Erstes Kapitel

[74] Die Ursache, warum der Graf die Aufnahme des kleinen Heinrichs auf sein Schloß betrieb, hörte unmittelbar nach der Geburtsfeier auf: er sollte das Werkzeug seiner Politesse sein: das Werkzeug hatte seine Dienste getan und war in seinen Augen nunmehr nichts Besseres wert als – es wegzuwerfen. Es war ihm so herzlich zuwider, den gemeinen Jungen zuweilen um und neben sich zu dulden, daß die Gräfin besorgte, er werde ihr einmal ebenso despotisch befehlen, ihm ihre Zuneigung zu entziehen, als er vorhin darauf drang, ihrer Liebe für ihn keine Gewalt anzutun. Der Gehorsam wäre ihr itzt in der ersten Hitze ihrer Gunst unendlich schwergefallen: dafür ließ sie sich wohl nicht bange sein, daß sie in dem äußersten Falle nicht Mittel genug finden werde, ihren Gemahl unvermerkt dahin zu leiten, daß er ihr wider seinen Willen eine Aufopferung untersagen mußte, die er gern von ihr gefodert hätte: allein sie hielt es doch für klüger, beizeiten vorzubauen, oder vielmehr, sie konnte nicht ertragen, daß jemand ihren Liebling haßte, weil sie ihn so heftig liebte.

Ihr Götze war die Neuheit, wie die Politesse die Abgöttin ihres Gemahls: in den ersten Tagen, der ersten Woche einer neuen Zuneigung wurde ihr ihre Gewogenheit zu einem wirklichen Leiden: mit der Unruhe der höchsten Leidenschaft sorgte sie für den Gegenstand derselben: eine Minute Abwesenheit machte ihr Kummer, und in seiner Gegenwart war sie unaufhörlich mit sich selbst unzufrieden, daß sie keine Sprache noch Handlung wußte, um die ganze Stärke ihrer Liebe auszudrücken und zu beweisen. Heinrich durfte keinen Augenblick von ihrer Seite, mußte sie überall begleiten, sie lehrte ihn in eigner Person französisch lesen, ließ ihn schreiben, sann beständig auf neue Zeitvertreibe für ihn und betrieb seinen Unterricht und sein Vergnügen mit solchem Eifer, daß sie tagelang nicht aus dem Zimmer kam. Er saß auf ihrem Schoße, hing ihr am Halse, sie küßte und[74] liebkoste ihn wie den zärtlichsten Liebhaber und wartete ihm auf wie ihrem Gebieter: ein Wink von seinen Augen, ein Wörtchen, nur die mindeste Äußerung eines Wunsches! – und sie flog sogleich, ihn zu befriedigen. Er hatte ihr Herz so ganz ausgefüllt, daß außer ihm für sie nichts in der Welt war, das ihr nur eine sekundenlange Aufmerksamkeit wegstehlen konnte: die Baronesse Ulrike, ihr Gemahl – alles war für sie so gut als vernichtet.

Je stärker dieser Paroxysmus zunahm – denn weiter war es im Grunde nichts als der Anfall eines leidenschaftlichen Fiebers-, je empfindlicher wurde ihr der bemerkte Widerwillen ihres Gemahls gegen ihren Günstling. Um ihn zu heben, fragte sie ihn eines Tages bei Tafel, ob er auf den Sonntag nicht in die Kirche fahren und einen kleinen Türken dabei paradieren lassen wollte, der in seine Dienste zu treten wünschte. Der Graf merkte, wen sie meinte, und sagte ja. Der Sonntag erschien, und Heinrich war auf ihre Unkosten in Atlas als Türke gekleidet.

Eine solche Kirchenparade war eins der angenehmsten Opfer, womit der Graf zuweilen seiner übermäßigen Prachtliebe und seinem Stolze schmeichelte. Seine ganze Hofstatt wurde alsdann beritten gemacht: die Jäger seiner ganzen Herrschaft mußten sich in ihrem völligen Ornate tags vorher einfinden, um den Zug verlängern zu helfen, der von dem Schlosse durch alle Gassen des Städtchens, die für eine Kutsche breit genug waren, bis zur Kirche ging. Die Hälfte der Jäger zu Pferde mit vor sich gestellten Büchsen eröffnete ihn: an sie schloß sich alles, was nur auf einem Pferde sitzen konnte und eine Bedienung ohne Liverei bei dem Grafen hatte, in dem auserlesensten Schmucke; alle ritten in weißen seidnen Strümpfen und großen breiten Haarbeuteln, weil es der Graf für unanständig hielt, bei einer so feierlichen Gelegenheit gestiefelt zu erscheinen. Auf diese galante Kavallerie folgte die sämtliche Liverei zu Fuß, mit langen spanischen Schritten, strotzend und starrend in reich verbrämten Galakleidern; alsdann wurde in einem Staatswagen, geräumig wie ein Tanzzimmer, der Graf, in einem zweiten ebenso[75] großen die Gräfin, in einem dritten die kleine Baronesse, die in dem großen Gebäude kaum zu finden war, und in einem vierten Fräulein Hedwig wohlgemut, ein jedes mit Pferden von einer andern Farbe, dahergezogen: den Beschluß machte der Rest der löblichen Jägerschaft. Auf der rechten Seite der Kutsche, die den Grafen trug, ging zum Unterscheidungszeichen der wohlbeliebte Maulesel des Grafen in seiner scharlachnen, goldbeladnen Uniform; und die leere Stelle auf der linken Seite mußte auf Veranstaltung der Gräfin ihr Liebling in seinem atlasnen Türkenkleide einnehmen. Eine solche Kirchfahrt war für den Grafen das köstlichste Vergnügen der Erde: er fühlte sich so wohl, wenn er sich in dem gläsernen Kasten wiegte, so zufrieden mit sich selbst! – Auch war es der sicherste Weg zu seiner Gunst, wenn man seine abenteuerliche Kirchenparade verherrlichen half; und die Gräfin hatte aus keiner andern Absicht ihren Heinrich zu seinem Kammertürken gemacht. Die Idee nahm ihn so sehr sein, daß er mit beständigem Wohlgefallen aus der Kutsche auf den kleinen Muselmann herabsah: er dünkte sich auf der Leiter der Hoheit um ein paar Sprossen weiter hinaufgerückt. Da seine Gemahlin sonst dergleichen Aufzüge aus dem guten Grunde verhinderte, weil sie ein Muster von Lächerlichkeit darinne fand, so war die Freude itzt desto lebhafter, daß sie ihn selbst dazu ermunterte: alles, auch selbst die Knoten seiner Perücke, wallten vor Entzücken an ihm.

Dies war der wichtige Augenblick, wo der kleine Heinrich den ersten Schritt zur Gnade des Grafen tat, und wo die Vermutung des Publikums über seine unehliche Geburt zur Gewißheit wurde. Dies konnte um soviel leichter geschehen, da sein Vater erst zwei Jahre in den Diensten des Grafen und in dem Städtchen war, und also seine vorhergehenden Familienumstände an diesem neuen Wohnorte noch in einer kleinen Dunkelheit lagen.

Noch den nämlichen Tag empfing er zur Belohnung der treugeleisteten Begleitung einen besondern Beweis von der Gunst seines Patrons. Wenn das Wetter nicht günstig war, um den prächtigen sonntäglichen Spaziergang zu machen,[76] wovon ich schon eine Beschreibung geliefert habe, so wurden die vakanten Stunden mit andern ganz eignen Lustbarkeiten ausgefüllt. In einem solchen Falle befand sich der Graf eben itzt: trübe Regenwolken überzogen nachmittags den Himmel und drohten jeden Augenblick mit Regen: er ließ also alle Stalleute zusammenrufen, sie mußten sich unter seinem Fenster im Zirkel stellen und zu einem Wettkampfe bereithalten. Dieser Wettstreit bestand in nichts Geringerm, als daß er Äpfel oder Kupferpfennige unter sie auswarf, damit sie sich darum balgten: sobald die ausgeworfne Kleinigkeit in ihren Kreis herabfiel, stunden sie alle aufmerksam da, die Augen auf den Preis geheftet: der Graf blies in ein Pfeifchen, und sogleich stürzte auf dieses Losungszeichen der ganze Haufen übereinander her, balgte, raufte, kratzte und drückte sich um des Plunders willen, währenddessen immer neue Anreizungen zum Streite über sie herabgeworfen wurden. Sollte das Spiel recht anziehend werden, so ließ er die Erde mit Wasser befeuchten oder stellte es nach einem starken und langen Regen an, wenn der leimichte Boden schlüpfrig und durchweicht war, daß man bei jeder Bewegung ausgleitete und hie und da einer sein Bild in Lebensgröße in das nasse Erdreich eindrückte. Bei dieser hohen Ergötzlichkeit hatte der neue Kammertürke die Gnade, das Körbchen zu halten, das die auszuwerfenden Kupferpfennige enthielt. So klein diese Gnadenbezeugung vielen scheinen mag und auch in der Tat ist, so war sie doch in den stolzen Augen des Grafen von ungemeiner Erheblichkeit: er erzeigte jemandem alsdann die größte Gnade, wenn er sich einen Dienst von ihm tun ließ: das war sein Grundsatz, und insofern mußte sich der kleine Herrmann viel wissen; denn der Graf brauchte ihn unaufhörlich zu seiner Bedienung, wo er zu brauchen war: und da er ihn nunmehr in dem Lichte als ein ihm unterwürfiges, dienendes Subjekt betrachtete, so hatte er wider seinen Aufenthalt auf dem Schlosse nichts mehr einzuwenden.

Aber desto mehr die Gräfin wider die öftern Bedienungen, die er von ihm foderte: es war ihr höchst verdrüßlich, daß er[77] so oft von ihr und ihren Beschäftigungen mit ihm abgezogen wurde; und weil sie ihren Gemahl durch keine Vorstellung darüber beleidigen wollte, so ging sie so weit, daß sie sich ganze halbe Tage in einem abgelegenen Pavillon im Garten verschloß, ohne daß jemand wußte, wohin sie war.

Plötzlich, wie ein Fieber ausbleibt, stund bei der Gräfin ihre Leidenschaft für den Knaben still: ohne die mindeste Veranlassung, sogar ohne die mindeste Unzufriedenheit mit ihm erlöschte ihre Zuneigung: es wurde ihr lästig, ihn beständig um sich zu haben, beschwerlich, sich mit ihm abzugeben, selbst unangenehm, ihn zu sehen. So schöpfte sie meistenteils im Anfange jeder Leidenschaft das Herz mit so vollen überlaufenden Eimern aus, daß auf einmal eine gänzliche Trockenheit entstand: allmählich begann die ausgetrocknete Quelle wieder zu fließen, und nunmehr ward erstlich eine vernünftige, gemäßigte Neigung daraus, die die Zeit weder vermehrte noch verminderte, die nie strömte, sondern nur zuweilen auf kleine Zeiträume anschwoll und dann zu einem stillen, ordentlichen Laufe wieder zurückkehrte.

Heinrichs Glück war es, daß das erste Aufschwellen ihrer Liebe bei ihm sobald vorbeischoß: er wäre der verzärteltste, eingewilligste, unleidlichste Bursche durch die geworden. – Um sich seiner zu entledigen, übergab sie ihn dem jungen Manne, den der Graf für den Unterricht der Baronesse besoldete. Er hieß Schwinger.

Quelle:
Johann Karl Wezel: Hermann und Ulrike. Leipzig 1980, S. 74-78.
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