4. Auf den Lauf und Fall Frantzöscher Verse

[446] Wer Vers' in Franckreich schreibt, der schreibet ohne Zwang,

Hüpft über Berg und Thal, als über kurtz und lang;[446]

Pflegt in dem schnellen Lauf das Ohr oft zu vergessen,

Und weiss die Sylben nur zu zehlen, nicht zu messen:1

So dass kein Vers gefällt, es sey, dass der ihn lisst,

Ihm einen leichten Schwang im Lesen weiss zu geben;

Und, weil er seinen Thon halb sinckend weiss zu heben,

Ein besserer Poet, als der Verfasser ist.


Fußnoten

1 Und weiss die Sylben nur zu zehlen, nicht zu messen. Dass man keine vier Verse auch in den besten Frantzöschen Poeten lesen könne, darinnen nicht die Masse vieler Sylben zerstöhret sey, ist einem jeden bekant, der die Frantzösche Poeten gelesen hat. Es haben sich aber ihre Ohren hiezu so gewehnet, dass sie dadurch im meisten nicht verletzet werden. Die Italiänische Poeten nehmen sich eine unglaubliche Freyheit in Verkürtzung der Wörter: So dass es scheinet ihre Poesie könne so wenig ohne verschnittene Wörter; als ihre Musick ohne verschnittene Sänger bestehen. Und die Engelländer kehren sich insgemein wenig an die Reime. Wir Deutsche hergegen haben ein zärtlicher Ohr als die Frantzosen, indem wir uns lieber vieler nothwendigen Wörter, als: Wahrsager, Dollmetscher, Buchstaben, Herrschaften, Ausleger, Schatzmeister, Hoffmeister, Fussstapffen, und hundert dergleichen mehr in unsrer Poesie begeben; als dass wir nur eine lange Sylbe kurtz, oder eine kurtze lang machen solten. Wir haben mehr Gewissen, als die Welschen; indem wir den Wörtern lieber etwas zugeben als abnehmen. Und endlich so sein wir bessere Reimer als die Engelländer, indem wir uns an die Reime so sehr binden; dass wir insgemein, den einen Vers dem andern zu Liebe machen: und uns einbilden, wir haben auf einmahl gnug gethan, wenn wir den einen Vers wegen des Verstandes, und den andern bloss um des Reimes willen geschrieben haben. Wir sein derohalben unstreitig bessere Reimer, und bessere Versmacher als jene. Wer aber unter uns, der diese Ausländische Poeten gelesen, und derer Sprache nicht nur überhinn verstehet, darf sich unterstehen zu sagen; dass wir bis itzo durchgehends so gute Poeten als sie sein?


– – –Neque enim concludere versum,

Dixeris esse satis: neque si quis scribat, uti nos,

Sermoni propiora, putes hunc esse Poétam.

Ingenium cui sit, cui mens divinior, atque os

Magna sonaturum; des nominis hujus honorem.


Horat. Lib. 1. Satyr. 4.


Quelle:
Christian Wernicke: Epigramme, Berlin 1909, S. 446-447.
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