Zwölfter Auftritt.

[109] Die Scene ist das Zimmer des Jeronymo.

Jeronymo, Klementina.

Klementina sitzt, den Kopf auf ihren Arm gestützt, in einem schwermüthigen Stillschweigen, das zuweilen durch Seufzer unterbrochen wird.


JERONYMO. Was fehlt Ihnen, meine liebste Schwester? Sie nähern Sich dem Augenblick, der alle Ihre Trübsale enden wird, Sie werden über Ihre Hoffnung glücklich werden, und Sie sind traurig? Sie beantworten die zärtlichen Ausbrüche meiner Freude mit halb erstickten Seufzern, und indem ich in Entzückung über Ihr bevorstehendes Glück aller meiner Schmerzen vergesse, schleichen stille Thränen, die Verräther irgend eines geheimen Kummers, über Ihre Wangen?

KLEMENTINA. Ach, Jeronymo! –

JERONYMO. Wie ist es möglich, meine Klementina, dass so frohe, so glänzende Aussichten nicht jede Spur der Traurigkeit aus Ihrer[109] Seele tilgen? – Glückliche, dreymahl glückliche Schwester! Die Geliebte, die Freundin, die Gemahlin meines Grandison! Welch ein Himmel von Glückseligkeiten liegt in diesen Nahmen! Welch ein Vorzug vor allen Ihres Geschlechts!

KLEMENTINA. Halten Sie ein, liebster Jeronymo – Wollte der Himmel, meine eigene Fantasie wäre weniger geschäftig, mir das Glück auszumahlen, dem ich zu entsagen genöthiget bin!

JERONYMO. Was sagen Sie, Schwester? Was für neue Besorgnisse? Woher diese Kleinmüthigkeit und diese hoffnungslose Sprache? Hören Sie auf, Sich selbst zu quälen! Alle Hindernisse sind gehoben. Fürchten Sie nicht, dass unsere Ältern ihren Entschluss ändern möchten. Das unvergleichliche Betragen unsers Freundes hat sie so sehr eingenommen, dass sie diese Verbindung jetzt eben so heftig wünschen, als ich selbst. Oder fürchten Sie etwa den General? Sein Widerstand wird nur den Sieg unsers Freundes zu erhöhen dienen. Verbannen Sie also alle traurigen Gedanken, liebste Klementina! Sie haben die schwerste Prüfung überstanden; der Augenblick ist nun gekommen, der Sie für alle Ihre Leiden belohnen wird.

KLEMENTINA. Ach, Jeronymo! Sie wissen nicht – Ich kann nicht reden – Ich fürchte mich, Ihnen zuzuhören – Ich fürchte mich[110] vor mir selbst – Verzeihen Sie mir, lieber Bruder! – Aber ich muss Sie verlassen –


Sie steht auf, um fortzugehen.


Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Supplemente Band 5, Leipzig 1798, S. 109-111.
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Klementina von Porretta
C. M. Wielands sämtliche Werke: Supplement, Band V. Klementina von Porretta; Pandora; Die Bunkliade; Auszüge aus Jakob Forsters Reise um die Welt