Allgemeiner Blick auf die Beschaffenheit

des Landes.

[53] Land, Wasser, Sumpf, was soll man sagen. Von der Natur zum Paradiese der Kraniche und Frösche bestimmt, ist Holland im Lauf der Jahrhunderte durch die zähe und schlüpferige Geduld eines kleinen germanischen Völkchen, das Kiemen statt der Lungen gehabt zu haben scheint, in einen fruchtbaren und stark bevölkerten Wohnsitz der Menschen umgewandelt. Man werfe einen Blick auf die Karte. Holland bildet, wie Unteregypten, ein Delta, nämlich ein Schein-Delta. Eingefaßt von den Armen des Rheins verdankt es auch, allem Ansehen nach, sein schlammiges Dasein dem Schlamm, den dieser Strom auf seiner langen Fahrt von den Alpen zur Nordsee mit sich wälzt. Noch auf Karten des Mittelalters sieht man überall Seen, Moore und Sümpfe unordentlich durcheinander zerstreut. Freilich, des Wassers ist seit jener Zeit eher mehr, als weniger geworden. Die Südersee ist aus feuchten[54] Wiesen und einem Landsee entsprungen, das harlemmer Meer hat reißend um sich gegriffen, viel Land ist außerdem ertrunken; allein dagegen ist ein großer Theil der Sümpfe und Moore ausgetrocknet, Ziel und Regel in den feuchten Wust gebracht und ein Element, das den Menschen zu verschlingen drohte, nicht allein nothdürftig gebändigt, sondern zur Quelle der Reichthümer und des Wohlstandes umgeschaffen. Und so sieht man hier mitten in Europa eine höchst curiose, egyptisch-chinesische Kunstwelt, Verstand und Geduld über und unter der Erde, ein durchgreifendes System von Dämmen und Deichen, Schleußen und Canälen, höchst einfacher Natur, aber nicht desto weniger bewundernswerth durch das Massive und Kostspielige ihrer Anlage und das verständige Zusammenwirken der Jahrhunderte, welches man dabei gewahr wird.

Will man sich eine anschauliche Vorstellung dieses Wasserreiches machen, so fasse man folgende Hauptzüge ins Auge.

Der größte und beste Theil des Bodens von Holland liegt unter dem Spiegel der See zur Fluthzeit, liegt daher zwischen den beiden Extremen der durch Ebbe und Fluth alle sechs Stunden veränderten Wasserstände, würde also alle sechs Stunden unter Wasser und alle sechs Stunden wieder aufs[55] Trockene gesetzt werden, ohne das Vorhandensein jenes natürlichen Bollwerkes der Dünen und andererseits der künstlichen Dämme und Deiche wo mit, die Einwohner die Ufer ihrer Flüsse, der Südersee u.s.w. beschirmen. Und dennoch würde Holland in kurzer Zeit rettungslos versinken und in sein altes morastiges Element zurückkehren, wüßte man nicht täglich die große Menge Wassers herauszuschaffen, welche sich täglich von innen sammelt aus Thau, Nebel, Regen, Quellen, Durchsinterung des Bodens u.s.w. Für diesen Zweck benutzt man auf die einfachste und sicherste Weise das Phänomen der Ebbe und Fluth, als worauf der größte Theil der hydrotechnischen Anstalten dieses Landes wesentlich basirt ist. Die Polder, so nennt man die tiefliegenden Wiesen, welche einer künstlichen Entwässerung bedürfen, verdanken diesen Act und ihre Erhaltung Schleußen, welche eingerichtet sind, wie Ventile an Pumpwerken. Sie öffnen sich nach der Seite des Meeres oder der großen Ströme, sobald der Wasserdruck von innen erfolgt und das Strom- oder Meerwasser diesen Druck nicht durch einen Gegendruck aufhebt, also zur Zeit der Ebbe. Das andringende Wasser der Fluth hingegen schließt die beweglichen Thore der Auswässerungsschleußen, so daß kein Seewasser in die Polder tritt, und das Binnenwasser Zeit erhält,[56] sich während dem Verlauf der Fluth in den gezogenen Gräben und Canälen zu sammeln. Ein nicht geringer Theil der holländischen Polder hat sogar eine noch tiefere Lage als der Wasserstand der Nordsee zur Zeit der Ebbe, sie sind entstanden aus alten ausgetrockneten Mooren, Sümpfen, Seen u.s.w. und ihr Wasser läßt sich nur durch Windmühlen in die Canäle auswässern, aus welchen es durch Auswässerungsschleußen ins Meer ausgestoßen wird.

Alle Gewässer der Seeprovinzen, eingeschlossen von der Maas, dem Leck und dem Y bilden eine Zahl von Bewässerungs- und Entwässerungssystemen, deren Centralpunkt das sogenannte harlemmer Meer ist, ein großer Binnensee, der vormals im offenen Zusammenhang mit dem Y und der Südersee stand und daher dem Spiel der Ebbe und Fluth ausgesetzt war, jetzt aber durch die großen Schleußen von Sparendam und Halffweg abgeschlossen und von Ebbe und Fluth gänzlich befreit ist. Vermöge dieser Schleußen, welche zur Ebbezeit geöffnet und hinterher sogleich geschlossen werden, ist der Wasserstand des harlemmer Meeres gefestigt und um ein Beträchtliches niedriger gelegt worden.

Jede dahin auswässernde Landschaft, als Rheinland, Delfland, Schieland u.s.w. (uitwatering)[57] bildet sein eigenes Wasserreich, dessen Wasserbürger alle dahin gehörigen Grundbesitzer sind. Diese erwählen einen Rath sachverständiger und starkbetheiligter Männer, Hemradschapi genannt, welchem sie ihre hydrotechnischen Interessen mit großen Vollmachten anvertrauen. Er wacht für die Dauer und Sicherheit der Dämme und Schleußen, und läßt alle beobachteten Mängel und Gebrechen ohne Zeitverlust in Stand setzen. In die Kosten theilen sich alle Grundbesitzer. Soll etwas von Bedeutung unternommen werden, so wendet sich der Rath an den Waterstaat, welcher ein besonderes Ministerium bildet, und die Hemdrathschaften centralisirt. Gleiche Noth, gleiche Gefahr vereinigt alle Kräfte für diese wichtigste Angelegenheit des Landes, dieses kleinen Landes, das so große Dinge durchgesetzt hat. Die Noth hält sie beständig in Athem. Sie gleichen Matrosen auf einem lecken Schiffe, die Tag und Nacht pumpen müssen, um nicht unterzugehen.

Quelle:
Ludolf Wienbarg: Holland in den Jahren 1831 und 1832. Erster und Zweiter Theil, Hamburg 1833, S. 53-58.
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