Erstes Kapitel
Die Abderiten machen sich fertig,
in die Komödie zu gehen

[242] Es war bei den Ratsherren von Abdera eine alte hergebrachte Gewohnheit und Sitte, die bei dem Rat verhandelten Materien unmittelbar darauf bei Tische (es sei nun daß sie Gesellschaft hatten, oder mit ihrer Familie allein speiseten) zu recapitulieren und zu einer reichen Quelle entweder von witzigen Einfällen und spaßhaften Anmerkungen, oder von patriotischen Stoßseufzern, Klagen, Wünschen, Träumen, Aussichten u.d.gl. zu machen; zumal wenn etwa in dem abgefaßten Ratsschluß die Verschwiegenheit ausdrücklich empfohlen worden war. Aber diesesmal wiewohl das Abenteuer der Abderiten mit dem Fürsten der Ärzte sonderbar genug war, um einen Platz in den Jahrbüchern ihrer Republik zu verdienen – wurde an allen Tafeln, wo ein Ratsherr oder Zunftmeister obenan saß, des Hippokrates und Demokritus eben so wenig gedacht, als ob gar keine Männer dieses Namens in der Welt gewesen wären. In diesem Stücke hatten die Abderiten einen ganz besondern Public-Spirit, und ein feineres Gefühl, als man ihnen in Betracht ihres gewöhnlichen Eigendünkels hätte zutrauen sollen. In der Tat konnte ihre Geschichte mit dem Hippokrates, man hätte sie wenden und colorieren mögen wie man gewollt hätte, auf keine Art, die ihnen Ehre machte, erzählt werden. Das Sicherste war also, die Sache auf sich beruhen zu lassen, und zu schweigen.


Die heutige Komödie machte also diesmal, wie gewöhnlich, den Hauptgegenstand der Unterhaltung aus. Denn seitdem sich die Abderiten, nach dem Beispiel ihres großen Musters, der Athenienser, mit einem eignen Theater versehen hatten, wurde[242] in Gesellschaften, so bald die übrigen Gemeinplätze – Wetter, Putz, Stadtneuigkeiten und Scandala – erschöpft waren, unfehlbar entweder von der Komödie, die gestern gespielt worden, oder von der Komödie, die heute gespielt werden sollte, gesprochen – und die Herren von Abdera wußten sich, besonders gegen Fremde, nicht wenig damit, daß sie ihren Mitbürgern und Mitbürgerinnen eine so schöne Gelegenheit zu Verfeinerung ihres Witzes und Geschmacks, einen so unerschöpflichen Stoff zu unschuldigen Gesprächen in Gesellschaften, und besonders dem schönen Geschlecht ein so herrliches Mittel gegen die Leib und Seele verderbliche Langeweile verschafft hätten.

Wir sagen es nicht um zu tadeln, sondern zum verdienten Lob der Abderiten, daß sie ihr Komödienwesen für wichtig genug hielten, die Aufsicht darüber einem besondern Ratsausschuß zu übergeben, dessen Vorsitzer immer der zeitige Nomophylax, folglich einer der obersten Väter des Vaterlandes, war. Dies war unstreitig sehr löblich. Alles, was man mit Recht an dieser Einrichtung aussetzen konnte, war, daß es darum nicht um ein Haar besser mit ihrem Komödienwesen stund. Gleichwohl war dies nicht mehr, als wessen man sich zu Abdera versehen haben wird. Weil nun die Wahl der Stücke von dieser Ratsdeputation abhing, und die Erfindung der Komödienzettel unter die ansehnliche Menge von Erfindungen gehört, die den Vorzug der Neuern vor den Alten außer allen fernern Widerspruch setzen: so wußte das Publicum – ausgenommen wenn ein neues abderitisches Originalstück aufs Theater gebracht wurde – selten vorher, was gespielt werden würde. Denn wiewohl die Herren von der Deputation eben kein Geheimnis aus der Sache machten: so mußte sie doch, ehe sie publik wurde, durch so manchen schiefen Mund, und durch so viele dicke Ohren gehen, daß fast immer ein Quid pro quo herauskam, und die Zuhörer, wenn sie zum Exempel die Antigone des Sophokles erwarteten, die Erigone des Physignathus für lieb und gut nehmen mußten – woran sie es dann auch selten oder nie ermangeln ließen.

Was werden sie uns heute für ein Stück geben, war also itzt die allgemeine Frage in Abdera – eine Frage, die an sich selbst die unschuldigste Frage von der Welt war, aber durch einen einzigen kleinen Umstand erzabderitisch wurde; nämlich, daß die Antwort[243] schlechterdings von keinem praktischen Nutzen sein konnte. Denn die Leute gingen in die Komödie, es mochte ein altes oder neues, gutes oder schlechtes Stück gespielt werden.

Eigentlich zu reden gab es für die Abderiten gar keine schlechte Stücke; denn sie nahmen alles für gut; und eine natürliche Folge dieser unbegrenzten Gutmütigkeit war, daß es für sie auch keine gute Stücke gab. Schlecht oder gut, was sie amüsierte, war ihnen recht, und alles was wie ein Schauspiel aussah, amüsierte sie. Jedes Stück also, so elend es war, und so elend es gespielt worden sein mochte, endigte sich mit einem Geklatsch, das gar nicht aufhören wollte. Alsdann ertönte auf einmal durchs ganze Parterre ein allgemeines »Wie hat Ihnen das heutige Stück gefallen?« und wurde stracks durch ein eben so allgemeines »Sehr wohl« beantwortet.

So geneigt auch unsre werten Leser sein mögen, sich nicht leicht über etwas zu verwundern, was wir ihnen von den Idiotismen unsers thracischen Athens erzählen können: so ist doch dieser eben erwähnte Zug etwas so ganz besonderes, daß wir besorgen müssen, keinen Glauben zu finden, wofern wir ihnen nicht begreiflich machen, wie es zugegangen, daß die Abderiten mit einer so großen Neigung zu Schauspielen es gleichwohl zu einer so hohen unbeschränkten dramatischen Apathie oder vielmehr Hidypathie bringen konnten, daß ihnen ein elendes Stück nicht nur kein Leiden verursachte, sondern sogar eben – (oder doch beinahe eben) so wohl tat als ein gutes. Man wird uns, wenn wir das Rätsel auflösen sollen, eine kleine Ausschweifung über das ganze abderitische Theaterwesen erlauben müssen. Wir sehen uns aber genötiget, uns von dem günstigen und billig denkenden Leser vorher eine kleine Gnade auszubitten, an deren großmütiger Gewährung ihm selbst am Ende noch mehr gelegen ist als uns. Und dies ist, sich – aller widrigen Eingebungen seines Kakodämons ungeachtet – ja nicht einzubilden, als ob hier, unter verdeckten Namen, die Rede von den Theaterdichtern, den Schauspielern, und dem Parterre seiner lieben Vaterstadt die Rede sei. Wir leugnen zwar nicht, daß die ganze Abderitengeschichte in gewissen Betracht einen doppelten Sinn habe; aber ohne den Schlüssel zu Aufschließung des geheimen Sinnes, den unsere Leser von uns selbst erhalten sollen, würden sie Gefahr laufen,[244] alle Augenblicke falsche Deutungen zu machen. Bis dahin also ersuchen wir Sie


Per genium, dextramque, Deosque Penates,


sich aller unnachbarlichen und unfreundlichen Anwendungen zu enthalten, und alles was folgt, so wie dies ganze Buch, in keiner andern Gemütsverfassung zu lesen, als womit sie irgend eine andre alte oder neue unparteiische Geschichtserzählung lesen würden.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Werke. Band 2, München 1964 ff., S. 242-245.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Geschichte der Abderiten
C. M. Wielands sämtliche Werke: Band XX. Geschichte der Abderiten, Teil 2
C. M. Wielands sämtliche Werke: Band XIX. Geschichte der Abderiten, Teil 1
Geschichte Der Abderiten (1-2)
Geschichte Der Abderiten
Geschichte Der Abderiten (2)