47.
Eurybates an Aristipp.

[279] Lais hat dich vorbereitet, Freund Aristipp; aber dir das Aergste zu melden, versagt ihr der Muth. Sokrates – ist nicht mehr!

Ein unglücklicher Augenblick, eine Art von Mißverständniß, unzeitiger Stolz von Seiten der Richter, und wenn ich's sagen darf – ein wenig Eigensinn auf Seiten des noch stolzer zu seyn freilich nur zu wohl berechtigten Sokrates, ist Schuld an einer Uebereilung, welche die Athener sich selbst nie verzeihen werden. Du weißt wie sie sind. Es ist nun einmal[279] von jeher Sitte bei uns gewesen, daß ein Beklagter, wär' er noch so unschuldig, mehr die Humanität seiner Richter als ihre Gerechtigkeit auf seine Seite zu bringen suchen muß. Man versichert mich heilig, das Gericht sey in keiner ihm ungünstigen Stimmung gewesen. Aber seine ihm zur andern Natur gewordene Ironie, eine Kaltblütigkeit, die ihm für Trotz ausgelegt wurde, die tumultuarische Art, wie es bei der ganzen Verhandlung zuging, und woran zum Theil die Hitze und der unbesonnene Eifer seiner jungen Freunde selbst Schuld war, das alles stimmte die Richter um; und so konnten sie es nicht ertragen, daß er, anstatt (wie gewöhnlich) um Milderung der Strafe anzusuchen, mit einer Miene – die man freilich, seitdem Athen steht, noch nie im Gesicht eines auf den Tod Angeklagten gesehen hat – sagte: die Strafe, die er verdient habe, sey ein lebenslänglicher Freitisch im Prytaneion.

Das Geschehene ist nun nicht mehr zu ändern. – Der Name Sokrates wird mit ewigem Ruhm auf die Nachwelt kommen; alle seine kleinen Menschlichkeiten werden vergessen seyn, und nur die Sage, daß er der weiseste aller Menschen gewesen, wird von einem Jahrhundert dem andern übergeben werden: uns Athener hingegen wird ewig die Schande drücken, einen solchen Mitbürger verkannt zu haben. Wohl dem, der nicht unter seinen Richtern saß!

Die dreißig Tage, die er nach seiner Verurtheilung im Gefängniß zubrachte, sollen die schönsten seines ganzen Lebens gewesen seyn. Weinend sprechen seine Freunde mit Entzücken davon. Er weigerte sich aus den edelsten Beweggründen, sich aus dem Gefängniß entführen und in Sicherheit bringen zu[280] lassen, wozu Kriton alles schon veranstaltet hatte. Wenige Stunden vor seinem Tode unterhielt er sich mit seinen Freunden über die Unsterblichkeit der Seele, und tröstete sich durch die Zuversicht, womit er ihnen von seiner Hoffnung in ein besseres Leben hinüber zu gehen, als von einer gewissen Sache, sprach. Der junge Plato will, wie ich höre, alle diese Gespräche – vermuthlich in seiner eignen Manier, wovon er bereits Proben gegeben hat, mit welchen Sokrates nicht sonderlich zufrieden seyn soll – aufschreiben und bekannt machen. Ich wünsche daß er so wenig von dem seinigen hinzuthun möge, als einem jungen Manne von seinem seltnen Genie nur immer zuzumuthen ist; aber er hat eine zu warme Einbildungskraft und zu viel Neigung zur dialektischen Spinneweberey, um den schlichten Sokrates unverschönert, und, wenn ich so sagen darf, in seiner ganzen Silenenhaftigkeit, darzustellen, die wir alle an ihm gekannt haben, und die mit seiner Weisheit so sonderbar zusammengewachsen war.

Der arme Kleombrot ist untröstbar. Schon vorher mußte ich alles anwenden was ich über ihn vermag, ihn abzuhalten, daß er nicht nach Athen zurückstürmte, um (wie er sagte) seinen geliebten Meister entweder zu retten, oder mit ihm zu sterben. Das erste stand nicht in seiner Macht; hingegen hätt' er sich leicht schlimme Händel zuziehen können, da unser Volk (wie dir bekannt ist) nicht leiden kann, daß Ausländer sich in unsre Sachen mischen. Nun kriecht er aus einem Winkel in den andern, und macht sich selbst Vorwürfe, daß er seinen Lehrer zu einer solchen Zeit verlassen habe; als ob jemand sich so etwas hätte träumen lassen können, da wir[281] nach Aegina gingen. Kurz, er ist in einem erbärmlichen Zustande. Die kleine Musarion, die ihn zerstreuen sollte, sitzt den ganzen Tag Hand in Hand neben ihm und hilft ihm weinen. Lais selbst ist noch zu sehr erschüttert als daß sie andere trösten könnte. Alle unsre Hoffnung, ihn wieder zurechtzubringen, beruht also auf dir, lieber Aristipp. Deine sämmtlichen Freunde in Aegina sehen dir mit Sehnsucht entgegen.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Band 22, Leipzig 1839, S. 279-282.
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