28. Ingeniosa necessitas

[145] Wahr ists! Die Noht lehrt manchem Witz,

Ist seine zehnte Mus', und schneidt die Federn spitz;

Noht dringt ihm auf die Mässigkeit,

Und die Gewohnheit wird zuletzt Gewogenheit:

Die eine Tugend folgt der andern auf den Fuss,

Allein was ist der letzte Schluss?

Dem Anfang ist das Ende gleich:

Denn Witz macht selten klug,1 die Tugend selten reich.


Fußnoten

1 Denn Witz macht selten klug. Der Witz bestehet in einer gewissen Hitze und Lebhaftigkeit des Gehirns, welche der Klugheit zuwider ist, indem dieselbe langsam und bedachtsam zu Werck gehet. Ein witziger Mann, sagt man, verliert lieber zehn Freunde als einen guten Einfall, da hergegen ein kluger Mann lieber zehn gantze Gedichte verbrennen, als einen guten Freund verlieren wolte. Ein gewisser Weltweiser Favorinus genant, nach einem kurtzen Wortstreit mit Käyser Adrian in Sachen die Schule betreffend, hielte vor rahtsam demselben nachzugeben, ob der Käyser gleich Unrecht hatte, und dieses war ohne Zweifel ein Zeichen seines Verstandes; Als er aber nachgehends deswegen von seinen Mittbrüdern bestraffet wurde, so antwortete er zwar witziglich: Wie solte der nicht recht haben, der dreyssig mächtige Kriegsschaaren zu seinem Dienste hat, verdarb aber hiemit den gantzen Handel, und verlohr den Preiss seiner vorigen Bescheidenheit, als es dem Käyser durch einen Hofschmeichler hinterbracht wurde. Und so viel denjenigen zum Bericht, welche sich verwundert, dass ich in vielen Orten den Witz von dem Verstand und der Klugheit unterschieden habe.


Quelle:
Christian Wernicke: Epigramme, Berlin 1909, S. 145.
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