Zweite Scene.

[271] Der Herzog von Suffolk. Die Vorigen.


LADY JOHANNA.

O theurer Vater!

Sprich, welch ein Engel hat dich aus dem Kerker

Zu uns geführt?

SUFFOLK.

Die Vorsicht, die dich liebt

Die Schützerin der Unschuld, meine Tochter!

Die führet mich zu dir. Sie brach die Fesseln,[271]

Schloss meinen Kerker auf, und brachte mich zu dir.

Ein Strahl vom Himmel hat Mariens Herz

Für uns gerührt. Sie schenkte mir die Freyheit.

Und ein Gerüchte, welches mein Begegniss

Glaubwürdig macht, verspricht mir, meine Kinder,

Euch bald aus diesen grauenvollen Mauern

Erlöst zu sehn. Nur diese Hoffnung macht

Mir meine Freyheit werth.

GUILFORD.

Was sagt mein theurer Vater?

O Suffolk! Ehrenvoller Greis! Dein Antlitz

Ist meinem Blick das Antlitz eines Engels!

O Wunder! Darf ichs glauben? oder öffnet sich

Mein Herz zu schnell dem ungewissen Schimmer

Des bessern Glücks? – Ja, Vorsicht, uns geziemt

Von deiner Güte stets das Beste zu erwarten.

SUFFOLK.

Ich hörte, Gardiner, der alte Bischoff

Von Winchester; sey von der Königin

Zu dir geschickt, Johanna, ihren Willen

Dir anzukünden –[272]

JOHANNA.

Was seit Edwards Tode mir

Begegnet ist, füllt meine Seele

Mit Zweifel, Furcht und innerlicher Ahnung;

Der Himmel hat zu neuen Prüfungen

Vielleicht mich ausersehn, von ihm allein,

Erwart ich Kraft, die Probe wohl zu halten!

GUILFORD.

Lass, Theureste, lass deines Vaters Freyheit,

Diess unverhoffte Wunder jener Macht,

Die unsichtbar den Lauf der Dinge lenket,

Lass dieses mindstens dein zu ängstlich Herz

Mit frohern Ahnungen erheitern.

Noch können wir, Johanna, glücklich werden.

Noch kann mich deine Liebe glücklicher,

Als der Besitz von tausend Kronen machen.

Ja! Himmel! Sende nur mein ruhmlos Leben

In dunkle Niedrigkeit; bestimme mich,

Nach harter Arbeit mit beschwitzten Händen

Mein Brot zu essen – lass mir diese nur,

Die beste Gabe, die ich von dir bitten,

Und deine Güte mir gewähren konnte!

An ihrer Seite wird mein frohes Leben

Auch in der ärmsten Hütte paradiesisch.[273]

So wie des ersten neuerschaffen Paares

In Edens schöner Einsamkeit, verfliessen!

SUFFOLK.

Ach Guilford! Ach Johanna! Wenn ich euch,

Mit dieser schnellen Wiederkehr von Hoffnung

Nur nicht zu früh geschmeichelt habe! –

Ein Rückfall wäre tödtlich – Aber hier

Ist Gardiner bereits –


Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Supplemente Band 4, Leipzig 1798, S. 271-274.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Müllner, Adolph

Die Schuld. Trauerspiel in vier Akten

Die Schuld. Trauerspiel in vier Akten

Ein lange zurückliegender Jagdunfall, zwei Brüder und eine verheiratete Frau irgendwo an der skandinavischen Nordseeküste. Aus diesen Zutaten entwirft Adolf Müllner einen Enthüllungsprozess, der ein Verbrechen aufklärt und am selben Tag sühnt. "Die Schuld", 1813 am Wiener Burgtheater uraufgeführt, war der große Durchbruch des Autors und verhalf schließlich dem ganzen Genre der Schicksalstragödie zu ungeheurer Popularität.

98 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon