62.
Lais an Aristipp.

[357] Ich bin eine zu große Liebhaberin vom Leben, mein lieber Aristipp, als daß ich mich nicht sehr gern überreden lassen sollte, daß ich immer leben werde. Ich rechne es dem spitzfindigen Plato (der so viel dabei gewänne, wenn er es weniger wäre) zu keinem geringen Verdienst an, daß er dir durch seinen Phädon Anlaß gegeben, mich über diesen Punkt (der am Ende doch Alten und Jungen, Schönen und Häßlichen gleich angelegen seyn muß) mit mir selbst ins Reine zu bringen. Indessen mag es wohl ganz gut für uns seyn, daß alles Gewicht der Gründe, die uns den Tod in einem so fröhlichen Lichte zeigen, dennoch keine völlige Gewißheit hervorbringt; so daß ein Sokrates selbst nicht mehr dadurch gewinnt, als es zuletzt, mit einer gewissen zwischen Hoffnung und Gleichgültigkeit leise hin- und herschwebenden Ruhe, darauf ankommen zu lassen, was an der Sache seyn werde. Wären wir[357] völlig gewiß, daß uns der Tod zu einer so großen Verbesserung unsrer Existenz befördern werde, wie ihr andern Philosophen uns so sinnreich vorzuspiegeln wißt, wer wollte in den nackten Felsen von Seriphos165 grau werden, wenn er nur seinen Kahn vom Ufer abzuschneiden brauchte, um in das zauberische Land der Hesperiden166 oder in Platons überirdische Erde hinüber zu fahren? Denn was dieser seinen Sokrates über unsre vorgebliche Soldatenpflicht – »unsern Posten nicht eher zu verlassen bis wir abgelöst werden« – sagen läßt, überzeugt mich nicht; und ich sehe nicht ein, was meine Freiheit über mich selbst zu gebieten beschränken sollte, sobald meine dermalige Existenz nicht anders als unter unerträglichen Bedingungen verlängert werden kann.

Es ist sehr artig von dir, Lieber, daß du es in meine Wahl stellst, ob ich mit oder ohne Körper fortzuleben hoffen will. Als ich deinen Brief erhielt, saß ich eben einem großen Spiegel gegenüber, und (ich gestehe dir meine Thorheit) ich konnte mich nicht entschließen, bei meiner künftigen Reise in die Geisterwelt, nicht wenigstens die Gestalt, die mir entgegen sah, mitzunehmen, wenn ich auch allenfalls großmüthig genug seyn könnte, dem palpabeln167 Theil meines dermaligen Doppelwesens zu entsagen. Ob ich selbst ein zu materielles Wesen bin, oder woran es sonst liegen mag, genug ich kann mich mit der Vorstellung einer so ganz ausgezogenen splitternackten Seele nicht befreunden; ein wenig Draperie muß um mich herfließen; darauf habe ich, wie du weißt, nun einmal meinen Kopf gesetzt. Der subtile Leib, den du meiner Seele zugestehst, würde mir also seiner Leichtigkeit und Gewandtheit[358] wegen nicht übel behagen; aber die Unsichtbarkeit, die du ihm (ich weiß nicht warum) beizulegen beliebst, steht mir nicht an, und ich muß dich bitten, ihn mit so viel Lichtstoff zu durchweben, daß er wenigstens aus einem halbdurchsichtigen Rosenwölkchen gebildet zu seyn scheine, und von meinen guten Freunden in der andern Welt ohne Anstrengung ihrer Augen gesehen werden könne. Die sublime Gestalt, worin ich dir im Traume zu erscheinen pflege, gibt mir gute Hoffnung, daß es gerade dieselbe seyn könnte, in welcher ich mich ihnen zu zeigen wünsche. Indessen wittre ich doch einige Schwierigkeiten, und ich möchte wohl wissen, wie du es z.B. mit der Geschlechtsverschiedenheit zu halten gedenkst? Ich gebe zu, daß ich bei der Umgestaltung in einen Adonis oder Nireus von Seiten der Schönheit mehr gewänne als verlöre; aber man ist doch immer lieber was man ist, und wenn der ätherische Leib, den du den Leuten in der andern Welt allenfalls noch lassen willst, nichts, was vermuthlich keinen Gebrauch mehr in derselben haben wird, behalten soll, so muß eine Gestalt heraus kommen, gegen welche ich meine jetzige nicht vertauschen möchte. Wie viel fällt bloß deßwegen weg, weil wir (denke ich) nicht mehr essen und trinken, oder wenigstens, um uns von Nektar und Ambrosia zu nähren, keine so animalischen Verdauungs- und Absonderungswerkzeuge nöthig haben werden, wie dermalen? Und was wollten wir mit Armen und Beinen machen, da vermuthlich alle die Bedürfnisse und Verrichtungen, wozu sie in diesem Leben nöthig sind, dort aufhören werden? Kurz, ich sehe nicht, was von unsrer jetzigen Organisation übrig bleiben könnte, als der[359] Kopf, an welchen etwa noch ein paar Flügel gesetzt werden könnten, die ihm zugleich zur Bewegung und zur Einhüllung dienen würden. Wirklich gefällt mir diese Idee immer besser je mehr ich ihr nachdenke, und mir ist ich würde mich an eine so leichte geistige Existenz in Gesellschaft guter und schöner Köpfe sehr bald gewöhnen können. – »Aber ein bloßer Kopf, meint die kleine Musarion, wäre doch ihre Sache nicht; sie kann sich keine Glückseligkeit ohne Liebe denken, und eine Liebe, die bloß im Kopfe sitzt, scheint ihr etwas so Kaltes und Langweiliges, daß sie lieber ganz darauf Verzicht thun wollte.« – Du kannst leicht denken, Aristipp, daß ich mich der Köpfe mit gehörigem Eifer annahm, und behauptete: was ihnen allenfalls an Feuer und Innigkeit abginge, würde reichlich dadurch ersetzt, daß sie die Liebe desto feiner zu behandeln, ihr mehr Reiz der Mannigfaltigkeit zu geben, und sie dadurch viel besser zu unterhalten und vor langer Weile und Sättigung zu verwahren wüßten, als wenn sich die Hypochondrien168 mit ins Spiel mischten. Wir stritten uns lange darüber, und kamen zuletzt doch darin überein, daß unsre dermalige Art zu seyn vor der Hand wohl die beste seyn möchte. Dabei, lieber Aristipp, wollen wir's denn auch einstweilen bewenden lassen, und der guten Mutter Natur zutrauen, sie würde uns weder das Verlangen noch die Kraft ins Unendliche fort zu leben gegeben haben, wenn es nicht ihr Ernst wäre, daß mit der Zeit noch etwas Besser's aus uns werden sollte. Wie sie das anstellen will, ist ihre Sache; genug daß sie unser vollständigstes Zutrauen verdient, und (wie Plato weislich sagt) in allem andern so verständig zu Werke[360] geht, daß wir nicht zu besorgen haben, sie werde in diesem Punkte allein sich selbst ungleich seyn und nicht wissen, was sie mit uns anfangen wolle.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Band 22, Leipzig 1839, S. 357-361.
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