Zweites Kapitel

[78] Soviel Glück es für den kleinen Herrmann war, in die Hände seines neuen Lehrers zu geraten, soviel Freude verursachte es diesem, die Laufbahn seiner Unterweisung und seines pädagogischen Ehrgeizes dadurch erweitert zu sehen. Er war einer von den Unglücklichen, denen die Natur viele Kraft und das Schicksal nichts als unwichtige Gelegenheiten gibt, sie zu äußern: Talente und Ehrbegierde bestimmten ihn, ein Volk zu regieren, und weil sich kein Volk von ihm regieren lassen wollte, so regierte er – Kinder. Um ihn noch mehr zu[78] tücken, nötigte ihn sein widriges Geschick, den Platz in dem Hause des Grafen anzunehmen und in dem engern Kreise, der dem Unterrichte eines Frauenzimmers meistenteils vorgezeichnet wird, wie ein Vogel in dem Rade, womit er sich einen Fingerhut voll Wasser aufzieht, umzulaufen. Ein Pferd, das gern mit gestrecktem Galopp über Felder, Hügel, Tal und Berg in die weite Welt dahinrennen möchte und gezwungen wird, täglich in einem Zirkel von etlichen Ellen im Durchschnitte sich herumzudrehen und einerlei Bewegungen zu wiederholen, kann nicht so bäumen, so brausen und von dem innerlichen niedergehaltenen Feuer geängstigt werden als dieser arme Jüngling, zumal da seine Schülerin mehr einen lebhaften als wißbegierigen, mehr einen unternehmenden als fähigen Geist hatte, bei wenig Lust auch nur wenig in ihrer Wissenschaft fortrückte und in nichts merklich zunahm als im Briefschreiben, worin sie frühzeitig ungewöhnliche Fertigkeit und eine angenehme fließende Sprache erlangte. Er wollte außer sich wirken, pädagogische Lorbeern einsammeln und hatte kein Feld, wo er sie pflücken konnte: Mut, Geist und Nerven erschlafften in ihm: er verzehrte sich selbst.

Er saß eben, als ihm die Gräfin ihren entsetzten Liebling übergeben wollte, voll trüber unruhiger Empfindungen im Garten der Einsiedelei – einem düstern Tannenwäldchen, dessen schlanke Bäume so dicht aneinander standen, daß ihre verschlungnen Wipfel fast nie einen Strahl Tageslicht durchließen. Mitten unter ihnen hatte man auf einem leeren Platze einen künstlichen Berg aufgeworfen und eine Höhle hineingewölbt, deren Wände mit Moos überzogen waren und beständige Kühlung gewährten. Nicht weit davon machten zwei Mühlen ein angenehmes Getöse, und wenn man in der Höhle saß, erblickte man durch die glatten Stämme der Tannen den blinkenden Wassersturz eines Wehrs, der wie ein augespanntes Tuch mit einem hohlen Brausen herniederschoß. Jedermann im ganzen Hause des Grafen, den geheimer Kummer, Vapeurs, Hypochondrie oder schlechte Verdauung quälte, flüchtete an diesen Schutzort[79] der Melancholie, und niemand, wenn seine Wunde nicht zu tief in der Seele saß, ging leicht ungetröstet hinweg: die einförmige Musik des Wassers und die totstille Finsternis wiegten sehr bald in einen sanften Schlummer ein, der Herz und Nerven erquickte.

Die Gräfin suchte damals diese Zuflucht, um sich vor der Langeweile zu schützen, die gewöhnlich bei ihr und vielleicht bei jedem Menschen den Zustand begleitete, wenn sie eines Vergnügens überdrüssig war und, wie auf Stahlfedern, mit einem unbestimmten Verlangen nach Neuheit hin und her schwebte. Sie fand alsdann nirgends Ruhe: alles war ihr zuwider: ängstlich irrte sie aus dem Zimmer in den Garten und aus dem Garten in das Zimmer, fing zehn Arbeiten an, beschäftigte sich mit jeder einige Minuten und warf sie weg, fütterte die indianischen Hühner ein paar Augenblicke und warf ihnen ungeduldig das ganze Brot vor die Füße, sah ihre Gemälde, ihre Kupferstiche durch und gähnte, blickte in ein Buch, las zwei Zeilen und legte es gähnend neben sich, holte ein anders und schlief ein. In einem solchen Gemütszustande kam sie itzt in den Garten, ihr bis zur Sättigung geliebter Heinrich, der sie eben in jene unruhige Langeweile versetzt hatte, ging hinter ihr drein, einen Teil von Geßners Schriften unter dem Arme, die sie unter allen deutschen Produkten des Geschmacks allein und gern las. Ihre Füße trugen sie von selbst zu dem Tannenwäldchen und der Einsiedelei, wo sie Schwingern, mit einer ähnlichen Krankheit behaftet, antraf. Er war gewohnt, neben ihr zu sitzen, wenn ihr Gemahl nicht dabei war, der das Sitzen eines Mannes, den er bezahlte, in seiner Gegenwart als eine unanständige Vertraulichkeit verwarf: er nahm also, ohne ihren Befehl zu erwarten, nach der ersten Begrüßung sogleich wieder Platz.

»Sie sind verdrießlich«, fing die Gräfin mit verdrießlichem Tone an. »Seien Sie doch aufgeräumt! Ich weiß gar nicht, warum ich nun seit drei Tagen kein einziges fröhliches Gesicht auf dem ganzen Schlosse erblicke. Wen ich anrede, der antwortet mit dem langweiligsten Ernste, und wenn er ja lacht, so sieht man's doch genau, daß er sich dazu zwingt.[80] Selbst die Bäume im ganzen Garten sehn so unmutig, so gelbgrün aus, als wenn der ganzen Natur nicht wohl zumute wäre. – Sagen Sie mir nur, ob ihr Leute alle auf einmal hypochondrisch geworden seid?«

Schwinger. Vermutlich scheinen wir alle darum nicht aufgeräumt, weil es Euer Exzellenz nicht sind –

Die Gräfin. Ich? nicht aufgeräumt? – Ich dächte, daß ich's wäre. – Wissen Sie kein Mittel wider die Langeweile?

Schwinger. Wenn Beschäftigung oder Zerstreuung nicht hilft –

Die Gräfin. Wenn Sie sonst keine Arznei wissen, diese kenn ich. – Tun Sie mir nur den Gefallen und machen Sie nicht ein so langweiliges Gesicht: man wird ja selbst verdrießlich, wenn man Sie nur ansieht.

Schwinger. Ich beklage unendlich – so will ich mich lieber entfernen –

Die Gräfin. Bleiben Sie nur! – Wissen Sie nichts Neues?

Schwinger. Nichts als das einzige –

Die Gräfin. Erzählen Sie mir's nicht! Es ist doch vermutlich etwas Langweiliges. – Finden Sie nicht auch, daß die Welt immer alltäglicher wird?

Schwinger. Ja, ich fühle sehr oft die Last der Einförmigkeit.

Die Gräfin. Unausstehlich einförmig ist alles. – Es fehlt Ihnen wohl an Zeitvertreiben bei uns? – Trösten Sie sich mit mir! Der Graf macht mir immer so viele Veränderungen, daß ich – à propos! ich will Ihnen einen neuen Zeitvertreib schaffen. Hier den kleinen Heinrich nehmen Sie zu sich, unterrichten und erziehen Sie ihn, so gut Sie können: vielleicht läßt sich etwas aus ihm machen. Er soll Ihnen ganz überlassen sein: die nötigen Bücher und andere Dinge fodern Sie von mir!

Schwinger. Für dieses Geschenk danke ich mit so vieler Freude, als wenn –

Die Gräfin. Ich bitte Sie, machen Sie mir durch Ihre Komplimente keine Langeweile! – ich kann Ihnen vorderhand keine Vermehrung des Salärs versprechen: allein wir werden schon sehn!

Schwinger. Ich bin völlig zufrieden, völlig zufrieden, daß ich eine Arbeit bekomme, die mehr Tätigkeit fodert als meine[81] bisherige: und wenn ich mir den Beifall Eurer Exzellenz verdienen könnte –

Die Gräfin. Sie werden mich Ihnen verbinden, wenn Sie ein wenig Fleiß auf den Burschen wenden. – Sehn Sie, wer kömmt!

Schwinger ging, es zu untersuchen, und berichtete, daß es der Graf sei. – »Ach!« brach die Gräfin in der ersten Überraschung des Verdrusses aus; »da wird erst« – ›die Langeweile angehn‹, wollte sie sagen; allein sie unterbrach sich und setzte hinzu, als eben der Graf in die Einsiedelei trat: »Sie erzeigen mir sehr viel Gnade, daß Sie mir ihre unterhaltende Gesellschaft gönnen, gnädiger Herr.«

Der Graf machte ein Gegenkompliment, setzte sich und gähnte. »Ich habe schreckliche Langeweile auf meinem Zimmer gehabt«, fing er an. »Wenn man keinen Gefallen mehr an der Jagd findet, so weiß man immer nicht, was man mit der Zeit anfangen soll. Alle Tage Gesellschaft aus der Nachbarschaft zusammenzubitten ist sehr beschwerlich! Ich bedaure Sie nur, daß ich nicht genug zu Ihrem Vergnügen beitragen kann –«

Die Gräfin. Mein größtes Vergnügen ist Ihre Gesellschaft. Ihre Unterhaltung läßt mich nie Langeweile haben.

Der Graf versicherte, daß er solche liebreiche Gesinnungen zu verdienen suchen werde, gähnte und schwieg. Beide saßen lange stumm da, wie die leibhaften Bilder des Verdrusses – hin und wieder eine kahle Frage nebst einer ebenso kahlen Antwort – dann ein schmeichelhaftes Komplimentchen – hinter jeder Anrede und Antwort ein langes Intervall von Stillschweigen – das war ihr höchst unterhaltendes Gespräch. Nachdem sie sich fast eine halbe Viertelstunde mit einem so mühseligen Dialoge gemartert hatten, so versicherte der Graf, daß er durch seine Gemahlin ganz aufgeheitert worden sei, und sie tat ihm aus Erkenntlichkeit die Gegenversicherung mit schläfrigem Tone, daß er ihr eine der schlechtesten Launen durch seine Gegenwart vertrieben habe.

Als diese lebhafte Unterhaltung ganz erloschen war, fand sich die Baronesse bei der Einsiedelei ein und stutzte, daß sie[82] zusammenfuhr, da sie beim Eintritte Onkel und Tante mit niedergesenktem Haupte in tiefem Stillschweigen erblickte. – »Was willst du?« fragte der Graf. – »Die Zeit wurde mir auf dem Zimmer zu lang«, antwortete sie.

Die kleine Heuchlerin! Sie war ausgegangen, den kleinen Herrmann aufzusuchen; und die Zeit wurde ihr auf dem Zimmer zu lang, weil er nicht bei ihr war.

»Immer wird dir die Zeit zu lang«, fuhr der Graf fort. »Klagen wir doch niemals darüber. Mache es wie wir, so wird dir die Zeit niemals zur Last fallen! Setze dich zu uns! Unterhalte dich! Ein lebhaftes Gespräch wie das unsrige läßt gar nicht daran denken, daß es Zeit gibt.«

»Wo ist Hedwig?« fragte die Gräfin. – Die Baronesse berichtete, daß sie schon über eine halbe Stunde ausgegangen sei.

Die lebhafte Unterhaltung stund abermals still, wie ein ausgetrockneter Bach.

Nach einigen Minuten hörte man Fräulein Hedwigs Stimme sich mit vieler Heftigkeit nähern und zugleich ein Geräusch, als wenn ein ganzes Regiment Infanterie hinter ihr drein marschierte. Die Baronesse sah sich danach um und brachte die Nachricht zurück: daß Fräulein Hedwig in Begleitung der sämtlichen Domestiken anrücke. Unmittelbar darauf erschien sie in höchsteigner Person; weil sie niemanden in der Höhle vermutete, stellte sie sich einige Schritte weit von ihr hin, den Rücken nach dem Eingange gekehrt. Die Bedienten traten in einen Halbzirkel und hörten aufmerksam zu. Mit lauter Stimme, den rechten Arm ausgestreckt, die Hand geballt und den Zeigefinger in eine demonstrierende Lage gesetzt, hub sie an: »Dort in Norden steht Ursus magnum, auf deutsch der Große Bär genannt« – Schnapp! riß ihr ganzes Auditorium aus, als wenn einem jeden der Große Bär auf den Schultern säße und ihn verschlingen wollte. Ihre Demonstration blieb vor Verwunderung in der Luftröhre stecken, und lange stund sie mit ausgestreckter Hand wie versteinert da und sah den flüchtenden Zuhörern nach. Endlich drehte sie sich um, von ihrer Arbeit in der Höhle auszuruhen, wurde den Grafen gewahr und begriff nunmehr die[83] plötzliche Flucht ihrer Schüler: der Anblick des Grafen, den sie alle wie eine Gottheit fürchteten, hatte sie verscheucht. Sie schämte sich und trat mit einer tiefen Verbeugung in die Höhle hinein.

Die Gräfin erkundigte sich lächelnd nach ihrer gehabten Verrichtung, und ob sie sich gleich anfangs weigerte, die Wahrheit zu gestehen, so trieb man sie doch durch wiederholte Fragen so in die Enge, daß sie bekannte, sie habe erschreckliche Langeweile auf ihrem Zimmer gehabt und sei deswegen darauf verfallen, die Domestiken auf pathetische Art im Spaziergehen, wie Aristoteles, die Astronomie zu lehren.

»Warum geben Sie sich mit solchen schlechten Leuten ab?« sagte der Graf. »Wissen Sie denn keine bessere Gesellschaft? – Setzen Sie sich zu uns! so wird es Ihnen nicht an Zeitvertreibe fehlen.«

Fräulein Hedwig gehorsamte mit dankbarer Ehrerbietung und schwieg. Niemand sprach ein Wort. – Nach langer allgemeiner Stille erhub sich der Graf. »Man redet sich«, sagte er, »in der Länge müde und trocken: wir wollen zusammen ausfahren.« – Die Baronesse übernahm freiwillig das Geschäfte, die Kutsche zu bestellen.

In der Kutsche war das Gespräch ebenso belebt wie in der Einsiedelei und an allen Enden und Orten, wo sich der Graf befand: denn er foderte als ein Zeichen des Respekts, daß man in seiner Gegenwart schwieg, daß man gern in seiner Gesellschaft war und sich nirgends besser vergnügte als bei ihm, wenn man gleich vor Langerweile in Ohnmacht hätte sinken mögen: wirklich bildete er sich auch ein, daß seine Gesellschaft die beste sei, weil er jedem eine große Gnade zu erzeugen glaubte, dem er sie gönnte.

Quelle:
Johann Karl Wezel: Hermann und Ulrike. Leipzig 1980, S. 78-84.
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