42.
Aristipp an Learchus zu Korinth.

[262] Ein heftiger und anhaltender Sturm, der uns mehrere Tage im Hafen von Skandeia zurückhielt, hat mich um die beste Frucht meiner Reise gebracht. Ich bin zwar glücklich in Cyrene angelangt, aber den ehrwürdigen Aritades, den ich noch zu sehen hoffte – sah ich nicht mehr. Ich weiß, edler Learch, auch du wirst dem Andenken eines Freundes deines Hauses, den du vor dreißig Jahren bei deinem Vater gesehen zu haben dich vielleicht noch erinnerst, eine fromme Thräne schenken. Er war ein guter Mann im edelsten Sinne dieser Benennung. Hätte Cyrene unter zehntausend Bürgern nur hundert seines gleichen gehabt, so würden die armen Leute jetzt nicht so viel Noth und Mühe haben, all das Unheil wieder gut zu machen, das die Verkehrtheit einiger wenigen, und die Thorheit der Menge im Laufe des verfloss'nen Jahres über sie gebracht hat. Das große Interesse der öffentlich Angelegenheiten verschlingt in diesem Zeitpunkt jedes Privatgefühl. Vornehmlich beschäftigt die künftige Staatsverfassung alle Köpfe und Zungen; man hört in allen Gesellschaften und auf allen Versammlungsplätzen nichts anders; jedermann hat entweder einen Vorschlag zu thun, oder stellt Vermuthungen über die neue Republik an, die in kurzem aus der Werkstatt der Zehnmänner hervorgehen soll, und bekrittelt sie in voraus, falls sie so oder so ausgefallen seyn sollte. Daß ich ein bloßer Zuschauer bei allen diesen Bewegungen bin,[263] wird dich nicht befremden, da mich weder meine Erfahrenheit noch unsre Gesetze, die keinem Bürger vor seinem dreißigsten Jahre eine active Stimme gestatten, zu öffentlicher Theilnehmung an Geschäften dieser Art berufen, und vor unzeitiger Einmischung meine ganze Art zu denken mich bewahrt. Ich überlasse alles meinem Bruder Aristagoras und meinem Freunde Demokles (die das Vertrauen ihrer Mitbürger in einem vorzüglichen Grade besitzen) um so ruhiger, da sie durch gleiche Mäßigung und Klugheit, bei gleich redlichen Absichten, völlig dazu geeigenschaftet scheinen, uns, wo nicht die beste Verfassung, die sich denken läßt, wenigstens die beste, die unter den gegenwärtigen Umständen möglich ist, zu geben.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Band 22, Leipzig 1839, S. 262-264.
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