41.
Aristipp an Lais.

[260] Du ahndest wohl nicht, schöne Lais, daß drei in deinem Hause gelebte Tage mich dem höchsten Ziele der Philosophie näher gebracht haben als vier Jahre in der Sokratischen Schule. Wenn es wahr ist (und das ist es gewiß!) daß die Tugend der Selbstbezwingung die Wurzel aller übrigen ist, wie viel habe ich nicht dem Angedenken jenes flüchtigen Wonnetraums zu danken! Glaube mir, diese ganze Zeit, da ich wieder von dir getrennt bin – ich erröthe dir zu gestehen, wie viel Jahre sie mir schon währt – war ein einziger unaufhörlicher Kampf meines Willens mich von dir zu entfernen, mit dem unwiderstehlichsten Drang zu dir zurück zu fliegen. Bis hierher habe ich obgesiegt; und fortkämpfen werd' ich ihn – diesen peinlichern Kampf als die schwersten, wodurch man die Olympischen und Isthmischen Kronen erringt – und meinen Muth mit der Hoffnung stärken, daß du (wie bald oder wie spät mögen die Götter wissen!) den Sieger mit dem süßesten Kusse, den deine Nektarlippen je geküßt haben, belohnen werdest. – Lache nicht über eine so seltsame Tugendübung! Du würdest dich, wenn du ihrer spotten könntest, an dir selbst, an mir und an der[260] Tugend gleich stark versündigen. Wirklich und in ganzem Ernst, ich zweifle sehr ob jemals eine größere That als die meinige gethan worden ist, und es gibt Augenblicke, wo ich mit dem stolzesten Selbstgefühl auf alle zwölf Arbeiten des Thebanischen Hercules herabsehe. Denke ja nicht, Liebe, daß eine solche Selbstpeinigung nichts Verdienstliches habe, weil sie keinem Menschen in der Welt zu etwas nütze, und am Ende nichts als grillenhafter Eigensinn sey. Eben darin liegt das Verdienstliche, daß ich – bloß um mich selbst, auf künftige Fälle, die vielleicht nie kommen werden, in Bezwingung meiner Begierden zu üben – den stärksten Reizungen widerstehe, die vielleicht jemals einem Sterblichen zugesetzt haben. Bin ich tapfer genug in diesem Kampfe immer Sieger zu bleiben, welche Gefahr wird mir in meinem ganzen Leben furchtbar seyn? bei welchen Sirenenfelsen werd' ich nicht mit unverstopften Ohren vorbei segeln können? Wahrlich, Laiska, ich hätte jetzt schon Ursache mich für keinen kleinen Helden auszugeben, wenn ich nicht zu ehrlich wäre, dich und mich selbst belügen zu wollen. Aber ich kann und will dir nicht verhalten, daß es Stunden gibt, wo ich den Sieg nicht mir selbst zu verdanken habe; Stunden, wo meine mit jedem Augenblick abnehmende Kraft dem mächtigen Iynx, der mich zu dir zieht, nur noch matten Widerstand thut, kurz, wo ich im Begriff bin nach dem Hafen zu rennen, die erste beste Jacht zu miethen und mit vollen Segeln nach Korinth zurück zu eilen; – was vielleicht in einem dieser unglücklichen Augenblicke bereits geschehen wäre, wenn nicht die gerechte Furcht, daß du mich, wenn ich so unerwartet vor dir erschiene, als[261] einen Feigherzigen, der ohne Schild aus der Schlacht zurückkommt, auf der Stelle wieder zurückschicken würdest, mehr über mich vermöchte als der erhabene Beweggrund, mir selbst zu beweisen, daß ich – wollen kann was ich will. Denn darauf läuft doch am Ende die ganze Herrlichkeit hinaus.

Die neuesten Nachrichten, die ich aus Cyrene erhalte, sind nicht sehr geschickt, mir das Herbe meiner Tugendübungen zu versüßen. Ariston ist (wie leicht vorherzusehen war) wieder gestürzt; die öffentlichen Angelegenheiten, in welche unsre Familie, edle Anaximandra, ziemlich verwickelt ist, sind noch immer in Verwirrung, und was mir näher andringt als das alles, mein alter Vater, der gütigste und gefälligste Vater, den ich mir jemals wünschen konnte, scheint am Ziel seiner Tage zu seyn. Dieser Umstand nöthigt mich meinen Reiseplan zu ändern; anstatt die Städte der südlichen Küste von Italien zu besuchen, kehre ich morgen mit einem für Hadrumetum betrachteten Schiffe nach Libyen zurück. Sollte ich, wie ich fast besorgen muß, meinen Vater nicht mehr unter den Lebenden antreffen, so sehe ich nicht was mich in Cyrene aufhalten könnte. Denn meine eignen Angelegenheiten werden mit meinem Bruder, der ein eben so edelmüthiger als kluger Geschäftsmann ist, bald abgethan seyn, und von der Pflicht, mich in die öffentlichen zu mischen, dispensirt mich glücklicherweise meine Jugend. In diesem Falle würde ich vielleicht bald genug zurückkommen können, um dich noch zu Aegina anzutreffen. Indessen lebe wohl, meine Freundin, und erinnere dich meiner, so oft du den Grazien und deinem Genius, der auch der meinige ist, opferst.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Band 22, Leipzig 1839, S. 260-262.
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