dich durch unseren HErrn JEsum Christum, daß du mir wollest helffen aus denen Peynen, in welchen ich aufgehalten werde; damit ich doch einstens die ewige Ruhe erlangen möge. Nach welchen Worten der Geist verschwunden ist.


Was Mitleyden diese Wort bey dem Sohn werden erweckt haben, ist leicht zu gedencken: in Erwegung, daß diese Erscheinung erst 34. Jahr nach dem Tod des Kaysers geschehen; und also dessen abgeleibte Seel 34. Jahr lang (O was für eine Zeit!) hat müssen im Fegfeuer leyden; ohngeachtet man ihn bey Lebs-Zei ten wegen seiner Gottseeligkeit, und tugendsamen Wandel nicht anderst, als Ludwig den Frommen zu namsen pflegte.


Die Ursach aber, warum er so viel Jahr hat müssen im Feg-Feuer leyden, war diese: weilen er aus angebohrner Gelindigkeit zu denen Sünden und Lastern, welche unter seiner Regierung bey denen Unterthanen im Schwang giengen, zu viel durch die Finger gesehen, und selbige nicht mit solchem Ernst, wie sie verdienten, abgestraft hat. Unterdessen war das Mitleyden des Sohns gegen seinem verstorbenen Herrn Vatter so groß, daß er des anbrechenden Tags kaum erwarten können. Alsdann aber liesse er unverzüglich an alle Clöster des Reichs Schreiben abgehen, in welchen er die Ordens-Leut ersucht hat, für seinen verstorbenen Herrn Vatter eyferig zu betten; damit er doch bäldigst möchte die ewige Ruhe erlangen: welches dann auch fleißig geschehen; und zweifels ohne die abgeleibte Seel dardurch zur erwünschten Ruhe wird befördert worden seyn. Brunneri S.J. Annales Bojorum P. 2. ad Annum 874.


Wer solle sich hier nicht entsetzen ob der Strenge der göttlichen Gerechteit; als welche so viel Jahr lang nicht zugelassen, daß des verstorbenen Kaysers abgeleibte Seel die geringste Hülf von dem Sohn solte begehren können; sondern vielmehr wollen, daß sie mit Leyden solte abzahlen, was ihr in Ansehung des Gebetts der Lebendigen auf Erden wurde geschencket worden seyn? da hat wahrhaftig GOtt zeigen wollen, wie streng er in der anderen Welt mit grossen Herren, und anderen Obrigkeiten verfahre, wann sie nicht ihrem Amt gemäß, denen Sünden und Lastern durch gebührende Straf vorbiegen; oder selbige verminderen. Darum sagt der Heil. Geist im Buch der Weisheit am 6. Cap. einem [300] Geringen (nemlich denen Unterthanen) widerfahrt Barmhertzigkeit: Aber die Gewaltige (nemlich die Obrigkeiten) werden gewaltige Straf leyden.

Quelle:
Wenz, Dominicus: Lehrreiches Exempelbuch [...] ein nutzlicher Zeitvertreib als ein Haus- und Les- Buch. Augsburg 1757, S. 299-301.
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