35. An Phocions Gemahlin

[388] Dass schon ein Ehweib gnug des Ehmans Tugend zier',1[388]

Das stelst du dir betrüglich für:

Ein unbereister Mann, und ein bereistes Weib

Die sind der Spötter Zeitvertreib;

Ein Mann der viel, ein Weib das wenig auf sich hält,

Die gelten gleich viel in der Welt;

Man sieht ein freches Weib, und einen blöden Mann,

Verächtlich das wie diesen an.

So dass du klärlich siehst, dass dich dein Wahn verführt,

Dieweil ein Weib vielmehr des Ehmanns Laster ziert.


Fußnoten

1 Dass schon ein Eh weib genug des Ehmanns Tugend zier' Es wurde des Phocions Gemahlin einst vorgeworffen, dass sie ihrem Ehmann keine Kinder gebohren; worauf sie antwortete: Satis magnum ornamentum foeminae est viri sui virtus. Diese Antwort ist von den alten als etwas sonderbahres angemercket worden; weil dieselbe aus dem Munde eines Tugendhafften Weibes gekommen. In sich selber aber ist dieselbe sehr betrüglich, weil sonst die bosshaffte und rasende Xantippe sich derselben Worte mit gleichem Fug gebrauchen können; in Ansehen ihr Gemahl der Socrates dem Phocion an Tugend und Grossmuht nicht das geringste nachgegeben. Unterdessen so hat man sich dieser ernsthaften Wiederlegung allhier nicht bedienet, sondern derselben eine Schertzhafte desto lieber vorgezogen, weil man hiedurch Gelegenheit gehabt den im Anfang ein wenig aufgehaltenen Leser, hernachmals durch einen unverhofften Schluss desto mehr zu erlustigen. Nam quia nova placent, ideo sententiae, quae praeter opinionem desinunt, delectant.

Aristot. Rhet. c. 11.


Quelle:
Christian Wernicke: Epigramme, Berlin 1909, S. 388-389.
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