Sechstes Gespräch.

[456] Schutz-Engel.

Aus dem neulichen Gespräch, das ich mit dir gehalten, hast du zur Marianischen Andacht nicht wenig können aufgemuntert werden. Vielleicht aber möchtest du gern noch ein mehreres vernehmen.

Pfleg-Kind. Ja freylich, mein Heil. Schutz-Engel! ich bitte darum.

Schutz-Engel. Es ist mir ein Freud, wann ich sihe, daß du begierig [456] bist etwas zu lernen, so zur Hochachtung, und Vermehrung der Ehr unserer Himmels-Königin (was es immer seyn mag) beytragen kan.

Pfleg-Kind. So möchte ich dann wissen, warum diese Himmels-Königin in dem so benannten Salve Regina, oder: gegrüßt seyest du O Königin genennt werde ein Mutter der Barmhertzigkeit?

Schutz-Engel. Darum: dieweil sie gebohren hat Christum den HErrn, welcher die unendliche Barmhertzigkeit selbsten ist. Zu dem, so ist es ihr angebohren gegen euch Menschen mitleydig zu seyn, ehe und bevor sie von euch angeruffen wird. Wie viel mehr, wann ihr zu ihr kommet, und sie vertreulich anruffet, daß sie euch in euren Armseeligkeiten wolle zu Hülf kommen?

Pfleg-Kind. Das ist in Wahrheit Trost-reich. Ich möchte hierüber wohl eine Begebenheit vernehmen.

Schutz-Engel. Lasse dir dienen folgende


Begebenheit.

Als der Heil. Odo, ein Vorsteher des Closter Cluni in Burgund, einstens durch einen Wald paßierte, in welchem sich etwelche Mörder aufhielten, und ihne einer ersehen; mithin sein liebreiches und freudiges Angesicht wohl in die Augen gefasset, da gienge er in sich selbst, und warffe sich zu seinen Füssen, demüthig bittend, er wolle sich doch seiner, als eines armen Sünders erbarmen. Als ihn hierauf der Heil. Mann fragte, was dann sein Verlangen seye? da sagte der Mörder: er verlange nichts anders, als in sein Closter aufgenommen zu werden. Setzte auch hinzu diese Wort: Ehrwürdiger Vatter! wann ihr mir meine Bitt versaget; so gehe ich den geradē Weeg meinem ewigen Verderben zu. Geschiehet aber dieses, so wird GOtt mein Seel von euren Händen forderen, und ihr werdet für selbige müssen Rechenschaft geben. Als der Heil. Mann diese Wort gehört, ward er zum Mitleyden bewegt, und schickte ihn nach dem Closter, in welches er verlangt hatte: allwo er dann das Mönchs-Kleyd angezogen, und solche Zeichen der Buß von sich gegeben, daß er in kurtzer Zeit ersetzt, was er vorhin gesündiget, und mithin durch die Buß seine Sünden ausgelöscht hat. Dann als er bald darauf in ein tödtliche Kranckheit gefallen, liesse er den Heil Odo ersuchen, daß er sich würdigen möchte, zu ihm zu kommen; deme er dann sagte: wie daß ihm die Mutter GOttes erschinen seye, die ihne gefragt mit diesen Worten: kennest du mich? und als er mit nein geantwortet, da habe sie gesagt: ich bin die Mutter der Barmhertzigkeit. Hierauf habe der Krancke versetzt; allergnädigste Frau! was befihlt sie mir, als ihrem unwürdigsten [457] Diener? und sie habe geantwortet: nach drey Tägen wirst du bey meinem Sohn seyn. Welches auch geschehen ist; indem er auf die benannte Zeit sanftiglich in dem HErrn entschlaffen, und in die ewige Ruhe aufgenommen worden: welches dem Heil. Odo einen solchen Trost verursacht, daß er forthin Mariam niemahl anderst, als die Mutter der Barmhertzigkeit genennt hat. Surius 18. Novemb.

Quelle:
Wenz, Dominicus: Lehrreiches Exempelbuch [...] ein nutzlicher Zeitvertreib als ein Haus- und Les- Buch. Augsburg 1757, S. 456-458.
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