19. Auff des Diogenes Leuchte

[295] Wie einst der wunderliche Mann,

So stecken wir die Leucht' im Tag' auch jetzund an:

Er suchte Menschen auf der Gass';

Die Weissheit aber wir in seinem leeren Fass!1


Fußnoten

1 Die Weissheit aber wir in seinem leeren Fass. Wenn wir des Diogenes Leben und Wandel betrachten, so hat man Ursach sich zu verwundern, wie ihm der Nahme eines Weltweisen habe können zugeleget werden; es sey denn, dass derselbe auch einem Marcktschreyer und dessen Pickelhering zugehöre: sintemahl er jenen an Unverschämtheit weit übertroffen; und diesem in närrischen Fratzen nichts nachgegeben hat. Seine bey Tage angesteckte Leuchte, sein lebendig abgepflückter Hahn, sein steinernes Bild von dem er Allmosen verlangte, seine weggeworffene höltzerne Schale, sein hin und her geroltes Fass, sein Stock den man ihm nach seinem Tod' in die Hand geben solte, und hundert dergleichen thörichte Einfälle mehr, zeigen gnugsam an, dass dieser Griechische dem Welschen Harlequin sehr ähnlich gewesen. Seine Unverschämtheit aber war so gross, dass man sie, ohne in dasselbe Laster zu verfallen, nicht nennen kan. Denn ob gleich Dion zugenannt Chrysostomus wegen seiner Beredsamkeit, und der Heil. Augustinus dasjenige, was bey hellem Tage unter seinem Cynischen Mantel vorgegangen, weitläufftig und deutlich gnug, zum Wunder ihrer Leser beschrieben; so ist dennoch die Folge gefährlich: so gar, dass man diese grosse Männer selbst, dieser Sache wegen nicht anders als mit diesen Worten des Cicerons entschuldigen kan: Magnis Illi ac divinis virtutibus hanc licentiam assequebantur. Lib. I. de Off.


Quelle:
Christian Wernicke: Epigramme, Berlin 1909, S. 295.
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