Funfzehntes Kapitel
Bewegungen, welche die Rede des Polyphonus verursachte
Nachtrag des Sykophanten Physignathus
Verlegenheit der Richter

[380] Diese kurze und unerwartete Rede brachte auf einige Augenblicke ein tiefes Stillschweigen hervor. Der Sykophant Physignathus schien zwar große Lust zu haben, sich über die Stelle, die ihn persönlich betroffen hatte, mit Hitze vernehmen zu lassen. Allein, da er die Niedergeschlagenheit bemerkte, die der Inhalt der letzten Periode seines Gegners unter dem gemeinen Volke hervorgebracht zu haben schien: so begnügte er sich, gegen die ehrenrührige Stelle vom Ohrenabschneiden und andre Anzüglichkeiten sich quaevis competentia vorzubehalten, zuckte die Achseln, und schwieg.

Das Licht, in welches der Sykophant Polyphonus den wahren[380] Statum controversiae gestellt hatte, tat einen so guten Effect, daß unter den sämtlichen Vierhundertmännern kaum ihrer zwanzig überblieben, die, nach abderitischer Gewohnheit, nicht versicherten, daß sie die Sache gleich vom Anfang an eben so angesehen; und es wurde in ziemlich lebhaften Ausdrücken gegen diejenigen gesprochen, welche Schuld daran hätten, daß eine so simple Sache zu solchen Weitläuftigkeiten getrieben worden sei. Die Meisten schienen darauf anzutragen: daß dem Erzpriester nicht nur die für seinen Angehörigen verlangte Entschädigung und Genugtuung zugesprochen, sondern auch eine Commission aus dem großen Rat niedergesetzt werden sollte, um nach der Schärfe zu untersuchen: wer die ersten Anstifter und Verhetzer dieses Handels eigentlich gewesen seien.

Dieser Antrag brachte den Zunftmeister und diejenigen, die ihre Partei mit ihm gegen allen Erfolg zum voraus genommen hatten, auf einmal wieder in Harnisch. Der Sykophant Physignathus, der dadurch wieder Mut bekam, verlangte von dem Nomophylax noch einmal zum Gehör gelassen zu werden, weil er auf die Rede seines Gegenteils etwas neues vorzubringen habe; und da ihm dieses, den Rechten nach, nicht versagt werden konnte, so ließ er sich folgendermaßen vernehmen:

»Wenn das gerechte Vertrauen zu einem so ehrwürdigen Gericht, wie das gegenwärtige, den verhaßten Namen einer bestechenden Schmeichelei, womit mein Gegenteil solches zu belegen sich nicht gescheut hat, verdient – so muß ich mich darein ergeben, einen Vorwurf auf mir sitzen zu lassen, den ich nicht vermeiden kann; und ich glaube allenfalls durch eine allzuhohe Meinung von Euch, Großmögende Herren, weniger zu sündigen, als mein Gegner durch die Einbildung, Eure Gerechtigkeit und Einsicht in einer so groben Schlinge zu fangen, als diejenige ist, die er Euch gelegt hat. Der Schein von gesunder Vernunft womit er seine plumpe Vorstellungsart der Sache überstrichen und ein Ton, den er seinem Clienten abgeborgt zu haben scheint, können höchstens eine augenblickliche Überraschung wirken; aber daß sie die Weisheit des obersten Rats von Abdera ganz umzuwerfen vermögend wären, wäre an mir Lästerung zu fürchten, und war Unsinn an ihm, zu hoffen.[381] Wie? Polyphonus, anstatt die gerechte Sache seines Clienten zu behaupten, wie er vor dem ehrwürdigen Stadtgerichte und bisher immer hartnäckig getan hat, gesteht nun auf einmal selbst ein, daß der Eseltreiber unrecht und unsinnig daran getan habe, seine gegen den Zahnarzt Struthion erhobne Klage auf sein vermeintes Eigentumsrecht an den Eselsschatten zu gründen er bekennt öffentlich, daß der Kläger eine unbefugte, ungegründete, frivole Klage erhoben habe: und er untersteht sich von Recht an Schadloshaltung zu schwatzen, und in dem trotzigen Tone eines Eseltreibers Genugtuung zu fordern? Was für eine neue unerhörte Art von Rechtsgelehrsamkeit, wenn der unrechthabende Teil damit durchkäme, daß er am Ende, wenn er sich nicht mehr anders zu helfen wüßte, selbst gestünde, er habe Unrecht, und mit fünfundzwanzig Prügel, die er sich dafür geben ließe (und die ein Kerl, wie Anthrax, schon auf seinen Buckel nehmen kann), sich noch ein Recht an Entschädigung und Satisfaction erwerben könnte? Gesetzt auch, des Eseltreibers Fehler bestünde bloß darin, daß er nicht die rechte Action instituiert: was geht das den unschuldigen Gegenteil oder den Richter an? Jener muß sich mit seiner Verantwortung nach der Klage richten; und dieser urteilt über die Sache, nicht wie sie vielleicht in einem andern Licht und unter einem andern Gesichtspunct erscheinen könnte, sondern wie sie ihm vorgetragen worden. Ich verspreche mir also im Namen meines Clienten, daß, der gegenteilischen Luftstreiche ungeachtet, die vorliegende Sache nicht nach dem neuen und allen bisherigen Verhandlungen zuwiderlaufenden Schwunge, den ihr Polyphonus zu geben gesucht, sondern nach Beschaffenheit der Klage und des Beweises abgeurteilt werde. Die Rede ist in gegenwärtigem Rechtsstreit nicht von Zeitverlust und Deterioration des Esels, sondern von des Esels Schatten. Kläger behauptete, daß sein Eigentumsrecht an den Esel sich auch auf dessen Schatten erstrecke, und hat es nicht bewiesen. Beklagter behauptete, daß er so viel Recht an des Esels Schatten habe, als der Eigentümer, oder was allenfalls daran abgehen könnte, hab' er durch den Mietcontract erworben; und was er behauptete, hat er bewiesen.

Ich stehe also hier, Großmögende Herren, und verlange einen richterlichen Spruch über das, was bisher den Gegenstand des[382] Streits ausgemacht hat. Um dessentwillen allein ist gegenwärtiges höchstes Gericht niedergesetzt worden! Dies allein macht itzt die Sache aus, worüber es zu erkennen hat! Und ich unterstehe michs, vor diesem ganzen mich hörenden Volke zu sagen: entweder ist kein Recht in Abdera mehr, oder meine Forderung ist gesetzmäßig, und die Rechte eines jeden Bürgers sind darunter befangen, daß meinem Clienten das seinige zugesprochen werde!«

Der Sykophant schwieg, die Richter stutzten, das Volk fing von neuem an zu murmeln und unruhig zu werden, und die Schatten reckten ihre Köpfe wieder empor.

Nun, sagte der Nomophylax, indem er sich an Polyphonus wandte, was hat der klägerische Anwalt hierauf beizubringen?

»Hochgeachter Herr Oberrichter, erwiderte Polyphonus, Nichts – als Alles von Wort zu Wort, was ich schon gesagt habe. Der Proceß über des Esels Schatten ist ein so böser Handel, daß er nicht bald genug ausgemacht werden kann. Der Kläger hat dabei gefehlt, der Beklagte hat gefehlt, die Anwälte haben gefehlt, der Richter der ersten Instanz hat gefehlt, ganz Abdera hat gefehlt! Man sollte denken, ein böser Wind habe uns alle angeblasen, und es sei nicht so ganz richtig mit uns gewesen, als wohl zu wünschen wäre. Käm' es schlechterdings darauf an, uns noch länger zu prostituieren: so sollte mirs wohl auch nicht an Atem fehlen, für das Recht meines Clienten an seines Esels Schatten eine Rede zu halten, die von Sonnenaufgang bis zu Sonnenuntergang dauren sollte. Aber, wie gesagt, wenn die Komödie, die wir gespielt haben, so lange sie bloß Komödie blieb, noch zu entschuldigen ist: so wär' es doch, dünkt mich, auf keine Weise recht, sie vor einem so ehrwürdigen Gerichte, wie der hohe Rat von Abdera, länger fortzuspielen. Wenigstens habe ich keine Instruction dazu, und überlasse Euch also, Großmögende Herren, unter nochmaliger Wiederholung alles dessen, was ich im Namen des erlauchten und sehr ehrwürdigen Erzpriesters zu Recht gefordert habe, den Handel nun abzuurteln und auszumachen wie es Euch die Götter eingeben werden.«

Die Richter befanden sich in großer Verlegenheit; und es ist schwer zu sagen, was für ein Mittel sie endlich ergriffen haben würden, um mit Ehren aus der Sache zu kommen, wenn der Zufall,[383] der zu allen Zeiten der große Schutzgott aller Abderiten gewesen ist, sich ihrer nicht angenommen, und diesem feinen bürgerlichen Drama eine Entwicklung gegeben hätte, deren sich einen Augenblick vorher kein Mensch versah, noch versehen konnte.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Werke. Band 2, München 1964 ff., S. 380-384.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Geschichte der Abderiten
C. M. Wielands sämtliche Werke: Band XX. Geschichte der Abderiten, Teil 2
C. M. Wielands sämtliche Werke: Band XIX. Geschichte der Abderiten, Teil 1
Geschichte Der Abderiten (1-2)
Geschichte Der Abderiten
Geschichte Der Abderiten (2)

Buchempfehlung

Hume, David

Dialoge über die natürliche Religion

Dialoge über die natürliche Religion

Demea, ein orthodox Gläubiger, der Skeptiker Philo und der Deist Cleanthes diskutieren den physiko-teleologischen Gottesbeweis, also die Frage, ob aus der Existenz von Ordnung und Zweck in der Welt auf einen intelligenten Schöpfer oder Baumeister zu schließen ist.

88 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon