Dritter Auftritt.

[32] Jeronymo, Grandison.

Grandison setzt sich neben Jeronymo.


JERONYMO. O mein Grandison! Was für eine Macht hat die Seele über ihren Leib! Vor Ihrer Ankunft war ich kaum noch der Schatten von mir selbst. Die wilden Schmerzen unheilbarer Wunden, und die langwierigen Martern, die ich ohne Wirkung unter den Händen der Ärzte erduldete, hatten meine Lebensgeister erschöpft; die Zukunft zeigte mir lauter fürchterliche Aussichten, und das Unglück meiner Schwester vollendete mein Elend. Wie oft habe ich den Tod angefleht! Wie oft erlag meine ermüdete Seele unter ihren Leiden! Aber seitdem ich Sie wieder gesehen habe, seitdem diese Arme meinen Freund, meinen Bruder, meinen Grandison wieder umschlossen haben, scheint eine neue Quelle von Leben in meine Adern zu fliessen; ich vergesse meiner Schmerzen, das Daseyn ist wieder ein Gut für mich, und ich fange an zu hoffen. – Theurer Grandison! Wie sehr, wie sehr sind wir Ihnen verbunden! – Die Wirkungen, die ich selbst von Ihrer Gegenwart erfahre, machen, dass ich auch für meine Schwester[33] hoffe. – O Grandison, sie liebt Sie unaussprechlich! Niemahls hat eine so reine Zärtlichkeit, eine so heilige Liebe, in einer unschuldigern Brust geglühet! – Mein theurer Freund, Sie müssten nicht seyn was Sie sind, wenn Sie durch so viel Liebe bey so vielen Vorzügen nicht gerührt würden.

GRANDISON. Gewiss kann mein Jeronymo das Herz seines Freundes nie so sehr verkennen, um daran zu zweifeln. Aber haben Sie jemahls die Schwierigkeiten meiner Stellung überdacht? Wenn Sie es gethan hätten, Sie würden mich bedauert haben. Wie sehr musste mein Geist alle seine Stärke anwenden, die schönste, die gerechteste Leidenschaft zu unterdrücken, die das tägliche Anschauen der allzu reitzenden Vorzüge Ihrer Schwester in mir nährte! – der Einzigen unter allen die ich je gesehen habe, von der mir mein Herz sagte, dass ich sie über alles lieben könnte! Wie sehr musste ich meine Zunge, meine Blicke, meine Mienen beherrschen, damit nicht die mindeste Spur von demjenigen sichtbar würde, was ich in meinem Innersten zu bewahren entschlossen war! Ein bedeutender Blick, ein verrätherischer Seufzer würde in meinen Augen ein Verbrechen gewesen seyn. Denn damahls konnte auch nur der Gedanke nicht in mir entstehen, dass ich die bewundernswürdige Klementina jemahls in einem andern, als in dem Verhältniss einer Schwester, würde ansehen dürfen.[34] Ich wusste zu sehr, dass, wenn auch alle andern Hindernisse gehoben werden könnten, diejenigen, die mein Vaterland und meine Religion machten, unübersteiglich wären.

JERONYMO. Ach, Grandison, Sie durchbohren mein Herz! – Und sind sie denn unübersteiglich! Ich kann, ich mag es nicht glauben! Rauben Sie mir die süsse Hoffnung nicht, die alles ist was mich noch beym Leben erhält! – Aber ich höre, wie mich dünkt, meinen Vater und meine Mutter kommen. Ich muss es auf eine andere Gelegenheit verschieben, Ihnen den Entwurf, den ich gemacht habe, zu entdecken.


Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Supplemente Band 5, Leipzig 1798, S. 32-35.
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Klementina von Porretta
C. M. Wielands sämtliche Werke: Supplement, Band V. Klementina von Porretta; Pandora; Die Bunkliade; Auszüge aus Jakob Forsters Reise um die Welt