Vierzehntes Kapitel
Antwort des Sykophanten Polyphonus

[376] Sobald Physignathus zu reden aufgehört hatte, gab das Volk, oder vielmehr der Pöbel, der den Markt erfüllte, seine Beistimmung mit einem lauten Geschrei, welches so heftig und anhaltend war, daß die Richter endlich zu besorgen anfingen, die ganze Handlung möchte dadurch unterbrochen werden. Die Partei des Erzpriesters geriet in Verlegenheit. Die Schatten hingegen, wiewohl sie im großen Rat die kleinere Zahl ausmachten,[376] faßten neuen Mut, und versprachen sich von dem Eindruck, den dieses Vorspiel auf die Esel machen müßte, einen günstigen Erfolg. Indessen ermangelten die Zunftmeister nicht, das Volk durch Zeichen zur Ruhe zu vermahnen; und nachdem der Herold endlich durch einen dreimaligen Ruf die allgemeine Stille wieder hergestellt hatte, trat Polyphonus, der Sykophant des Eseltreibers, ein untersetzter stämmichter Mann, mit kurzem krausem Haar und dicken pechschwarzen Augenbraunen, auf, erhob eine Baßstimme, die auf dem ganzen Markt widerhallte, und ließ sich folgendermaßen vernehmen:


»Großmögende Vierhundertmänner!


Wahrheit und Licht haben das vor allen andern Dingen in der Welt voraus, daß sie keiner fremden Hülfe bedürfen, um gesehen zu werden. Ich überlasse meinem Gegenpart willig alle Vorteile, die er von seinen Rednerkünsten zu ziehen vermeint hat. Dem, der Unrecht hat, kommt es zu, durch Figuren und Wendungen, und Fechterstreiche, und das ganze Gaukelspiel der Schulrhetorik Kindern und Narren einen Dunst vor die Augen zu machen. Gescheute Leute lassen sich nicht dadurch blenden. Ich will nicht untersuchen, wie viel Ehre und Nachruhm die Republik Abdera bei diesem Handel über einen Eselsschatten gewinnen wird. Ich will die Richter weder durch grobe Schmeicheleien zu bestechen, noch durch versteckte Drohungen zu schrecken suchen. Noch viel weniger will ich dem Volk durch aufwiegelnde Reden das Signal zu Lärmen und Aufruhr geben. Ich weiß, warum ich da bin, und zu wem ich rede. Kurz, ich werde mich begnügen zu beweisen, daß der Eseltreiber Anthrax Recht hat. Der Richter wird alsdann schon wissen, was seines Amtes ist, ohne daß ich ihn daran zu erinnern brauche.«

Hier fingen einige wenige vom Pöbel, die zunächst an den Stufen der Terrasse standen, an, den Redner mit Geschrei, Schimpfreden und Drohungen zu unterbrechen. Da aber der Nomophylax von seinem elfenbeinernen Thron aufstund, der Herold abermals Stille gebot, und die Bürgerwache, die an den Stufen stund, ihre langen Spieße lupfte: so ward plötzlich alles wieder stille, und der Redner, der sich nicht so leicht aus der Fassung bringen ließ, fuhr also fort:

»Großmögende Herren, ich stehe hier nicht als Sachwalter des[377] Eseltreibers Anthrax, sondern als Bevollmächtigter des Jasontempels, und von wegen des Erlauchten und sehr Ehrwürdigen Agathyrsus, zeitigen Erzpriesters und Obervorstehers desselben, Hüters des wahren goldnen Vließes, obersten Gerichtsherrn über alle dessen Stiftungen, Güter, Gerichte und Gebiete, Oberhaupts des hochedeln Geschlechts der Jasoniden etc. um im Namen Jasons und seines Tempels von euch zu begehren, daß dem Eseltreiber Anthrax Genugtuung geschehe, weil er im Grunde doch am meisten Recht hat; und daß ers habe, hoffe ich, trotz allen den Kniffen, die mein Gegner von seinem Meister Gorgias gelernt zu haben rühmt, so klar und laut zu beweisen, daß es die Blinden sehen, und die Tauben hören sollen. Also, ohne weitere Vorrede, zur Sache!

Anthrax vermietete dem Zahnarzt Struthion seinen Esel auf einen Tag; nicht zu selbst beliebigem Gebrauch, sondern um ihn, den Zahnarzt, mit seinem Mantelsack, halbenweges nach Gerania zu tragen, welches, wie jedermann weiß, acht starke Meilen von hier entfernt liegt.

Bei der Vermietung des Esels dachte natürlicherweise keiner von beiden an seinen Schatten. Aber als der Zahnarzt mitten auf dem Felde abstieg, den Esel, der wahrlich von der Hitze noch mehr gelitten hatte als er, in der Sonne halten ließ, und sich in dessen Schatten setzte, war es ganz natürlich, daß der Herr und Eigentümer des Esels dabei nicht gleichgültig blieb.

Ich begehre nicht zu leugnen, daß Anthrax eine alberne und eselhafte Wendung nahm, da er von dem Zahnbrecher verlangte, daß er ihm für des Esels Schatten deswegen bezahlen sollte, weil er ihm den Schatten nicht mit vermietet habe. Aber dafür ist er auch nur ein Eseltreiber von Vorältern her, d.i. ein Mann, der eben darum, weil er unter lauter Eseln aufgekommen ist, und mehr mit Eseln als ehrlichen Leuten lebt, eine Art von Recht hergebracht und erworben hat, selbst nicht viel besser als ein Esel zu sein. Im Grunde war's also bloß – der Spaß eines Eseltreibers.

Aber in welche Classe von Tieren sollen wir den setzen, der aus einem solchen Spaß Ernst machte? Hätte der Herr Struthion wie ein verständiger Mann gehandelt, so brauchte er dem Grobian nur zu sagen: ›Guter Freund, wir wollen uns nicht um eines[378] Eselsschattens willen entzweien. Weil ich dir den Esel nicht abgemietet habe, um mich in seinen Schatten zu setzen, sondern um darauf nach Gerania zu reiten: so ist es billig, daß ich dir die etlichen Minuten Zeitverlust vergüte, die dir mein Absteigen verursacht; zumal da der Esel um so viel länger in der Hitze stehen muß, und dadurch nicht besser wird. Da, Bruder, hast du eine halbe Drachme; laß mich einen Augenblick hier verschnaufen, und dann wollen wir uns, in aller Frösche Namen, wieder auf den Weg machen.‹

Hätte der Zahnarzt aus diesem Tone gesprochen, so hätt' er gesprochen wie ein ehrliebender und billiger Mann. Der Eseltreiber hätte ihm für die halbe Drachme noch Vergelts Gott! gesagt; und die Stadt Abdera wäre des ungewissen Nachruhms, den ihr mein Gegenteil von diesem Eselsproceß verspricht – und aller der Unruhen, die daraus entstehen mußten, sobald sich so viele große und angesehene Herren und Damen in die Sache mischten – überhoben gewesen. Statt dessen setzt sich der Mann auf seinen eignen Esel, besteht auf seinem bodenlosen Recht, sich vermöge seines Mietcontracts in des Esels Schatten zu setzen, so oft und so lange er wolle, und bringt dadurch den Eseltreiber in die Hitze, daß er vor den Stadtrichter läuft, und eine Klage anbringt, die eben so abgeschmackt und unsinnig ist, als die Verantwortung des Beklagten.

Ob es nun nicht, zu Statuierung eines lehrreichen Beispiels, wohl getan wäre, wenn dem Sykophanten Physignathus, meinem wertesten Collegen – als dessen Aufhetzung es ganz allein zuzuschreiben ist, daß der Zahnbrecher den von dem ehrwürdigen Stadtrichter Philippides vorgeschlagnen billigen Vergleich nicht eingegangen – für den Dienst, den er dem abderitischen gemeinen Wesen dadurch geleistet, die Ohren gestutzt, und allenfalls, zum ewigen Andenken, ein paar Eselsohren dafür angesetzt würden; imgleichen, was für einen öffentlichen Dank der ehrwürdige Zunftmeister Pfriem, und die übrigen Herren, die durch ihren patriotischen Eifer Öl ins Feuer gegossen, für ihre Mühe verdient haben möchten: überläßt der erlauchte Erzpriester, mein Principal, dem eignen einsichtsvollen Ermessen des höchsten Gerichts der Vierhundert. Er, seines Ortes, wird, als angeborner Oberherr und Richter des Eseltreibers Anthrax,[379] nicht ermangeln, ihm, zu wohlverdienter Belohnung seines in diesem Handel bewiesenen Unverstands, unmittelbar nach geendigtem Proceß, fünf und zwanzig Prügel geben zu lassen. Da aber darum das Recht des mehrbesagten Eseltreibers, wegen der von dem Zahnarzt Struthion erlittnen Ungebühr, wegen des Mißbrauchs, den dieser von seinem Esel gemacht, und wegen der Weigerung einer billigen Vergütung des dadurch verursachten Zeitverlusts und Deterioration seines lastbaren Tieres, Genugtuung zu fordern, nichts destoweniger in seiner ganzen Kraft besteht: so begehret und erwartet der erlauchte Erzpriester von der Gerechtigkeit dieses hohen Gerichts, daß seinem Untertanen, ohne längern Aufschub, die gebührende vollständigste Entschädigung und Genugtuung verschafft werde.

Euch aber (setzte er hinzu, indem er sich umdrehte und gegen das Volk kehrte) soll ich im Namen Jasons ankündigen, daß alle diejenigen, die auf eine ungebührliche und aufrührische Art an der bösen Sache des Zahnbrechers Anteil genommen, so lange, bis sie dafür gebührenden Abtrag getan haben werden, von den Wohltaten, die der Tempel Jasons alle Monate den armen Bürgern zufließen läßt, ausgeschlossen sein und bleiben sollen. Dixi.«

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Werke. Band 2, München 1964 ff., S. 376-380.
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