51.
Antipater an Aristipp.

[360] Nach einem vierjährigen Aufenthalt habe ich mich endlich nicht ohne ein seltsames Gemisch sehr ungleichartiger Gefühle[360] von der herrlichen Athenä, vermuthlich auf immer, losgerissen, um nun auch von den vorzüglichsten Städten der Pelopsinsel und Siciliens so viel Kundschaft durch mich selbst einzuziehen, als zu meinem dir bekannten Zweck nöthig ist, und als die mancherlei Verbindungen mir verschaffen können, zu welchen ich im Mittelpunkt der ganzen Hellas so viele Gelegenheit fand. Aber wo werde ich eine Stadt sehen, die jenem Lieblingssitze Minervens den Vorzug streitig machen könnte? Ich habe Bürger aus beinahe allen Griechischen Städten kennen gelernt, und keinen gefunden, der ihr die seinige ohne Schamröthe oder aus einem andern Grunde vorzuziehen vermocht hätte, als dem Zauber, der uns an den Ort fesselt, wo wir das goldne Alter des Menschenlebens zugebracht haben. Was muß Athen für den seyn, der das Glück hatte, in ihrem Schooß aufzublühen? Wie natürlich kommen mir alle jene weltgepriesenen Thaten vor, die jemals für eine solche Stadt von ihren Söhnen gethan wurden? – und wenn ich bedenke, was sie erst seyn könnte, wenn sie den Gesetzen und der Verfassung ihres eben so klugen als weisen Solons treu geblieben wäre! – Was sie jetzt noch werden könnte, wenn sie anstatt ihrer stürmischen Volksherrschaft sich eine wohlgeordnete Aristokratie gefallen lassen, und statt der gefährlichen Eitelkeit, auf ihre eigenen und der ganzen Hellas Kosten nach einer Obergewalt, die ihr nie gutwillig zugestanden wird, zu streben, sich an dem hohen Vorzug begnügen wollte, das zu seyn wozu ihr Name selbst sie bestimmt, der Hauptsitz aller Künste des Friedens und der Musen, das Muster der schönsten Ausbildung, die Besitzerin der weisesten[361] Gesetze, der mildesten Regierung, der menschlichsten Sitten, des feinsten Sinnes für alles Schöne und Große, der vollkommensten und zierlichsten Sprache, und der angenehmsten Art des Daseyns zu genießen, kurz, durch Vereinigung alles dessen, was des Menschen Leben veredelt und verschönert, die erste Stadt der Welt zu seyn: wer würde dann nicht das Glück in Athen zu leben allem andern vorziehen, und die Nothwendigkeit, sie zu verlassen, für das größte aller Uebel halten? – Platon und Isokrates haben wahrlich keine Schuld, wenn Athen nicht dieses Urbild einer vollkommenen und glücklichen Republik ist – Aber die Sterblichen scheinen weder aufgelegt noch geneigt zu seyn, den Idealen ihrer Weisen Wirklichkeit zu geben, und unter allen Erdebewohnern die Athener vielleicht am wenigsten. Indessen, wie sie sind, habe ich ihnen und ihrer Stadt viel zu danken; und dieses Gefühl war es auch, was alle übrigen verdrängte und verschlang, als ich von einer Anhöhe auf dem Wege nach Eleusis den letzten Blick auf den hellbesonnten Tempel der Athene Polias heftete.

Zu Korinth bin ich von deinem Freunde Learch auf die verbindlichste Art genöthiget worden, meine Wohnung in seinem gastfreundlichen Hause zu nehmen. Ich gedenke ungefähr einen Monat hier zu verweilen, und dann die übrigen Städte dieses schönen Hauptstückes von Griechenland, das an Merkwürdigkeiten aller Art so reich ist, der Reihe nach zu besuchen.

Die schöne Lais hat seit einiger Zeit ihre vormalige Lebensweise gänzlich abgeändert. Ihr Haus ist nur noch etlichen[362] ältern Freunden, und keinem Fremden, der nicht von einem derselben bei ihr eingeführt wird, offen. Sie erscheint gar nicht mehr öffentlich, gibt keine großen Gastmahle mehr, und zu den kleinen Symposien, woran sie einst so viel Belieben fand, werden selten mehr als zwei oder drei von ihren vertrautern Bekannten eingeladen. Learch scheint dermalen in vorzüglicher Gunst bei ihr zu stehen, und mit ihm und – meinem Freunde Diogenes habe ich schon einigemal den Abend bei ihr zugebracht. Man spricht viel zu Korinth von diesem so raschen und sonderbaren Sprung von der höchsten Pracht und Ueppigkeit einer Asiatischen Satrapin zu einer beinahe misanthropischen Eingezogenheit, und jedermann sucht sich das Wunder auf seine eigene Weise zu erklären. Die meisten halten es für eine traurige Folge des übermäßigen Aufwandes, den sie mehrere Jahre lang zu Korinth und Aegina gemacht: nach andern soll ein gewisser komischer Dichterling, Epikrates von Ambracien, Schuld daran seyn. Dieser, sagt man, hatte sich lange Zeit alle nur ersinnliche Mühe gegeben, sich in ihre Gunst einzuschmeicheln, und fiel ihr zuletzt mit seiner Zudringlichkeit so überlästig, daß sie sich, gegen ihre Gewohnheit, die Freiheit nahm, ihn mit Verachtung abzuweisen; was vermuthlich nicht geschehen wäre, wenn sie die mindeste Ahnung gehabt hätte, wie weit eine verboste poetische Wespe die Rache zu treiben fähig ist. Der wüthende Komiker rächte sich an ihr152 durch eine sogenannte Anti-Lais, die an Bosheit und Bitterkeit selbst die berüchtigten Jamben des Archilochus übertrifft, und wirklich in ihrer Art für ein Meisterstück gelten kann. Indessen hat Lais gleichwohl[363] alle Ursache, eben so gleichgültig bei diesem Schmähgedichte zu seyn, als es Sokrates bei den Aristophanischen Wolken war: denn das schändliche Zerrbild, das der beleidigte Witzling von ihr aufgestellt hat, sieht ihr nicht ähnlicher, als der After-Sokrates des Attischen Satyrs dem Sohne des Sophroniskus. Auch habe ich sie selbst darüber ganz unbefangen scherzen gehört, und in Korinth wenigstens ist niemand, der, wenn er gleich die Verse mit Vergnügen las, von dem Verfasser nicht mit der größten Verachtung spräche. Ich müßte mich sehr irren, oder die wahre Ursache der Veränderung, die den Korinthiern so seltsam vorkommt, liegt viel tiefer als sie sich einbilden. Lais ist noch nicht vierzig Jahre alt; ihre Schönheit ist von der dauerhaftesten Art, und was sie vom Glanz der ersten Jugendblüthe verloren haben kann, wird durch die Kunst des Putztisches so leicht ersetzt, daß ihr niemand, der sie zum erstenmale sieht, über fünfundzwanzig geben wird. Eben so leicht würde es ihr seyn, die Erschöpfung ihrer Casse zu ersetzen, wofern diese der Grund ihrer veränderten Lebensart wäre; denn es hinge noch bloß von ihr ab, so viele freigebige Anbeter zu haben als sie wollte. Ich kenne sie vielleicht noch nicht genug, daß ich mir anmaßen dürfte, sie errathen zu haben: aber alles was mir, seitdem ich sie zu Aegina täglich zu sehen Gelegenheit hatte, eine ziemlich ruhige Beobachtung von ihrem Innern verrathen hat, überzeugt mich, daß sie mit sich selbst unzufrieden ist, und wider Willen gewahr wird, sie habe die Glückseligkeit auf dem unrechten Wege gesucht, aber von dem einzigen, worauf die Natur selbst ihr Geschlecht leitet, sich schon zu[364] weit entfernt, als daß sie nur daran denken könnte, ihn noch einzuschlagen. Ich bin gewiß, eine innerliche Stimme, die sich weder durch Vernünftelei noch Zerstreuung beschwichtigen lassen will, nöthigt sie, das Loos Musarions und Kleonens beneidenswerth zu finden, wiewohl ihr Stolz ihr nie erlauben wird es zu gestehen. Aber daß es Augenblicke gibt, worin sie es sich selbst gestehen muß, und daß diese Augenblicke immer häufiger kommen, das ist es vermuthlich, was sie mit sich selbst in Zwietracht setzt, und ihr zu einer Quelle peinlicher Empfindungen wird, welche sie wechselsweise bald unter einer reizend muthwilligen, bald witzelnden, bald philosophirenden Laune zu verbergen sucht, aber durch die Anstrengung, die es sie zuweilen kostet, nur zu sichtbar macht. Uebrigens scheint mir auch ohnedieß nichts natürlicher, als daß sie ihrer bisherigen Lebensart endlich überdrüssig werden mußte. Hat sie nicht von allem, was man auf dem Wege, den sie einschlug, genießen kann, das Höchste bis zur Uebersättigung genossen? Was bleibt ihr übrig? Die Anbetung der Männer und der Haß der Weiber kann ihr kein Vergnügen mehr machen. Die Täuschungen, wodurch die Eitelkeit, Unschuld, oder Schwäche eines schönen Weibes sich selbst über das, was die Männer Liebe nennen, verblenden kann, hat vermuthlich bei ihr nie stattgefunden; und das Spiel, das sie so lange mit ihnen getrieben hat, macht ihr so wenig Kurzweile mehr, als die ewigen Feste und lärmenden Lustbarkeiten, wo die Freude eben darum immer auszubleiben pflegt, weil sie so laut und gebieterisch herbeigerufen wird. Ihr prächtiges Haus, ihr zauberischer Landsitz zu Aegina, die[365] Juwelen und Kostbarkeiten aller Art, womit Arasambes sie überhäufte, ihre Gemälde und Statuen, die Umgebung von einer ganzen Schaar auserlesener talentvoller Mädchen, die sich in die Wette beeifern ihr Vergnügen zu machen, das alles besitzt sie schon zu lange, als daß es noch einigen Reiz für sie haben könnte. Die arme Frau hat alles, das Einzige ausgenommen was sie glücklich hätte machen können; und dieß Einzige ist nicht mehr in ihrer Gewalt, und ist es vielleicht nie gewesen!

Bei allem dem, solltest du wohl glauben daß sie mir in diesem Zustand von Verstimmung, oder vielmehr in dieser Abstimmung aller Saiten der Laute, die einst so bezaubernde Harmonien von sich gab, in einem gewissen Sinne gefährlicher ist, als vor drei Jahren, da sie noch Vergnügen daran fand, auf ihrem prunkenden Siegeswagen über die Köpfe und Herzen aller Männer wegzurasseln? Ich kann es mir selbst nicht erklären; aber ich halt' es für unmöglich, daß sie in der ersten Blume der Jugend so liebreizend gewesen seyn könne als jetzt; und (aufrichtig zu reden) wofern sie etwa in den nächsten zwanzig Tagen, die ich hier noch zuzubringen habe, in die Laune käme meine Weisheit wieder auf die Probe zu stellen – ich weiß nicht – aber wenigstens hab' ich mich selbst schon mehr als einmal über dem heimlichen Vorsatz ertappt, ihr das Vergnügen des Sieges nicht sehr theuer zu verkaufen.

Learch trägt mir auf, ihn in deinem Andenken zu erhalten, und gedenkt es selbst zu thun, sobald er dir etwas Interessantes zu schreiben haben werde. Die große Kunde, die[366] er von der innern Verfassung der Griechischen Staaten, von ihrer ältern und neuern Geschichte, ihrer Stärke und Schwäche, und dem verschiedenen Interesse, worauf ihre dermaligen Verbindungen und Mißhelligkeiten beruhen, besonders die genaue Kenntniß, die er von seiner eigenen Vaterstadt besitzt, macht den Aufenthalt bei ihm um so lehrreicher für mich, da er ein Vergnügen daran findet, mir so viel davon mitzutheilen als ich zu meinem Zwecke nöthig habe. Er lebt, wie du weißt, seiner Abstammung, seiner persönlichen Vorzüge, und seines Reichthums wegen, zu Korinth in großem Ansehen; aber er liebt die Ruhe, die Künste und den angenehmen Lebensgenuß, wozu ihn sein großes Vermögen berechtigt, zu sehr, um eine bedeutende Rolle unter den Griechen spielen zu wollen; zumal in dem gegenwärtigen Zeitpunkt, wo man zu Erhaltung des zweideutigen Friedens, womit der Spartaner Antalcidas die alte Zwietracht der Söhne Deukalions einzuschläfern gesucht hat, durch die möglichste politische Unthätigkeit noch am meisten beitragen kann.

Learch besitzt die reichste und auserlesenste Sammlung von Gemälden, die ich noch gesehen habe. Er hat, beinahe von den Windeln der Kunst an, von jedem Meister wenigstens Ein Stück aufzuweisen; und von Parrhasius, Zeuxis, Pauson und Euxenidas mehr als man (wie ich von vielgewanderten Personen gehört habe) bei irgend einem Privatmann antrifft. Er ist sehr stolz auf die beiden trefflichen Stücke von unserm Kleonidas; diese und ein Urtheil des Paris von Timanth, und die berühmte kleine Leda des Parrhasius (die er durch einen glücklichen Zufall in seine Gewalt bekommen[367] hat), sind die einzigen, die in einem zierlich gearbeiteten Schranke verwahrt stehen, und den Liebhabern erst, wenn sie sich an allem Uebrigen satt gesehen haben, aufgeschlossen werden.

Wenn es nicht gar zu unartig wäre, auf einen Mann, der mir unverdienter Weise so viel Gutes erzeigt, neidisch zu seyn, so hätte ich vermuthlich Ursache genug dazu; denn es ist mehr als wahrscheinlich, daß mein edler Wirth bei der schönen Lais dermalen den Platz einnimmt, den er durch die geduldigste Beharrlichkeit mehr als zu wohl verdient hat. Er bringt beinahe alle Abende bei ihr zu, und man kann das Glück, die dritte oder vierte Person an ihrer kleinen Tafel zu seyn, nur durch ihn erlangen. Ich werde also wohl meine Weisheit unversucht von Korinth nach Argos tragen müssen.

Learch hat sich erboten, deine Briefe an mich zu befördern, wenn du Zeit und Neigung haben solltest, mir zu schreiben. Ich grüße Kleonen, Musarion und Kleonidas und bitte sie, meiner eingedenk zu bleiben.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Band 23, Leipzig 1839, S. 360-368.
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